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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Das Netz der Eisernen Seite – Teil 5

Mit spitzen Fingern klaubte Lucille Chaudieu die Glassplitter aus dem pappigen Haferbrei. Eine Spitze bohrte sich in ihre Fingerkuppe. Sie schrie auf und saugte an der Wunde. Ihr Mund füllte sich mit dem Eisengeschmack von Blut. Als sie ihn fütterte – füttern war ein allzu wohlklingender Ausdruck für das langwierige Hineinschieben von Nahrung in einen Schlund, dessen Schluckreflex in den letzten Tagen merklich nachgelassen hatte – war der ansonsten leblose Körper Tony Tanners von Krämpfen zusammengerissen worden, und ein Schrei hatte sich aus der stummen Kehle gelöst.

Der Brei, den sie in diesem Moment in seinen Mund geschaufelt hatte, war wie bei einem ungezogenen Kind über das Bett versprüht worden, und in diesem Augenblick brach Lucilles Selbstbeherrschung zusammen und sie schleuderte mit einem Fluch die Schale gegen die Wand. Nun war sie mit dem Saubermachen beschäftigt. Sie verließ den Raum, versorgte ihre Wunde mit einem Pflaster und kehrte zurück. In den Türrahmen gelehnt, betrachtete sie das Bett mit dem Liegenden.

Wenn dieser Körper noch eine Seele in sich trug, dann war sie unerkennbar wie ein Fossil aus vergangenen Zeiten, zerdrückt und überlagert von Tausend und Abertausend Schichten bleiiger Bewusstlosigkeit, zermalmt unter dem Gewicht eines Schicksals, gegen das Lucille Chaudieu nicht mehr ankämpfen wollte. Augen aus trübem Glas, undurchdringlich, wie Türen, hinter denen sich nur eine Mauer verbirgt, seelenlose Spiegel, die sklavisch und doch in boshafter Verzerrung Lucilles Bild zurückwarfen, wenn sie sich dem Gesicht näherte.

 

Sie zuckte zusammen. Das Geräusch des Atmens war verstummt. Lucille blieb an ihrem Platz. Sie lauschte und hörte nur eine Stille, die sich ausbreitete wie der schwarze Wasserstreifen zwischen Ufer und einer abtreibenden Eisscholle. Und sie hoffte und zugleich fürchtete sie und sie schämte sich und war wütend auf ihre Scham. Die Stille blieb, dehnte sich, näherte sich dem Moment, an dem es keine Umkehr mehr geben würde. Diesen Moment sehnte Lucille herbei. Besser ein solches Ende als die Verlängerung eines Elends, das keine Aussicht auf Besserung beließ.

Dann kochte Wut in ihr hoch. Sollte das ihr einziges Resultat sein? Eine Leiche als Erfolgserlebnis und Beweis ihrer Fähigkeiten als Pflegerin? Als Stewardess hatte sie gelernt, was medizinisch bei einem Atemstillstand angezeigt war. Nichts davon blieb ihr nun in Erinnerung. Stattdessen sprang sie auf den Mann, beschimpfte ihn und schüttelte ihn mit aller Kraft. Sie öffnete alle Schleusen des unterdrückten Zornes der letzten Wochen. Sie schrie ihn an und ohrfeigte ihn, während der leblose Kopf unter ihren Schlägen hin- und herpendelte.

Schreiend und weinend tobte sie wie eine Furie, verlor zuletzt alle Kraft und brach keuchend über ihm zusammen.

Durch ihr Schluchzen vernahm sie ein rasselndes Geräusch aus seinem Brustkorb. Mit einem tiefen Luftschnappen begann die Atmung wieder, beruhigte sich und gewann trügerisches Gleichmaß. Dadurch ließ sich Lucille nicht mehr täuschen. Sie spürte den Verfall und sie konnte ihn erkennen. Egal, was Tony Tanner am Leben erhielt, es verlor sich und verging, so wie auch er verging. Nur noch eine Frage von Stunden, da war sie sich sicher. Eine Nacht noch, dann würde sie fahren. Ein Anruf bei der Polizei wäre dann die letzte Verpflichtung, die ihr zu erledigen bliebe. Sollten sich die Polizisten um diesen Rest dieses Menschen kümmern!

***

Jeremy Steele lehnte sich an die Wand des Ganges und schaute aus dem Viereck der Öffnung heraus auf die Zuschauerränge. Der Hauptkampf hatte begonnen. Die Menge tobte und, der Unterschied war Steele gegenwärtig, sie genoss ihr Toben. Seine Blicke glitten an den Zuschauern entlang. Da oben waren sie. Pillbury, einer der Einpeitscher, der sich vor Trunkenheit und Fanatismus kaum noch auf den Beinen halten konnte und daneben Fischglatt, der wie ein Fremdkörper herumsaß, der Einzige, der nicht tobte und schrie und in diesem Moment pikiert zur Seite starrte, weil seine Nachbarin auf ihren Sitz kletterte und beim wilden Hüpfen ihre feisten Beine in laufmaschenverzierten Nylons sehen ließ.

Warum hatte er sich hierhin schleifen lassen? Wenn es einen Grund gab – und diesen Verdacht wurde Steele nicht los -, dann konnte er ihn jedenfalls nicht erkennen. Steele huschte zurück in den Schatten, als ein Pärchen auftauchte und den Gang als passenden Ort zum Knutschen entdeckte. Steele war sich nicht sicher, wie alt die beiden zusammen waren, aber er schätzte das Paar auf hundertzwanzig bis hundertfünfzig.

Pillbury stupste Little an der Schulter an und hielt ihm dann seine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern vor die Augen. Little nickte. Fünf Minuten. Die Nervosität prickelte auf seiner Haut, ein Augenlid begann zu zittern, als würde dieser Teil von Little das zum Ausdruck bringen, was die ganze Person sagen wollte: Gnade, ich will heraus aus dieser absurden Situation!

 

Wieder ein Stupser an der Schulter – vier Finger. Pillbury mochte ein Krimineller und dazu ein ziemlicher Spinner sein, aber er erledigte seinen Auftrag mit der Entschiedenheit eines Pitbulls. Unten im Ring flog in diesem Moment einer der Kämpfer waagerecht durch die Luft, traf seinen überraschten Gegner an der Brust und warf ihn wie einen nassen Sack zu Boden. Die Zuschauer quittierten diese Aktion mit frenetischem Beifall. Die Luft vibrierte unter dem Schreien und Trampeln. Eine Sekunde später rollte sich der am Boden Liegende über die Schulter nach hinten, wobei er den Schwung seines Sturzes nutzte, und stemmte sich über die Arme in die Höhe. Er warf sich mit dem Rücken in die Seile, katapultierte sich nach vorn und sprang nun seinerseits dem Gegner, der sich noch nicht wieder aufgerappelt hatte, auf die Brust. Wenn dessen Schrei nicht echt war, so war er doch wenigstens blendend nachgemacht. Wieder brandete Beifall auf.

 

Drei Finger – drei Minuten. Little wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Kampf war vor seinen Blicken verborgen, weil er als Einziger in der Halle nicht aufgesprungen oder auf den Sitz geklettert war. Er schaute auf die Rücken vor sich. Er bemerkte das Spiel der Muskeln unter dem Stoff, die unbewussten Bewegungen, mit denen die Zuschauer das Schauspiel, das sie in seinen Bann gezogen hatte, begleiteten.

Dort unten fand etwas statt, unaussprechlich, weil es jenseits der Worte wirkte, aber auf jeden Fall nicht mehr ein nebensächlicher Schaukampf mittelmäßiger Prügelathleten, sondern ein mitreißendes Stück Leben, ein Ritual, das alle Anwesenden wie ein Strudel in sich einsog.

Jede Zuckung eines Armes, die unbewusst die Bewegungen der Kämpfer nachmachte, jeder Beifallsschrei, jedes Wort aus aufgerissenen Mündern spiegelte das Geschehen und verstärkte es.

 

Zwei Finger – aber wie sollte Little seinen Auftrag erfüllen? Was wollte er überhaupt hier?

Er schloss die Augen. Langsam, wie ein Schwimmer, die seine Arme und Beine ruhen lässt, sank er in diese fauchend glühende Stimmung hinein. Ein Becken, rot glühend, als wäre es mit geschmolzenem Metall gefüllt. Wie sollte er nur …? Durch das Geschrei traf Little eine andere Erkenntnis – diese Absurdität, in der er sich befand, war genau das, was man Leben nannte. Seit Jahren war er durch die Welt getorkelt, auf der Suche nach einer Erklärung für seinen Zustand, für seine Erlebnisse, für den Horror, durch dessen geifernden Schlund er in ein neues Dasein hineingeworfen war. Und hier fand er, was er in Ashrams, Klöstern und Sektenschulen vergeblich gesucht hatte. Die Antwort, die er in seinem Kopf wie von einem Schriftband ablesen konnte, lautete: Vergiss es, du Trottel! Nicht das Leben war absurd, Little war es, weil er die Dinge nicht akzeptieren konnte.

Denke an deine Delfine, du dämlicher Penner, las er auf dem Schriftband, denkst du, ein Delfin würde sich über die Absurdität eines Lebens in einer endlosen Soße aus salzigem Wasser Gedanken machen? Nutze deine Schwäche. Du wirst nie fliegen und du wirst nie Gazellen jagen. Aber du kannst glatt werden wie ein Fisch und schwimmen wie ein Barrakuda, und dann wirst du merken, dass du in deinem Element bist!

 

Ein Finger – eine Minute. Little schüttelte lachend den Kopf.

»Hey Kumpel, bist du high?«, klang die besorgte Stimme Pillburys an Littles Ohr.

»Ja, doch schon. Kann man so sehen.«

»He, du bist ja ein richtig abgedrehter Wichser«, kommentierte Pillbury und sprach damit das größte Kompliment aus, das er einem Menschen ohne Piercing in der Zunge zollen konnte.

»Aber denk an deinen Job!«

»No problem, ich mach mein Ding, und du zählst die Sekunden runter.«

Glatt wie ein Fisch. Littles Geist schwang sich in die Höhe wie ein Delfin und tauchte ein. Der Lärm verwandelte sich in ein Feuerwerk von ungeordneten Funken, von Blitzen und grellen Peitschenhieben.

»Zehn Sekunden«, schrie Pillbury durch den Lärm.

Little dachte an den Tanz der Sufis, und noch während sich der Gedanken formte, formten sich die Lichter zu Räder, die um eine Nabe rotierten.

»Fünf Sekunden, Alter!«

Littles Gedanken bestimmten die Form. Er konnte die Energie herbeifließen lassen, als hätte er eine Schleuse geöffnet …

»Vier!« … und er konnte ihre Richtung bestimmen. Stufe Drei: John Little machte die Regeln!

»Drei.« Sein Zwerchfell bebte in kleinen, hastigen Schwingungen; Atemrhythmus in tausendfacher Beschleunigung, die Kräfte von Anziehung und Abstoßung der Planeten, der Moleküle, der Atomteilchen.

»Zwei.« Hitze begann zu pulsieren, Littles Bauch schien zu glühen wie eine Herdplatte. Er versuchte, sich Dorkas’ Gesicht vorzustellen.

»Eins.« Es schien, als würde sich sein Bauch vorwölben unter der brennenden Hitze, als müsste er platzen wie eine Frucht, die ihre Reife erreicht hat.

»Jetzt, Kumpel.« Mit einem tiefen Atemzug ließ Little alle Spannung fahren, und in diesem Moment lief ein Riss durch die Stadt, ein Kanal, durch den schiere Kraft rollte, eine Rinne voller gleißender Energie, als würde eine flüssige Sonne unter dem matten wolkigen Himmel ausgegossen. Kein Mensch sah dieses Wunder, aber manche bemerkten es, und unter ihnen war auch ein weißhaariger Mann, der in der Nähe der Halle in einer Mauernische lehnte.

Er spürte die Vibrationen, so wie ein Tier die ersten Vorboten eines Erdbebens registrieren mag, und er hob den Kopf und witterte, und zwischen seinen Brauen furchten sich zwei zornige Falten.

***

Dorkas sah in den Spiegel und vollendete seine Vorbereitungen. Er hatte keine Viertelstunde mehr, weniger Zeit, als er ursprünglich eingeplant hatte. Die Verzögerung schien ihm ein schlechtes Vorzeichen. Er schaute an sich herunter, und eine würgende Mattigkeit, die ihn mit hängenden Armen stehen bleiben ließ wie eine vergessene Marionette, überfiel ihn.

Was für ein verdammter Schwachsinn das alles! Selbst wenn nicht Little nicht versagte – und Little würde versagen, dieser schizoide Hirni – davon war Dorkas überzeugt.

Was trieb Dorkas eigentlich für ein kindisches Spiel? Was war das mehr als Grimassenschneiderei, als ein Privatkarneval, kindische Spiele in der Gummizelle eines Schädelgehäuses? Seine Konzentration brach zusammen. Ihm schwindelte, und er musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Hilflos blieb sein Blick an seiner Hand hängen – diesem Stück Fleisch, Sehnen, Knochen, Adern und Bindegewebe, das er mit gedankenloser Selbstverständlichkeit stets als Teil seiner selbst betrachtet hatte.

Eine Szene drängte sich in seinen Gedanken, die er auf dem Weg von der Halle in seine Wohnung bemerkt hatte – er war an einer Fleischerei vorbeigekommen und hatte durch das Schaufenster die dunkelbraun schimmernden Nieren in der Auslage gesehen, hellrote Bratenstücke mit weißlichen Fettadern und Schalen mit durch den Wolf gedrehtem Fleisch, das ihn im Vorüberhasten sofort an eine Ansammlung blutfarbener Würmer denken ließ. Und nun fragte er sich, was ihn selbst von dieser Fleischerei-Auslage unterschied.

Eine optimistische Überzeugung, nicht in einer Kannibalenkultur zu leben. Ein Atemzug und noch einer, einige Herzschläge, die sein Cholesterin verseuchtes Blut durch sich langsam verengende Adern pressten, mehr war es nicht. Es war in der Tat nicht überzeugend viel.

(»Dieser Dorkas-Braten sieht aber gut aus. Geben Sie mir doch ein Kilo davon, bitte.« – »Gerne, darf’s ein Viertelpfündchen mehr sein?«)

 

Die Zeit verstrich. Wie gelähmt lehnte Dorkas an der Wand, nicht einmal fähig, die Anstrengung des freien Stehens auf sich zu nehmen. Minuten verrannen, begleitet vom Tropfen eines undichten Wasserhahnes. Um sich abzulenken, konzentrierte sich Dorkas auf diese Wassertropfen, stellte sich vor, wie sie durch die Hausleitungen flossen, durch die Stränge von Hauptleitungen unter dem Straßenpflaster rauschten, aus den Becken der Wasserwerke gepumpt wurden. Der Gedanke sprang über und Dorkas erkannte blitzartig, aus welchem Speicher das Gift kam, das ihn zum bewegungslosen Stück Materie degradierte. Er hatte nicht aufgepasst und einige Vorsichtsmaßnahmen vergessen. Und, dessen war er sich sicher, Sarah hatte diese Möglichkeit genutzt.

Oh Zeus, seufzte Dorkas innerlich. Ich bin deiner nicht würdig, schwach, wie ich bin.

Die Vorstellung, dass diese uralte Statue des mächtigen Zeus in seiner unmittelbaren Umgebung auf ihn wartete, gab Dorkas neue Kraft. Er stieß sich von der Wand ab und stakste mechanisch in das Wohnzimmer. Er bewegte sich wie ein alter, halb verkrüppelter Veteran, der sich mit angelernter Disziplin zusammenreißt, um eine Parade abzunehmen. Im Schweiße seines Angesichtes hatte Dorkas die Möbel des Wohnzimmers an die Wände gerückt, um einen freien Platz in der Zimmermitte zu schaffen. Dort lag eine Plastikplane ausgebreitet, und darauf erhob sich ein Kegel aus Blumenerde. Die Statue des Zeus krönte die abgeflachte Spitze. Vier Töpfe mit Eichen im Bonsai-Format markierten die vier Himmelsrichtungen.

Dorkas warf einen Blick auf die Uhr. Nur noch wenige Minuten. Er warf sich vor der Statue auf den Boden und sprach die Worte des Eingangs: »Dir Zeus, mächtig Thronender, spreche ich diese Worte, neige dein Ohr zu meiner Zunge Gesang …«

Während er die auswendig gelernten Worte sprach – was angesichts seiner Bauchlage für ihn anstrengender war als erwartet – überlegte er noch einmal, ob er wirklich alles richtig gemacht hatte. Aber bei seinem blitzschnellen Überblick konnte er nichts Falsches finden – er hatte die Bilder der antiken Vase genutzt, überlieferte Texte, allgemeine Kenntnisse und, wo das alles nicht ausreichte, Intuition und Phantasie angewendet. Alles war richtig. Oder zumindest so richtig, wie Dorkas es einrichten konnte.

Schnaufend richtete er sich wieder auf. Sein Bauch bebte vor Anstrengung. Dorkas stand nackt vor dem Altar, sein Körper glänzte vom Haaransatz bis zu den Fußsohlen im grellen Rot nicht mehr ganz modischer Lippenstifte. Ein Wecker gab fiepende Geräusche von sich.

Noch eine Minute. Auf einem kleinen Tisch lag das Steinbeil, das er nach langer Suche gekauft hatte. Er nahm es in die rechte Hand und hob es in die Höhe. Für einen Moment musste er ein Kichern unterdrücken, wenn er sich vorstellte, was die Nachbarn zu seinem Anblick sagen würden …

 

Dann schaute er fest auf den Sekundenzeiger der Uhr. Gab es etwas, was zugleich so läppisch und so gnadenlos war wie ein Sekundenzeiger? Jetzt! Dorkas spannte sich und wartete.

Ein Flugzeug verursachte ein fernes Dröhnen. Im gedämpften Licht lächelte die Zeusstatue.

Dorkas wartete. Sein Arm, der das schwere Beil hielt, begann vor Anstrengung zu zittern. Dorkas wagte nicht, auf die Uhr zu schauen, um nicht die riesige Zeitspanne seines vergeblichen Wartens durch den Anblick vorgerückter Zeiger zu versiegeln.

Der Arm schwankte und begann zu schmerzen, Schweiß brannte Dorkas in den Augen. Er biss die Zähne zusammen und verharrte in seiner Stellung. Inzwischen trieb ihn nicht mehr die Hoffnung, sondern nur noch der blanke Trotz voran. Dann spürte er, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Dorkas selbst bemerkte nichts, aber seine Haare agierten wie von ihm unabhängige Lebewesen, die misstrauisch eine Veränderung der Atmosphäre witterten. Irgendetwas geschah, etwas baute sich, etwas änderte sich.

Der Raum war von einem Summen erfüllt. Vielleicht täuschte er sich ja, vielleicht war es nur das Blut, das in seinen Ohren rauschte oder es war ein Mofa, das draußen auf der Straße entlang fuhr. Das Summen wurde stärker und erinnerte Dorkas nun an das Geräusch, das man bei Umspannwerken oder Transformatoren hören konnte. Ein feines Knistern und Knacken mischte sich in den tiefen Summton, so als würde in der nächsten Sekunde ein elektrischer Überschlag stattfinden, ein Blitz durch die aufgeheizte Atmosphäre schießen. Die Luft in dem Raum schien zu vibrieren wie eine Wasserfläche, die von einem plötzlichen Windstoß geriffelt wird.

Aller Zweifel fiel von Dorkas ab. Das war es, worauf er gewartet hatte. Er befand sich mitten in einem Feld von gewaltiger Energie und konnte nun in jeder Faser die Wellen spüren, die durch den Raum brandeten.

Triumphierend warf Dorkas den Kopf in den Nacken, erhob mit erneuerter Kraft das Beil und begann mit tiefer, volltönender Stimme die alten Worte zu sprechen: :»Heil dir, Zeus, Mächtigster unter den Göttern, Blitzeschleuderer im dunkellockigen Wolkengetürm, sende uns Kraft, auf dass wir …«

***

»Es war ziemlich chaotisch, weil nach dem letzten Kampf die Party erst richtig losging. Pillbury hatte von irgendwo eine Musikgruppe organisiert, und als ich mich aufmachte, begannen die gerade loszuscheddern.«

»Ein absolut begabter Junge, dieser Alex«, kommentierte Dorkas zufrieden aus dem Badezimmer.

Little setzte auf dem Boden vor der Badezimmertür, streckte die Beine und wunderte sich ein wenig, denn Dorkas hatte die Wohnungstür nur einen Spalt geöffnet, ihm unter strengster Strafe bei Nichtbefolgung aufgetragen, bis zwanzig zu zählen, und war dann auf nackten Füßen in das Badezimmer gepatscht.

Durch die Tür vernahm Little heftiges Wischen und Bürsten, unterbrochen von unterdrücktem Stöhnen. Er spürte, dass es Dorkas in diesem Moment nicht sonderlich wohl ging, konnte sich aber keinen Reim auf dessen Aktionen machen. Es war ihm auch egal. Er schaltete die Empfindung aus wie ein Radio und lehnte sich gegen die Wand. Sein Bauch war immer noch spürbar wärmer als die normale Körpertemperatur, als hätte er in dieser Körperregion hohes Fieber. Ansonsten fühlte sich Little blendend und aufgedreht wie nach zehn Tassen Kaffee.

»Ich war überrascht, wie neutral diese Energie war«, gestand er Dorkas. »Ich meine, es handelte sich ja um eine im Grunde ziemlich unkultivierte Prügelei, und da hatte ich so etwas wie eine verschmutzte Energie befürchtet.«

Dorkas grunzte vernehmlich. »Energie ist neutral, sie ist weder positiv, noch negativ. Ihr Amerikaner habt wohl ständig Angst davor, euch an verschmutzten Dingen seltsame Krankheiten zu holen, was?«, spottete er.

Dann verlor seine Stimme allen Spott und wurde ernst. »Es gibt einige Fakten des Daseins, die wir nicht ändern, sondern nur nutzen können. Faktum Eins: Warum geht es auf dieser Welt – Antwort: Überleben. Alles andere, wie Essen, Trinken, Liebe machen, Porsche kaufen, Aktien verscherbeln ist nichts anderes als eine Variante dieses Themas. Die Energie, die uns antreibt, ist immer die eine und dieselbe. Allerdings macht es einen Unterschied, ob Ihnen der Konkurrent den Auftrag vor der Nase wegschnappt oder ob Sie in einer dunklen Seitenstraße von einer Bande Bauchschlitzer angegriffen werden. Im letzteren Fall aktivieren Sie alle Energie, die Sie haben.«

»Sie meinen also, beim Publikum eines Bachkonzertes wäre weniger Energie abzuzapfen als bei den Zuschauern eines Boxkampfes?«

»Exakt, wir reden ja nicht über Kultur, sondern über Überleben. Da muss der Bauch beteiligt sein, da muss der Blutdruck steigen und man muss Lust bekommen zu schreien und mitzumachen. Also sind wir beim Boxen an der richtigen Adresse, beim Wrestling oder auch beim Fußballspiel, wenn unser eigener Fußball-Stamm gegen einen fremden antritt und wir uns mit Symbolen schmücken und unsere Totems auf das Schlachtfeld tragen.«

»Kurz gesagt: Der Krieg ist der Vater aller Dinge.«

»Kurz gesagt: Diese Übersetzung ist so falsch wie die Entwicklung des Westens in den letzten dreihundert Jahren. Was der gute Heraklit sagte, lautete nämlich in der richtigen Übersetzung: Der Gegensatz ist der Vater aller Dinge. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich etwas doziere, aber gedankliche Schlamperei regt mich immer ungeheuer auf. Verstehen Sie, Herr Little? Die beiden Pole einer Batterie, Mann und Frau – ich verzichte auf die weitere Ausführung des Themas. Krieg bedeutet, dass man den anderen besiegen will. Gegensatz heißt, dass der andere bleiben muss, wie er ist, damit man selbst bleiben kann, wie man ist.

So funktioniert das. Und das haben auch die antiken Anbeter des Zeus Andronergetes so verstanden. Darum die Kriegsspiele am zweiten Tag. Und danach kam der dritte Tag, an dem sie lernten, dass man ungeheure Sachen auf die Beine stellen kann, wenn man sich die Mühe macht, sich nicht gegenseitig den Schädel einzuschlagen, sondern die Energie positiv zu nutzen.«

Die Badezimmertür flog auf und Dorkas kam heraus. Er war in einen Bademantel gehüllt. Hinter ihm lagen Haufen von rot verschmierten Papiertüchern. Ein deutlich femininer Duft umwehte seine Gestalt.

Little legte den Kopf auf die Seite und peilte an Dorkas’ Beinen vorbei auf diesen Müll.

»Vermutlich werden Sie mir nicht verraten, was es mit diesen Tüchern auf sich hat?«, erkundigte sich Little.

Dorkas füllte den Teekessel mit frischem Wasser. »Worauf Sie sich verlassen können«, antwortete er im Brustton tiefster Überzeugung.

 

Dieser Dorkas spielte ein Spiel mit ihm. Schlimmer noch, er trieb seinen Hohn mit ihm und machte ihn lächerlich. Dieser Dorkas tauchte in die Welt der U-Bahn-Linien ein, versickerte förmlich in der Menge der Fahrgäste, wechselte unterwegs die Sitzplätze und Wagen, verschwand in öffentlichen Toiletten und verriet eine Kenntnis von Hinterausgängen, Nottüren und abgesperrten Treppen, die mehr als bezeichnend war.

Es war kein System in diesen Fahrten erkennbar, genauso wenig wie Dorkas’ Verhalten einen Sinn ergab. Er beschäftigte einen Mann in einem Zeitungskiosk eine Viertelstunde mit der Suche nach einer bestimmten Zeitschrift, und nachdem der Verkäufer in einem Winkel seines Lagerraumes das Exemplar gefunden hatte, warf Dorkas seinen teuren Erwerb an der nächsten Bahnstation in einen Papierkorb, ohne auch nur einen Blick hineingeworfen zu haben.

Dann ließ er sich an einer anderen Station lang und breit die Anschlüsse und Umsteigemöglichkeiten zu einem Ziel erklären, das er überhaupt nicht anfuhr. Irgendwann verlor Steele die Spur von Dorkas und kehrte zurück zum Tower, wo, ein weiterer Hohn, der Typ, den er Fischglatt getauft hatte, nach wie vor auf der Bank saß und sich die Spaziergänger anschaute, mit dem Gesichtsausdruck, eines Zöllners, der jeden Schmuggler schon an den schuldbewussten Bewegungen erkennt.

Er bemerkte Steele. Er sah ihn nicht, aber er bemerkte ihn, das war der plötzlichen Unruhe seiner Bewegungen anzumerken. Steele hielt sich auf Distanz und fragte sich, wer eigentlich die Regeln zu diesem Spiel bestimmte. Er jedenfalls war es nicht mehr. Und ihm kam der Verdacht, dass selbst die Tatsache, dass er Dorkas mit der Passagierliste konfrontiert hatte, nur der weitere Schachzug eines unbekannten Spielers war. Vielleicht war der Spieler gar nicht so unbekannt. Vielleicht war sein Name Dorkas. Die Frage war nur: Welchen Sinn hatte das Spiel? Und wer war der Gegner?

***

»Ich brauche Bodenkontakt«, war die Erklärung, die Dorkas am Morgen seinem Gast gab.

Little brauchte keine besondere Sensibilität, um zu erkennen, dass Dorkas auf Begleitung keinen Wert legte. Daher verabredeten sie einen Treffpunkt und eine Zeit, und trennten sich.

Für Little war der Weg, an dessen Rand er saß, wie ein Fließband, das ihn mit immer neuen Eindrücken konfrontierte. Da kam dieses alte Ehepaar, und er empfand deutlich die muffige Atmosphäre ihrer Zweisamkeit, zugleich warm und resigniert wie ein ungelüftetes Zimmer, in dem seit Jahrzehnten stockfleckige Blümchentapeten die Wände bedecken. Da kam diese Gruppe junger Bankiers, und Little spürte scharf geschliffenen Willen, die zuschnappbereiten Zahnreihen hellwacher Geschäftstüchtigkeit, krokodilhaftes Lauern unter der Oberfläche ihrer Kumpelhaftigkeit, das alles eingewandet in Flanell und mit einem doppelten Windsorknoten in der Seidenkrawatte besiegelt.

Noch als ihre Stimmen verklungen waren, würgte Little an dem modrigen Kloakengeruch, der wie eine Pestfahne über der Gruppe schlaffte, Ausdünstung der seelischen Senkgrube, in die diese Flanellpriester alles schaufelten, was nicht ihrer Welt von Blue Chips und Börsennotierungen zupass war. Während Little unbewegt auf seiner Bank saß, wie irgendein Tourist, der sich von der Anstrengung einer Besichtigungstour erholt, folgte sein Empfinden der Gruppe; er hörte das Geschwätz der letzten Pflichtparty – Champagnerglas in der Rechten, die Linke lässig in der Tasche, ein geschliffener Satz als Abschluss in Richtung Gesprächspartner, dann lockerer Anlauf in Richtung der Blondine, die nach höherer Tochter aussieht … und Little hörte den vollständigen Gedankengang.

Ein fremder Impuls schreckte Little auf. Knistern wie Störungen im Radio. Er setzte sich auf, war aber beherrscht genug, sich nicht allzu auffällig umzuschauen. Little schaute auf die Uhr. Dorkas musste bald eintreffen.

***

Dorkas hatte sich in den letzten Stunden die Portion Realität geholt, die er nach der letzten Nacht brauchte. Vielleicht war es nicht einmal die wirkliche Wirklichkeit, die ihn in den müden Gesichtern der U-Bahn-Fahrgäste anschaute, aber es war zumindest auch ein Teil der Wirklichkeit, in der Dorkas sich zurechtzufinden hatte.

Also: der muffige Geruch aus den U-Bahn-Tunneln, das Kreischen der Bremsen, wenn die Züge einliefen, Ellenbogenkontakt bei der Platzsuche, das Lichtstakkato bei der Begegnung zweier Züge in der Tunnelnacht, der Gestank verstopfter Pissoirs, der Geruch druckfrischer Zeitungen, die Handy-Jungs an den Haltestellen mit ihrem kleinen Liebling am Ohr, irgendwelche Gesten vollführend, die für einen fernen Partner bestimmt waren, das Gebrabbel von Lautsprecherdurchsagen – schließlich fühlte sich Dorkas erschöpft und doch ebenso erfrischt, als wäre er gerade unter einer kalten Dusche hervorgesprungen.

Mit einem Seufzer ließ er sich neben Little auf die Bank fallen.

»Na, war es nicht ein bisschen langweilig?«

»Keineswegs. Ich habe mich bestens unterhalten lassen. Aber irgendjemand ist hier in der Nähe …«

»Ich weiß, er hat mich eine Zeit lang verfolgt.« Sie schwiegen eine Weile. Dorkas lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und genoss die milchigen Sonnenstrahlen, die durch den trüben Himmel brachen.

»Haben Sie Erfolg gehabt«, fragte Little dann. »Ich meine gestern. War die Aktion ein Erfolg?«

Dorkas zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass etwas geschehen ist – aber ob wir den erhofften Erfolg gehabt haben? Wir werden es irgendwann merken. Oder auch nicht.« Dorkas schaute vor sich hin. »Vielleicht werden wir es nie erfahren«, wiederholte er leise.

»Was geschieht mit der Statuette?«

Dorkas kicherte und rieb sich die Hände. »Die wird natürlich zurückgeschickt. Aber ich dachte mir, dass diese Gelegenheit günstig wäre, einem jungen Journalisten zu einem Karriereschub zu verhelfen. Nicht ganz aus Uneigennutz, wie ich zugebe, denn nichts ist wichtiger als eine Reihe von Leuten, die einem zu Dank verpflichtet sind.«

»Was wollen Sie tun?«

»Ihm eine Story liefern! Ich behaupte, einen anonymen Anruf bekommen zu haben, lasse ihn ein bisschen recherchieren, und zum Schluss findet er mit meiner Hilfe das gute Stück in einem Schließfach. Ein wenig Kreativität ist natürlich notwendig, eigentlich haben wir für derartige Komödie gar keine Zeit – aber man gönnt sich ja sonst nichts. Ich bin sicher, dass uns diese Sache Spaß machen wird. Also, fangen wir gleich an.« Dorkas klatschte sich mit den Handflächen laut auf die Schenkel, sprang auf und lief mit großen Schritten zur nächsten Bushaltestelle.

Little folgte ihm mit seinem geschmeidigen Gang.

***

Lucille Chaudieu schüttelte das Fläschchen mit dem Nagellack. Es gibt Handlungen, die geringfügig und nebensächlich sind und die doch ungeheure Bedeutung gewinnen, weil sie etwas anderes ausdrücken. So war es auch hier. Sie schüttelte den kleinen Glasbehälter und markierte damit ein Ende.

Gong zur letzten Runde. Sie hatte es versucht, sie hatte mehr getan, als jemand von ihr verlangen konnte, und nun gestand sie sich ihr Scheitern ein. Es hatte etwas ungeheuer Befreiendes. Der wohltuende erste Atemzug, nachdem man sich gezwungen hat, lange Zeit die Luft anzuhalten.

Sie lackierte sich sorgfältig die Fußnägel, merkte, wie gut es war, sich wieder einmal um sich selbst zu kümmern, und wartete geduldig, bis der Lack trocken war.

Der Knall, mit dem das Fläschchen auf den Boden aufschlug und zerbarst, drang nur am Rande in ihr Bewusstsein. Sie spürte, wie ihre Haut zu Eis gefror und sich wie eine Zwangsjacke aus lähmender Panik um sie herum zusammenschnürte. Sie lauschte hechelnd, wartete auf die Bestätigung dessen, was sie eben registriert hatte und was sie immer noch nicht glauben wollte, weil es wie ein plötzlicher Riss in der Welt war.

Da war es wieder! Schleifen. Schritte. Jemand war im Haus. Jemand tastete sich durch die Räume. Sie wollte schreien und konnte im letzten Moment den Schrei ersticken. Vielleicht war das ihre Chance. Ruhig bleiben. Abwarten. Sie versuchte sich zu bewegen und zuckte zurück, als sie die scharfen Glassplitter auf dem Kachelboden bemerkte.

Der rote Lack verteilte sich in den Fugen, eine sorgfältige Geometrie des Schreckens, die an Blut und Tod denken ließ.

Schlurfen. Oder täuschte sie sich? Müde, übernächtigt, erschöpft, wie sie war? Schimären ihres eigenen Zustandes, Alpträume am Tag, die mit einem Fingerschnippen zu beseitigen waren? Das musste es sein. Sicher. Nein. Doch. Sie lauschte angestrengt. War es nicht der eigene Herzschlag, der sie täuschte? Das Rauschen des Blutes in den Ohren?

Ein Kratzen – was war das? Ein Bild formte sich: Hände, die über eine Tür tasteten. Die Eindringlinge machten sich nicht einmal mehr die Mühe, ihre Anwesenheit zu verbergen. Eine Vase wurde angestoßen und rappelte sich leise zurück in den sicheren Stand.

Lucille hörte keuchendes Atmen. Ihr Herz begann zu galoppieren, ihr Bein, das sie über das andere geschlagen hatte, fing an, im Takt des Pulses zu schwingen.

Dann erschien der Schatten in der Tür, und Lucille Chaudieu begann zu kreischen, schrill und andauernd, als hätte sie darin die Erfüllung ihres Lebens gefunden.

Tony Tanner lehnte sich schwer gegen den Türrahmen und starrte dumpfäugig auf die Szene. Eine nackte schreiende Frau, ein roter Fleck auf dem Boden …

 

Es war ihr Schamgefühl, das Lucille wieder zur Besinnung brachte. Sie schnappte sich blitzschnell ein Badetuch und verhüllte sich, so gut es ging. Der Mann stand immer noch an den Türrahmen gelehnt. Er wirkte wie ein Betrunkener. Lucille bemerkte in seinen Augen eine große Verständnislosigkeit, die zugleich erschreckend wirkte und hoffnungsvoll, denn sie war zugleich ein Zeichen der Lebendigkeit.

Tony Tanner rührte sich eine ganze Weile nicht. Er lehnte sich an, atmete pfeifend und starrte vor sich hin. Lucille brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass Tony in den Badezimmerspiegel schaute und versuchte, sich mit diesem hageren Gesicht in Verbindung zu bringen.

»Welcher Tag ist heute«, fragte er dann. Seine Stimme war leise, heiser und krächzend, ein Werkzeug, das seit langer Zeit nicht mehr genutzt worden war. Lucille nannte ihm das Datum.

Tony hörte es, konnte es aber nicht einordnen und fuhr sich hilflos mit der Hand über das Gesicht. Das Gefühl war ihm fremd, als würde er ein exotisches Wesen berühren.

»Ich weiß nicht, seit wann – ich habe vergessen», stammelte er.

»Wir reden über fünf Wochen«, sagte Lucille.

»Fünf Wochen.« Tony wiederholte die beiden Worte wie eine Parole, die ihm den Eintritt in das Verständnis sichern würden. »Ich war – am Hafen. Ja, ich war am Hafen und dann …«

Dann setzte die Erinnerung aus und ließ nur noch Splitter, sekundenkurze Erinnerungen durch das Filter rieseln; Hafen, Männer, ein Treffen, ja, und dann kam eine große Dunkelheit und Angst – und Durst.

Das Gesicht im Spiegel äffte ihn nach. Es glotzte trübe zurück und wischte sich mit fahrigen Gesten über die Stirn, wenn er es auch tat. Tony Tanner versuchte sich aufrecht zu halten und lauschte in sich hinein. Es gab eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen ihm und diesem Gesicht im Spiegel eine Verbindung gab. Er überlegte und hörte das Knistern, mit dem sich seine Erinnerung wieder zusammensetzte.

Er schaute an sich herunter. »Was ist das denn da für ein Lappen?« Der Ton, in dem die Frage gestellt wurde, war geeignet, Lucille Chaudieu zu reizen.

»So etwas nennt man eine Windel.«

Tony Tanner schaute sie an. Seine Augen schienen fast aus den Höhlen zu quellen. Dann rutschte er am Türrahmen herab bis auf den Boden. »Ich habe anscheinend eine Menge verschiedener Dinge nicht mitbekommen …«

»So könnte man sagen«, antwortete Lucille. »Und jetzt bleiben Sie gefälligst dort sitzen. Ich muss erst mal diese Schweinerei hier wegmachen. Auf Ihre Hilfe kann ich dabei ja wohl nicht bauen.«

***

In der nächsten Zeit hatte Tony Tanner das Gefühl, sich in einer Welt zu befinden, deren Schwerkraft sich vervielfacht hatte. Das Aufstehen aus einem Sessel verlangte eine Mischung aus körperlicher Anstrengung und Koordination, die er kaum aufbringen konnte, jeder Schritt bedeutete einen zähen Kampf gegen den natürlichen Impuls, aufzugeben und sich zu Boden fallen zu lassen, selbst die volle Tasse, die er zum Mund führte, erschreckte durch ihr Gewicht.

Jeder Schraubverschluss eines Marmeladenglases zwang ihn zu einer Höchstleistung. Oft genug scheiterte er, und schließlich richtete er seinen Appetit zur Vorsicht nur noch auf jene Nahrungsmittel, die er ohne solche Prüfungen erreichen konnte. Sein körperlicher Zustand war ebenso lästig wie peinlich, und dennoch bedeutete jede Anstrengung und jeder Schmerz eine geradezu segensreiche Ablenkung von seinem psychischen Zustand. Er musste sich mit der Tatsache abfinden, dass Lucille Chaudieu – die er in seinen Gedanken immer als diese Frau titulierte, wie er es früher mit ungeliebten Lehrerinnen oder Kolleginnen gemacht hatte – ihm das Leben gerettet hatte. Wäre sie Ärztin oder Krankenschwester gewesen, und damit sozusagen aus beruflichen Gründen der Lebensrettung verbunden, hätte er diese Tatsache leichter akzeptieren können.

Bei dem gegebenen Stand der Dinge jedoch empfand er eine nebulöse Dankbarkeit, die ihm ebenso suspekt war, wie die lästige Verpflichtung aufzustehen, wenn die Nationalhymne gespielt wurde. Jenseits alles dessen, was er in Worten ausdrücken konnte (und ausgedrückt hatte), blieb das Gefühl, sich nicht mehr vollständig selbst zu gehören, als hätte ein Lebensretter Anspruch auf zumindest einen Teil des von ihm vor der Vernichtung bewahrten Daseins.

Lucille Chaudieu ließ ihn allerdings nichts dergleichen spüren. Sie behandelte ihn mit der freundlich-distanzierten Fertigkeit der erfahrenen Stewardess, während Tony Tanner ihr Verhalten mit scheelen Blicken abtastete und nach Anzeichen forschte, mit denen sie seine Unsicherheit füttern würde. Sie begegneten sich wie ein Ehepaar, das beschlossen hat, die Scheidung in größtmöglicher Harmonie hinter sich zu bringen.

 

Nach einigen Tagen fühlte sich Tony kräftiger. Er stöberte in einem Abstellraum ein altes Rennrad auf und begann mit einem systematischen Training. Zuerst bestand es darin, mit aller Kraft bis hinter die nächste Kurve zu rasen und dort, wo man ihn vom Haus aus nicht mehr beobachten konnte, keuchend aus dem Sattel zu plumpsen und das Rad zu schieben. Den fälligen Muskelkater feierte er wie einen sportlichen Triumph. Schließlich eröffnete er Lucille seine Pläne.

»Schwachsinn!«, befand sie.

»Ich danke dir für diese feinsinnige Antwort. Trotzdem bleibe ich dabei.«

»Auch ich bleibe dabei, dass es Unsinn ist. Überflüssig und gefährlich.«

»Es ist nicht gefährlich. Ich will ja dort keine Souvenirs einsammeln. Ich will mir die Stelle nur anschauen, im Vorbeifahren. Und überflüssig ist es auch nicht.«

»Ist es doch. Es gibt nichts zu sehen. Alte verrostete Schuppen, sonst nichts.«

»Aber vielleicht erinnere ich mich an etwas.«

»Und was wäre der Vorteil?«

Tony malte imaginäre Figuren auf die Tischdecke. Sein Blick ging in eine ungewisse Ferne, bis er sich schließlich zusammennahm und Lucille fixierte. »Mir fehlen einige Wochen«, sagte er. »Verstehst du, das ist angeblich mein Leben gewesen, aber es ist mir entglitten. Einfach so, weg. Hier ein Datum, da habe ich noch selbst auf den Kalender schauen können und dann ein anderes Datum, und dazwischen – war ich irgendwo anders. Da finde ich es nur angebracht, einmal nachzuschauen, wo ich einen Teil dieser Zeit verbracht habe – und wo das alles angefangen hat.«

Tony sah sich mit Lucilles geballter weiblicher Hartnäckigkeit konfrontiert, die ihn vor Tagen zwar noch am Leben erhalten hatte, ihn nun aber eine Menge Nerven kostete. Zuletzt trieb er sie in die Wir Frauen sind doch klüger und die Klügere gibt nach-Position und sah zu, wie sie ein Taxi bestellte.

 

Der Fahrer bekam große Augen, als Lucille in gewohnter Eleganz zu seinem Wagen schritt. Dann allerdings begann er perfide zu grinsen, als er ihres barfüßigen Begleiters ansichtig wurde, der eine abenteuerliche Zusammenstellung von Jogginghose, deren Schritt sich in Kniehöhe befand, eines geblümten T-Shirts, das verdächtig feminin aussah und eines Jacketts, das vorher in Besitz einer Vogelscheuche gewesen zu sein schien, trug.

»Ich brauche unbedingt neue Kleidung«, zischte Tony, als der Fahrer durch die kurvige Straße abgelenkt war. »Seit meiner Kindheit hasse ich es, wenn mich französische Taxifahrer wegen meiner Klamotten so frech anschauen.«

Lucille hob die linke Augenbraue. »Unsere Taxifahrer schauen immer so. Ich finde, die Sachen stehen dir ausgezeichnet. Dieser Stil – ja, irgendwie passt er perfekt zu dir. Kleidungsstil als Ausdruck der Persönlichkeit, so ist es doch wohl …«

Tony warf mordlüsterne Blicke aus dem Seitenfenster und schaute, ob sich zwischen den Pinien nicht eine Herrenboutique des gehobenen Niveaus verborgen hielt. Aber selbst die hätte mangels Bargeld und Kreditkarte wenig genutzt.

Lucille lächelte ihn lieblich an. »Entspanne dich, Tony. Du wolltest diese Veranstaltung. Nun genieße sie auch.«

Sie wechselten einmal das Taxi und ließen sich dann zu einer Autovermietung bringen.

 

»Möchtest du mit hereinkommen oder lieber draußen warten«, fragte Lucille freundlich, bevor sie das Büro betrat. Tony zog es vor, hinter einem Baum zu warten.

Die Fahrt auf der Küstenstraße brachte ihm dann wieder eine gewisse Stimmungsverbesserung, denn trotz Lucilles Bemühungen hatte sie nur einen Wagen mit Schaltgetriebe auftreiben können.

Tony kommentierte die kratzenden Geräusche und das Springen des Wagens bei jedem Gangwechsel mit einer derartigen perfekt-höflichen Unbewegtheit, dass lautes Schenkelklatschen eine geradezu stoische Reaktion dagegen gewesen wäre.

»Gleich sind wir da«, erklärte Lucille.

Sie fuhren um eine unübersichtliche Kurve, und im nächsten Moment trat Lucille mit einem Fluch hart auf die Bremse. Der Wagen brach aus der Spur, kam mit quietschenden Reifen zum Stehen und machte einen letzten Sprung, ehe der Motor ganz abstarb.

Ein Lastwagen stand quer auf der Straße und rangierte rückwärts in die Einfahrt des abgesperrten Geländes hinein. Einige Männer in schwarzen Uniformen halfen dem Fahrer mit Handzeichen und sperrten breitbeinig die Straße.

Der Lastwagen rollte ein Stück vor, hielt mit jaulenden und zischenden Luftdruckbremsen, die Vorderräder knirschten über den Asphalt, als der Fahrer sie in die andere Richtung einschlug, dann setzte das schwere Fahrzeug wieder zurück. Der Geruch von Dieselabgasen verbreitete sich.

Lucille biss sich nervös auf die Lippen. Mit dem Kopf deutete sie die Richtung an. »Dort drüben war es. In dieser Halle. Das heißt, eigentlich darunter. Es gibt dort tief liegende Tanks oder Keller oder was immer es auch ist.«

Tony schüttelte den Kopf. »Keine Erinnerung, nichts … allerdings Keller – das passt irgendwie.«

Bevor Lucille nachfragen konnte, klopfte einer der Uniformierten an ihr Seitenfenster und bat sie, ein Stück zurückzufahren, um den Lastwagen mehr Platz zum Rangieren zu geben. Dann schlenderte er wieder zurück und gestikulierte mit dem Lkw-Fahrer. Auf dem Rücken der schwarzen Uniform schimmerte das Wort Security in weißen Buchstaben, vom Koppel baumelte ein Pistolenhalfter.

Lucille startete den Motor, verrenkte den Hals und ließ den Wagen mit schleifender Kupplung zurückrollen. Ihr misstrauischer Blick zum Beifahrer war überflüssig, denn der schaute sich interessiert die Fracht des Lastwagens an.

Es handelte sich um zwei helle, tonnenförmige Behälter, die jeweils in einen schützenden, blau lackierten Gitterrahmen eingelagert waren. Um die Tonnen liefen Rohrleitungen in verschiedenen Farben und unterschiedlichen Durchmessern. An einigen Stellen traten Anschlussflansche aus der Oberfläche, die offensichtlich mit weiteren Rohren verbunden werden konnten. Ein runder Einstieg war mit einem komplizierten Verschlussmechanismus versehen, zu dem ein Handrad und einige Sicherungshebel gehörten. Das gesamte System ließ sofort an die Turmluke eines U-Bootes oder an einen Atomreaktor denken.

Mit zusammengekniffenen Augen entzifferte Tony die Buchstaben, die auf die Tonnen geschrieben waren – SSI. »Ich würde gern wissen, wozu diese Behälter gebraucht werden«, sagte Tony. »Und was soll SSI bedeuten?«

»SSI heißt Security Systems International, Hauptsitz Marseille, Dependance in London«, erwiderte Lucille trocken. Sie nahm Tonys Frage vorweg und ergänzte: :»Montalban hat was mit dieser Firma zu tun. Als Besitzer, Geschäftsführer oder Berater, so genau weiß ich das nicht. Aber ich weiß, dass die SSI diese Töpfe da öfter mit Frachtflügen transportiert.«

»Und was ist in den Behältern?«

»Ich hatte gehofft, dich mit meinen Kenntnissen derart zu beeindrucken, dass du nicht weiterfragst. Also – ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die Transporte unter Sicherheitsstufe Eins Plus Plus laufen. Darum auch diese Typen in Uniform.«

 

Auf der Fahrt zu seinem Hotel grübelte Tony über die Funktion der Behälter nach. Sie konnten unter Druck gesetzt werden, soviel war klar. Sollte Gas darin transportiert werden, radioaktives Material vielleicht, waren es Tauchbehälter oder Überdruckkammern? Seine Überlegungen blieben Spekulation. Mit einem Lächeln, das er selbst in die Rubrik ausgesprochen blöde einstufte, betrat Tony die Halle des Fleur de Nice.

Der Diensthabende an der Rezeption griff bei seinem Anblick hektisch zum Telefon und flüsterte, die Hand schützend vorgehalten, in die Sprechmuschel.

Lucille betrat kurz nach Tony die Halle und nahm in einem Sessel Platz, von dem aus sie die Szene gut überblicken konnte.

Nicht einmal eine Minute verging, als der Hoteldirektor mit ausgebreiteten Armen auf Tony zustürmte. »Monsieur Tanner, welche Freude, Sie zu sehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«

Tony hoffte, diese Standardfloskel mit einem Lächeln überstehen zu können, aber der Direktor schaute derart besorgt, dass sich Tony doch zu Antwort bequemen musste.

»Danke, es geht mir – den Umständen entsprechend. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass meine Recherchen so lange dauern würden, wie es dann doch der Fall war.«

Der Direktor hüstelte und schaute sich dezent um. »Lange, Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde. Wir waren tatsächlich schon ein wenig in Sorge. Andererseits, bei einem Gast mit Ihren Referenzen …«

»Ich fühle mich geehrt. Wenn ich mich erst einmal richtig rasiert habe und etwas passendere Kleidung trage, werde ich meinem guten Ruf wohl eher gerecht. Lassen Sie mir bitte die Rechnung zukommen, ich gedenke, übermorgen abzureisen. Meine Begleiterin braucht bis dahin auch ein Zimmer. Und wären Sie so freundlich, mir den Coiffeur des Hauses auf mein Zimmer zu schicken?«

Mit einer leichten Verbeugung und einem strahlenden Lächeln trat der Direktor den Rückzug an. »Ein Zimmer für Ihre Begleitung, den Coiffeur – und die Rechnung. Es ist immer eine Freude, Gäste wie Sie zu beherbergen zu dürfen, Monsieur Tanner.«

 

Es war eine ausgesprochen erfreuliche Modeerscheinung, dass man seine dürr gewordenen Glieder unter leichten Leinenhosen und weiten Polohemden verbergen konnte, stellte Tony Tanner fest. Denn gegen die braun gebrannten, muskulösen Prachtexemplare aus der Art der Menschenmännchen, die sich hier, im Castel Plage, in knappen Höschen sehen und ansehen ließen, hatte er bestenfalls als komischer Gegensatz eine Chance auf Beachtung. Solange er in der Nachbarschaft Lucilles auf einer Strandliege lag, sah er sich den spöttisch abschätzenden Blicken dieser Latin Lover-Typen ausgesetzt, die ihn – wie Tony fand übrigens völlig zu Recht – als unpassenden Begleiter dieser dunkelhaarigen Schönen in ihrem aufreizenden roten Einteiler einstuften.

Nach der vierten oder fünften Passage eines dieser Schönlinge gab Tony entnervt seinen Platz auf und strebte der Strandbar zu, wo es ausgezeichneten Fischsalat gab. Er war gerade erst bei seinem zweiten Teller, als sich Lucille neben ihn setzte.

»Wo bleibt dein männliches Ehrgefühl, dass du mich schutzlos vor den begehrlichen Blicken dieser pomadisierten Angeber zurücklässt«, spottete sie.

Tony grinste. »Ich wollte dir die Chance geben, den Mann deines Lebens kennenzulernen. Übrigens würde ein hochgeschlossenes schwarzes Kostüm im Stil spanischer Nonnen des 16. Jahrhunderts abschreckender wirken als ich, selbst wenn ich ständig die Zähne fletschen würde.«

»Sicherlich, aber die Leute hätten weniger zu lachen.« An dieser Stelle bewies Tony, dass er die Psyche seiner Begleiterin zumindest oberflächlich kennengelernt hatte, und er verschluckte die fällige Replik mit einem genüsslichen Grinsen.

Lucille schaute finster auf die Sprechblase, die sich über seinem Haupt erhob, musste aber anerkennen, dass sie zumindest offiziell das letzte Wort gehabt hatte und damit kein Grund zur Unzufriedenheit vorlag.

»Du hast noch etwas vor?«, erkundigte sie sich. Nach einem Blick auf die Uhr nickte Tony.

»Es hat aber noch etwas Zeit.«

»Vermutlich wirst du mir nicht sagen, um was es sich handelt?«

»Ein geschäftlicher Besuch.«

»Vermutlich hast du dabei die besten Chancen erschossen, erschlagen oder sonst wie massakriert zu werden?«

»Das Leben als solches ist nicht gänzlich ohne Gefahren. Abgesehen davon glaube ich, dass ich gute Chancen habe, heil aus der Sache herauszukommen. Im Notfall nutzte ich die Gnade meiner angeborenen Feigheit und verziehe mich schleunigst.«

»Und warum verbesserst du deine Technik des Abhauens nicht ein wenig und bleibst gleich hier?« Ihre Hand bewegte sich unwillkürlich in die Richtung seiner Hand und konnte von Lucille nur mit Mühe angehalten werden.

Da Tony gerade die letzte Krabbe aufgabelte, bemerkte er diese kleine Bewegung nicht. Tony spielte mit der Gabel, kaute und betrachtete versonnen einige Bikinis samt Inhalt, die sich in der Nähe, im Schatten der Sonnenschirme, selbst höchst appetitlich angerichtet hatten. »Wenn man bedenkt, dass diese Körper zum größten Teil aus Wasser bestehen …«, sinnierte er.

Lucille schnaubte und zog ihre Hand, geballt zur Faust, zurück. »Du weichst mir aus«, grollte sie.

»Ich weiche nicht aus, obwohl das Ausweichen Teil meines Lebensprinzips ist, was sich sowohl für Menschen als auch für Ozeandampfer immer als höchst vorteilhaft erwiesen hat, wie der bedauerliche Fall der Titanic als Gegenbeispiel beweist. Also, nennen wir es eine Ehrensache, dass ich da noch einmal auftauche. Nein, das ist es nicht. Ehre ist eine Sache für Kriegerdenkmäler. Ich hoffe, dort etwas zu erfahren. Und wenn ich dort etwas erfahren habe, dann habe ich die Chance, diesen Nizza-Urlaub doch noch erfolgreich abzuschließen.«

Und was wollte er dann tun? Die Frage hatte er sich in den letzten Tagen oft gestellt.

Seinen Arbeitgeber hatte er wissen lassen, dass er krank sei. Um ein plausibles Attest zu bekommen, hatte er einen Arzt aufgesucht, dem er eine märchenhafte Geschichte vom Sturz von einem Strandfelsen aufgetischt hatte. Doch der junge Doktor war misstrauisch gewesen.

Tony Tanner hatte im letzten Moment noch das Psychologie-Diplom des Arztes, hübsch eingerahmt neben dem Hippokratischen Eid, an der Wand gesehen. So hatte er ihm einige Traumbrocken aus der Zeit seines Komazustandes hingeworfen und damit die Leidenschaft des Doktors nach Traumdeutungen und Esoterik befriedigt. Tatsächlich konnte Tony sich nicht an viele Traumereignisse erinnern, und die Gänge, die er im Geiste immer wieder durchlaufen hatte, interessierten den Arzt nicht. Aber der gewaltige Adler, dessen ungeheure Schwingen und ernste Augen Tony Tanner wirklich noch gut im Gedächtnis hatte, war Anlass genug, den Doktor zu einer langatmigen Analyse zu veranlassen.

Nachdem Tony diese mit einem freundlichen Gesicht überstanden hatte, erhielt er auch das notwendige Attest – neben vielen Erklärungen stand dort auch »Verdacht auf Psittakose« – und die Aufforderung, sich in einem serologischen Institut vorzustellen.

Das Attest verschaffte Tony Tanner Zeit. Doch wie würde er sie füllen, fragte er sich. Es gab einige Szenarien, wobei diejenige mit dem maximalen Spaßfaktor darin bestand, Dorkas das peladianische Fragment zwischen die Zähne zu schlagen und ihm mit dieser feinsinnigen Symbolik das Ende ihrer Zusammenarbeit anzudeuten. Er konnte sich deutlich an eine unüberwindliche Dunkelheit erinnern, in der er eingegossen war wie eine Mücke in einem Bernstein, und an seine Rachegedanken, die der letzte Pulsschlag des Lebendigen in ihm zu sein schienen. Aber solche Gedanken waren der letzte Luxus dessen, der völlig am Ende ist.

Jetzt lag die angenehme Wärme der Nachmittagssonne auf seinem Gesicht, und er konnte die Dinge gelassener einschätzen. Die Dinge gelassener einzuschätzen bedeutete allerdings, sie als zugleich drängend, undurchschaubar und gefährlich einzustufen. Ob Dorkas in Wahrheit ein mieser Verräter war, spielte dabei nur am Rande eine Rolle. Inzwischen war Tony zu tief in die Angelegenheit (Angelegenheit war ein hübsches Wort für die vielen Möglichkeiten, mehr oder weniger freiwillig diese materielle Ebene zu verlassen, wie sich Dorkas ausgedrückt hätte) verstrickt, um daraus auszusteigen wie aus einem Linienbus.

 

Die Stimme Lucilles holte ihn aus seinen Überlegungen. »Ich habe mal eine Fernsehübertragung von einem Boxkampf gesehen. Der eine Boxer hatte in der Pause den gleichen finsteren Gesichtsausdruck wie du eben.«

Was kümmerte sie sich um seinen Gesichtsausdruck, verdammt noch mal. Angesichts ihrer dunklen Augen, die auf ihm lagen, bemühte sich Tony trotzdem, weniger boxerartig auszuschauen.

Sie quittierte seine Anstrengungen mit einem lauten Lachen, und als sich einige Leute aus der Nachbarschaft nach ihnen umdrehten, prustete sie hinter der vorgehaltenen Hand weiter.

»Und«, erkundigte sich Tony. »Hat der Boxer wenigstens gewonnen?«

»Er wurde in der nächsten Runde umgehauen. Smack in the middle!«

»Das sagst du jetzt nur, um mich wegen meines männlich markanten Aussehens zu strafen.«

»Wenn du denn eines hättest, mein Lieber, würde das kein Grund zur Strafe sein.« Da sie sich in französischer Sprache unterhielten und Tony eine Weile brauchte, bevor er die Konjunktivkonstruktion entziffert hatte, schaute er sie verwirrt an und nahm ihr so die Freude an ihrer Boshaftigkeit.

»Ich muss mal telefonieren«, erklärte Tony. »Wenn ich zurückkomme und auf meinem Platz sitzen nicht mindest zwei Typen, die wie Delon oder Pitt aussehen, würde ich an deiner Stelle mal über eine Schönheitsoperation nachdenken. Also bis gleich …«

»Idiot.« Lucille lehnte sich zurück und wendete ihr Gesicht gegen die Sonne. Durch die geschlossenen Lider tauchte sie in einen Ozean aus warmem Rot, war sicher und geborgen wie ein Kern in rotem Fruchtfleisch. Zum ersten Mal seit Wochen erschien ihr diese Farbe nicht mehr wie der Schlachtruf von vergossenem Blut. Sie hörte durch das Stimmengewirr der anderen Gäste, durch das schrille Kreischen badender Kinder und das Rauschen der Wellen, wie sich seine Schritte entfernten. Es gab in ihr einen Filter, der alle anderen Geräusche zurückdrängte und aussortierte. Deutliche Anzeichen für eine Vertrautheit, die sich schon unbewusst entwickelt hatte, verborgen und heimlich und ohne ihrem Verstand die Möglichkeit des Einspruchs zu gewähren.

Bewahre mich vor den sieben Plagen der Liebe, dachte Lucille Chaudieu. Bewahre mich vor Eifersucht und der Sorge und der Sehnsucht und dem ungestillten Verlangen und den Stunden des Wartens und den tausend Missverständnissen und dem bitteren Schweigen und lass alles einfach so bleiben, wie es ist.

 

Ein dunkler Schatten legte sich auf das Rot.

»Nun, Erfolg gehabt«, fragte Lucille, ohne die Augen zu öffnen.

»Ja, ich sehe aus wie der junge Delon, aber der Effekt hält nur zehn Sekunden – Pech gehabt, zu spät, du hättest es haben können. Abgesehen davon: Der Laden, den ich besuchen will, hat heute tatsächlich auf.« Tony blinzelte in die Sonne, die sich dem Horizont näherte.

»Ich schätze, dass ich mich bald aufmachen werde.«

Lucille räusperte sich. Schon allein dieser Beginn ihres Satzes ließ Tony aufmerksam werden.

»Als wir an dem Gelände vorbeifuhren, wo sie dich festhielten, da erwähntest du etwas … ich würde nur gern wissen, was geschehen ist, als du in dieser Ohnmacht warst …«

»Du meinst, was ich geträumt habe oder so? Dann bist du schon der zweite Mensch, den das interessiert …«

Lucille nickte nur leicht. Der Wind wehte durch ihr Haar und legte ihr eine Strähne quer über das Gesicht. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte Lucille die Haare zur Seite und kräuselte dabei die Nase, sodass zwischen Stirn und Nasenwurzel kleine Wellen aus olivfarbener Haut erschienen. Es war das Ergebnis eines langen Trainings, das Tony davon abhielt, sie in diesem Moment anzustarren, wie ein Kulturtourist, der sich zum ersten Mal bis direkt vor die Mona Lisa durchgearbeitet hat. Maximal drei Sekunden Augenkontakt, dann Blick zur Seite, so etwas lernte man auch in seinem Beruf.

Lucille wirkte in diesem Augenblick, als sei sie aus zwei Teilen zusammengesetzt und als würde nun die Naht erkennbar, wo sich die beiden Hälften trafen. Hälften wohlgemerkt, die nicht genau zusammenpassten – da war diese energische Geste, passend zu der ebenso kratzbürstigen wie selbstbewussten Lucille – und dahinter lugte jetzt eine andere hervor, vielleicht nicht weniger selbstbewusst, aber weicher und freundlicher und offener.

Wie die jüngere Schwester, die in Kitschfilmen immer für Komplikationen sorgt und am Ende den Helden bekommt, dachte Tony. Er fing ihren erstaunten Blick auf und versuchte, sich wieder auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Es fiel ihm nicht leicht.

»Ich war die ganze Zeit in einem Keller. Es muss so ein Keller gewesen sein, wie er zu modernen Wohnblocks gehört – eine Menge Gänge, Abzweigungen, Nebenwege – und ich lief dadurch und suchte nach dem Ausgang.«

»Und den hast du nicht gefunden?«

»Nein, das heißt, es gab ihn, aber jedes Mal, wenn ich mich der Stelle näherte, wo er sein musste, überkam mich die Panik. Ich wusste, vor dem Ausgang war etwas, irgendetwas Furchterregendes. Das trieb mich immer wieder zurück und ich lief weiter durch diesen verfluchten Keller. Pausenlos. Und dann wieder der Versuch, mich dem Ausgang zu nähern und die Angst. Schließlich war ich überzeugt, dass es besser sein musste, sich diesem Etwas zu stellen als ein Gefangener zu sein. Ich wusste, dass ich keine Chance hatte, aber dann wäre es zumindest zu Ende gewesen, das allein schien schon ein Segen zu sein. Ich war auf dem Weg dahin …«

»Und wie bist du aus diesem … Keller entkommen?«

Tony überlegte. Tatsächlich hatte er sich selbst diese Frage schon oft gestellt. Aber er wusste es nicht. »Ich bin nicht entkommen. Ich meine, ich war es nicht selbst, es war nicht mein Verdienst. Aber ich weiß auch nicht, was geschehen ist. Ich kann mich an ein Geräusch erinnern – ein Rauschen. Wie von Wasser. Nein, Wasser war es nicht … es klang … ich weiß es einfach nicht, vielleicht wie ein rhythmischer Sturm …«

 

Sie entschlossen sich, den Weg zur Altstadt zu Fuß zurückzulegen. Trotz Tonys honigsüßen Worten bestand Lucille darauf, ihn zu begleiten. Die Bistros und Cafés der Altstadt waren voller Touristen. Vom Jachthafen klang das metallische Klappern, mit dem der Wind die Seile gegen die Aluminiummasten schlug. Ein Motorboot tastete sich langsam aus seinem Liegeplatz, drehte und nahm dann mit dröhnenden Dieselaggregaten und weißer Heckwelle Fahrt auf. Inlineskater drehten ihre Runden.

Tony legte die Hand als Sonnenschutz über die Augen und schaute dem Motorboot nach, das die übliche Besatzung hatte – einige Herren und noch mehr Damen, wobei das Lebensalter aller weiblichen Passagiere in der Addition gerade mal an die Zahl der Jahresringe eines einzelnen dieser Herren heranreichte.

Dann blickte Tony die Straße hinauf und hinunter und versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den er vor scheinbar unendlich langer Zeit genommen hatte. Er war sich nicht sicher, aber er beschloss, seinem Instinkt zu folgen. Er nahm einen Weg, der ihn in die Altstadt führte.

Manchmal war er sicher, diesen Laden oder dieses Haus wiederzuerkennen, dann wieder erschien alles völlig fremd. Einmal blieb er stehen, legte mit geschlossenen Augen die Fingerspitzen an die Schläfen und versuchte, sich den Abend, an dem ihm Lagrange zu La Gueule geführt hatte, in allen Einzelheiten bewusst zu machen.

Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, störte ihn in seiner Konzentration.

»Ist dir nicht gut«, fragte Lucille besorgt.

Er schüttelte den Kopf, etwas ruppiger vielleicht als eigentlich gewollt, und sie zog die Hand zurück. »Ich versuche, mich an den Weg zu erinnern«, erklärte er dann entschuldigend. »Und bevor du jetzt fragst – richtig, ich könnte mich auch nach dem Weg erkundigen …«

»Aber das wäre zu einfach, wie?« Lucille schüttelte ihren Kopf.

Zuguterletzt wäre Tony fast an dem Eingang der Kneipe vorbeigelaufen. Er verbot Lucille energisch, ihm zu folgen, musste aber einen lästigen Handel mit ihr machen, der es ihr erlaubte, nach einer Viertelstunde, sollte er dann noch nicht wieder auf der Straße sein, die Gendarmerie zu holen.

Dann betrat er mit Schwung den Innenraum und ging, ohne nach links und rechts zu schauen, weiter bis zu der Tür am Ende des Ganges.

Er hatte das Klopfzeichen noch im Ohr, diesen auf Holz getrommelten Slogan des Algerie francaise. Während er wartete, drehte er das Lederband an seinem linken Handgelenk in die richtige Position. Er hatte die Peitsche seit langer Zeit nicht mehr registriert, empfand es nun aber als selbstverständlich, dass sie nach all dem, was passiert war, immer noch an ihrem Platz wartete.

Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, ein Augenpaar musterte ihn. Bevor sich in dessen Blicken etwas wie Erkennen oder Abwehr bilden konnte, warf sich Tony mit aller Kraft gegen die Tür. Die Kante knallte gegen ein Gesicht, der Mann auf der anderen Seite taumelte mit einem Aufschrei zurück, und Tony drückte die Tür vollends auf und sprang in den Raum. Dann warf er die Tür von innen zu und stellte sich mit dem Rücken zu ihr, eine Hand auf den Drehknopf gelegt.

Es war, als würde er auf ein Wachsfigurenkabinett herabsehen. Die Männer saßen bewegungslos und starrten ihn an. Selbst La Gueule konnte seine Verblüffung nicht verbergen.

Tony fixierte ihn. »Sie haben noch etwas für mich«, sagte er dann ruhig. Woher diese Ruhe kam, wusste er selbst nicht zu sagen.

La Gueule kam in Bewegung. Er fischte ein Zigarettenpapier aus der Hülle, die auf dem Tisch neben den Karten lag, holte einen goldenen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts und schrieb dann einige Worte auf das Papier. Er brauchte lange dafür und malte die Buchstaben voller Sorgfalt wie ein Kind, das die Kunst des Schreibens noch mit letzter Sicherheit beherrscht.

Als er fertig war, reichte er den kleinen Zettel mit zwei Fingern in Tonys Richtung.

Tony bewegte sich keinen Millimeter nach vorn. Stille herrschte.

Der Mann auf dem Boden stöhnte und wischte sich über das Gesicht, auf dem ein roter Streifen aufquoll. Auf dem Gang trällerte eine Frauenstimme einen alten Schlager. Die Sekunden taumelten fort wie Staubkörnchen in einem Lichtstrahl. La Gueule schaute über den Zettel auf Tony und stand dann auf, um ihm das Papier zu geben.

Villa Nèptune, Avenue des Baumettes, las Tony.

»Der Besitzer ist Kunstsammler, lässt aber nur ausgesuchte Bekannte an seine Schätze. Zurzeit ist er aber nicht im Lande, und seine Sammlung wird umgebaut, weil er vor einiger Zeit einen großen Posten neuer Werke ersteigert hat. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte der Franzose.

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Ich vermute das leidige Kapitel der Bezahlung Ihrer … Dienste haben schon andere für mich erledigt?«

La Gueule nickte.

Mit provozierender Langsamkeit drehte Tony der Gesellschaft den Rücken zu, öffnete die Tür, ging heraus und zog die Tür hinter sich zu. Niemand regte sich.

Er durchquerte den Gastraum und traf auf der Straße auf Lucille, die nervös hin und herging. Er gab ihr nur ein Zeichen mit dem Kopf und lief dann zum Jachthafen. Als klar war, dass ihm keiner folgte, blieb er stehen und wartete, bis Lucille neben ihm stand. Tony sagte nur ein Wort – Anette.

Lucille verdrehte die Augen und griff zu ihrem Funktelefon.

***

Der Taxifahrer schaltete in den zweiten Gang und zeigte dann auf die Einfahrt, an der sie gerade langsam vorbeirollten. »Chateau des Ollières«, erklärte er.

Tony beugte sich vor, um an Lucille vorbei auf das Gebäude am Ende eines breiten Kiesweges zu schauen. Durch alte Bäume schimmerte gerade genug von dem Schloss, um die eigenartige Mixtur von Baustilen erkennen zu lassen. Ein Teil der Fassade schien auf direktem Wege aus Venedig importiert zu sein, während andere Formen auf portugiesische Vorbilder zurückgingen.

Ein russischer Prinz, erklärte der Fahrer, hatte sich das Chateau am Anfang des Jahrhunderts erbauen lassen. Nun beherbergte das Gemäuer ein exklusives Hotel mit angeschlossenem Restaurant.

Nach einer Weile hielt der Wagen vor einem vergitterten Tor.

Tony bezahlte und bat den Fahrer, unterstützt von einem eindrucksvollen Trinkgeld, zu warten, auch wenn es etwas länger dauern sollte.

In den Säulen links und rechts des Tores war keine Klingel zu entdecken, und so standen Tony und Lucille etwas hilflos herum. Aber irgendwo musste sich eine verborgene Kamera befinden, denn ein Summer ertönte und das Tor sprang mit einem Klacken auf.

Sie sahen sich an und schritten dann hindurch und den mit Steinplatten belegten Weg entlang. Tony hatte sich lange überlegt, ob er Lucille mitnehmen sollte, war dann aber zu der Erkenntnis gekommen, dass er mit ihr die Personifikation eines Ablenkungsmanövers an der Hand hatte, zumindest, wenn es um die Aufmerksamkeit männlicher Personen ging. Hinter dieser rationalen Erklärung ahnte er zumindest die tiefer gehende Tatsache, dass er gern mit ihr zusammen war.

Lucille nahm es als selbstverständlich hin, dass er sie mitnahm. Schließlich hatte sie die Fäden geknüpft und mit einer Mischung aus ausgefeilter Psychologie und instinktiver weiblicher Tücke Anette in einen regelrechten Stresszustand versetzt.

Anette hatte Himmel und Hölle in Bewegung versetzt, um dieser Ziege Lucille zu beweisen, dass ihr »Schnutziputzischatzi« Beziehungen in die höchsten Kreise hatte und auch Besuche in ansonsten fast hermetisch verschlossene Privatsammlungen ermöglichen konnte.

Lucille hatte etwas nachgelegt und Tony als einen britischen Beamten aus der Nähe des Buckingham Palastes dargestellt, eine Übertreibung, die Tony ebenso peinlich erschien wie Potenzprotzerei an Kneipentresen nach Mitternacht.

Anettes Liebhaber besaß tatsächlich beste Verbindungen, und so konnte Anette sicher sein, dass sowohl Tony als auch Lucille ihr bestes Gedeihen in der Zweierbeziehung wünschten, und sei es aus praktisch-egoistischen Gründen.

Jetzt, wo sie in diesem Park waren, konnte die Sache nur ein Kinderspiel sein. Fotografieren des peladianischen Fragmentes, entweder offen oder verdeckt mithilfe einer kleinen Minoxkamera, in diesem Fall würde Lucille für die Ablenkung zuständig sein, und dann Rückzug und Rückfahrt und Rückflug.

Der Gedanke an London erweckte in Tony Tanner allerdings nur wenige positive Gefühle. Da war zuerst einmal die unklare Beziehung zu Dorkas – Tony misstraute seinem Auftraggeber und stellte fest, dass die Vorstellung, mit Dorkas in Unfrieden zu scheiden fast so schwer wog wie das zweite Problem. Es lautete Lucille Chaudieu und ließ sich in dem Satz zusammenfassen Was macht sie, wenn ich nach London fliege?.

Eine Gestalt mit fliegender Krawatte eilte auf sie zu. Hinter einigen Bäumen wurde die Villa sichtbar. Sie hatten beide mit einem älteren Bau gerechnet und sahen nun mit Erstaunen auf große Glasflächen und weiß gekälkte Wände, die in der Sonne schimmerten. Das Gebäude machte auf den ersten Blick einen klaren und offenen Eindruck.

Im Näherkommen wurde die eilige Gestalt als junger Mann in einem gut sitzenden Anzug erkennbar, der schon von Weitem Gesten des Bedauerns und des Willkommens zu ihnen herübersandte.

»Jose-Maria Torreas«, stellte er sich vor. »Ich bin der Stellvertreter des stellvertretenden Kurators von Mister Broderick. Mister Broderick ist, wie Ihnen bekannt sein wird, der Besitzer der Sammlung. Er ist wenig an Gesellschaft interessiert, daher auch kaum bekannt.«

Torreas sprach ein hochliterarisches Französisch, das Lucille an gewisse snobistische Absolventen der Ecole superieure erinnerte, pflegte dabei aber seinen leichten spanischen Akzent, der ihn das R rollen ließ und die L etwas fremdartig machte. Von seinem Akzent, den er wie ein Schönheitspflästerchen pflegte, abgesehen, hatte Torreas nichts von einem Spanier an sich. Er war einen Kopf größer als Tony, zeigte trotz seiner Jugend – er mochte vielleicht Mitte zwanzig sein – deutlichen Bauchansatz und war mit seinem Stiernacken, den kurz geschorenen blonden Haaren und den wasserblauen Augen das Urbild eines Fischers an einem norwegischen Fjord.

»Es geht hier bei uns etwas drunter und drüber«, fuhr er mit seinen Erklärungen fort und umfasste mit beiden Armen das gesamte weitläufige Gelände. »Wir haben einen großen Posten neuer Exponate bekommen, müssen die Ausstellung erweitern – und nun wird die Alarmanlage entsprechend umgebaut. Und, wie es so kommen muss, hat es dabei einen Kurzschluss gegeben. Der Toröffner und die Kamera sind so ziemlich das Einzige, was jetzt noch funktioniert.«

Tony nickte verständnisvoll. Indessen fühlte er bei den Worten von der ausgefallenen Alarmanlage ein Kribbeln im Bauch.

Auch Lucille warf ihm einen Blick zu.

Vor dem Gebäude standen zwei Lieferwagen einer lokalen Elektrofirma. Ein Elektriker im Blaumann studierte einen Schaltplan und unterhielt sich dabei über ein Funktelefon mit seinem entfernten Kollegen. Torreas schaute ihn fragend an und bekam ein Schulterzucken als Antwort.

Weil sich die Haupttüren wegen des Stromausfalls nicht öffnen ließen, betraten sie die Villa durch einen Nebeneingang und wurden an einigen Büros vorbeigeführt, um schließlich in der Haupthalle anzukommen.

»Ich sagte es ja – etwas chaotisch«, entschuldigte Torreas. Ihm war das Durcheinander sichtlich unangenehm.

 

In der großen Halle waren mit Holzböcken und Brettern Tische improvisiert worden, auf denen die neu erstandenen Exponate ausgebreitet waren. Es handelte sich um ein Sammelsurium künstlerischer und kunstgewerblicher Objekte, wobei der Pop-Art-Kitsch von Jeff Koontz neben einer altperuanischen Vase stand.

Der Anblick nahm Tony fast den Atem.

Torreas bemerkte, wie beeindruckt Tony war, und taute merklich auf. Er erklärte kurz, nach welchem Ordnungssystem sie versuchten, die Objekte zu katalogisieren. Im Augenblick hatte jedes Objekt eine Nummer, die auf einem angehängten Zettel notiert war und eine dazugehörige provisorische Karteikarte. Die Nummern waren aus bestimmten Gründen nicht fortlaufend. Tony schritt langsam an den Tischen entlang. Was hier ausgebreitet lag, musste den Wert einer dreistelligen Millionensumme haben – und der geistige Wert war erst gar nicht zu beschreiben. Allein die Beispiele indianischer religiöser Kunst hätten, wenn sie öffentlich bekannt geworden wären, zu heftigen Konflikten mit den heutigen Nachkommen der beraubten Stämme geführt.

Links waren die schon in der Kartei aufgenommenen Objekte, erkennbar am Fehlen der Karteikarte. Rechts lagen die Kunstschätze, die noch auf ihre Registrierung warteten.

Eine unklare Idee bildete sich in Tonys Kopf. Er wollte sie ausspinnen, aber dann fielen seine Blicke auf die großformatigen Ölbilder, die gegenüber dem Eingang aufgehängt waren. Die Gemälde nahmen ihn sofort in ihren Bann. Langsam und fast ehrfurchtsvoll ging er auf sie zu, suchte sich den passenden Abstand und versank in ihre Betrachtung. Die Formate waren riesig und betrugen alle etwa zwei mal drei Meter. Die Farben waren düster, sie wirkten kreidig, und nur manchmal trommelte ein helles Rot oder kreischte ein Gelb aus der grauen, grünen oder braunen Fläche heraus.

Tony verstand genug von Kunst, um sich sofort an die letzten gegenständlichen Bilder von Jackson Pollock erinnert zu fühlen. Auch hier hatte der Künstler alptraumhafte Schimären auf die Leinwand gebannt. Schwarzleibige Raubtiere lauerten hinter Häuserecken, erschreckten durch das schimmernde Weiß ihrer Gebisse und das tückische Grün-gelb ihrer geschlitzten Augen. Sie erinnerten an Wölfe, aber sie waren mehr als das – die Addition aller Ängste, die ein Mensch vor solchen Bestien haben kann. Die Häuser auf den Bildern wirkte verlassen; aber verstörte Gesichter lugten aus Fensterhöhlen, die Wege in die Ferne waren von Fliehenden belegt, die jedoch nur in Richtung quallig aufsteigender Rauchsäulen, über denen Vogelscharen flatterten, zogen.

Nur eine Gruppe schien nicht von Furcht gepackt. Sie rastete etwas abseits der Häuser. Auf den ersten Blick wirkten diese Gestalten wie Karikaturen, und Tony empfand sie als störend, weil diese Bilder für solche Stilbrüche nicht geeignet erschienen. Er musste sich dem ersten Bild nähern, um die Gruppe genau erkennen zu können. Sie bestand als Männern, die eng beieinandersaßen, als müssten sie sich gegenseitig schützen. Einige Trümmer in regelmäßigen Formen umgaben die Gruppe wie die Reste einer Mauer. Einer der Männer hielt ein Buch in den Händen und schien daraus vorzulesen.

Tony konnte sogar einige Zeilen auf der Seite entziffern – … des faulen Friedens hinter sonnengeilen Feldern, stumpf stinkend wie der Kopf des unverkauften Fisches auf dem Markt nach Mitternacht und nah … Es klang nach Ezra Pound, aber sicher war sich Tony nicht.

Das Motiv der Männergruppe tauchte in allen Bildern auf. Nur in dem Letzten fehlte es, und es war dieses Bild, das Tony am meisten beeindruckte. Hinter einem Netz von Farbe, die in Pollockscher Manier wild auf die Leinwand geträufelt war, sprangen die wolfsartigen Raubtiere den Betrachter förmlich an. Sie schienen mit der Wucht ihrer muskulösen Körper diese letzte Barriere in der nächsten Sekunde zerfetzten zu wollen. Gierige Augen, gebleckte Reißzähne, lüstern hängende Zungen – für den Betrachter war klar, dass er gemeint war.

Obwohl die Darstellung auf dem Bild alles andere als realistisch war, besaß es eine höhere Form des Realismus – jene Form, die jeden, der sich dem Gemälde zuwandte, wie einen Sog erfasste und ihn zutiefst betroffen machte.

Tony musste sich überwinden, um näher an das Werk heranzugehen, um das kleine Schild mit Maler und Titel lesen zu können. Ronald Gainsworth, 1999 stand da nur. Er war so gepackt von dem Bild, dass er zusammenzuckte, als sich Torreas neben ihn stellte.

»Gigantisch nicht wahr«, sagte der Spanier. Tony nickte nur wortlos, und Torreas begeisterte sich.

»Archaische Symbolik, transferiert in das Atomzeitalter, Abstraktion und Gegenständlichkeit auf höherer Ebene zu einer psychologisch stringenten Synthese vereinigt. Sie können stolz auf Ihren Landsmann sein, Herr Tanner.«

»Wie heißt die Serie?«

»Sie heißt Raubwölfe / Europa. Der Titel ist weniger offensichtlich, als er scheint. 1999 war das letzte Bild von Gainsworth, danach scheint er seine Produktion unterbrochen zu haben. Aber er ist einer von denen, die sich nicht an die Öffentlichkeit drängen.«

»Diese Gruppe von Männern, die auf den anderen Bildern erscheint. Ist sie auch irgendwo auf 1999 versteckt?«

Torreas lachte auf und strich sich mit einer etwas gezierten Geste über die Haare. »Die Jungs sind Ihnen also aufgefallen? Ich nenne sie immer die Jungs, wissen Sie. Gainsworth ist nämlich bekennender Homosexueller. Hat doch tatsächlich mal gesagt, der Anblick einer nackten Frau würde bei ihm Übelkeit erregen – dieser Schlingel, dieser. Daher kommt natürlich der Verdacht, dass er hier so eine Art Frühstück im Grünen für die Rosagefärbten macht.«

»Dafür sind die Gedichte, die dort vorgelesen werden, etwas zu gewalttätig und düster.«

»Alle Achtung, Herr Tanner, Sie haben die Zeilen gelesen. Übrigens ein etwas veränderter Pound, wie Sie sicher sofort erkannt haben. Ja, es ist natürlich alles Interpretationssache, was die Jungs dort auf den Bildern zu suchen haben. Aber es gibt sie auch auf 1999

Torreas trat an das Bild heran und zeigte auf einen schwarzen Fleck in der linken unteren Ecke. »Hier sind sie. Wenn man ganz genau hinschaut, kann man sie unter diesen labyrinthartigen Pinselstrichen erkennen. Wobei ich nicht sagen kann, ob das sozusagen zur ursprünglichen Intention des Werkes gehört – die Jungs sozusagen im Verborgenen wirkend – oder ob Gainsworth sie in einem späteren Stadium getilgt hat, weil sie nicht mehr zu passen schienen.«

Diese Frage stellte sich Tony Tanner in diesem Moment auch. Die Gruppe hatte den Bildern einen Akzent von Hoffnung gegeben. Sie verkörperte Kraft, Zusammenhalt, manchmal Kampfbereitschaft und manchmal etwas wie Geist in einer chaotischen Umgebung. Sie in 1999 auszutilgen, gab dem Bild etwas düster Prophetisches. 1999 – das Jahr, in dem die Raubwölfe durch die Absperrungen dringen? Oder sollte dieser schwarze Fleck die Gruppe nicht ausradieren, sondern sie schützen?

Die Gedanken waren müßig. Tony riss sich von der Betrachtung los und gab Lucille ein unauffälliges Zeichen. Die machte sich sofort mit einem herzzerreißenden Lächeln an Torreas heran.

»Nicht, dass ich etwas gegen Jungs hätte«, flötete sie und schob ihren Arm unter den des Herrn Torreas. »Aber mir sind diese Werke zu düster. Würden Sie die Freundlichkeit haben, mich schon zu unserem eigentlichen Ziel zu führen. Herrn Tanner ist es zuzutrauen, dass er den Weg alleine findet.«

Torreas nickte und erklärte Tony, dass er nur die Treppe hoch und dann geradeaus gehen müsste. Dann entfernte er sich mit der munter auf ihn einplaudernden Lucille.

 

Tony schaute sich um. Er war allein. Auch draußen war kein Mensch zu sehen. Schnell trat er an den Tisch. Er musste jetzt fix handeln, und dieses Wissen machte ihm die Sache nicht leichter. Er zog eine ägyptische Schminkpalette in Betracht, nahm eine mykenische Goldfolie in die Hand.

Dann entschied er sich für eine flache Steinplatte in der Größe eines normalen Papierblattes. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass einige Tiere dargestellt waren, die auf Häusern standen. Die einzelnen Häuser, Symbole für Ansiedlungen vermutlich waren mit geraden Wegen verbunden. In einer Sekunde riss Tony den Zettel von der Platte und steckte die Karteikarte ein. Das Objekt hatte aufgehört, offiziell zu existieren. Er steckte die Platte in die Tasche, wobei er die Nähte halb aufriss und folgte den anderen. Der Rest war ein Kinderspiel. Tony fotografierte einige Ausstellungsstücke, während Lucille in einer Ecke des Raumes eine genauere Erklärung über ein Exponat zu bekommen wünschte.

Torreas wand sich vor Scham und erklärte auch hier sei ein großes Durcheinander, bemühte sich aber doch, Lucilles Neugier zu befriedigen.

Unterdessen näherte sich Tony der Säule, auf der Peladianisches Fragment zu lesen war. Er griff nach der ausgestellten Platte und stellte die andere, die er aus seiner Tasche holte, an ihrer Stelle hin. Die gestohlene Platte war kleiner und passte problemlos in seine Tasche. Nun musste er nur noch Position vor der Säule beziehen, sodass Torreas nicht auf das vertauschte Objekt sehen konnte. Aber ein schneller Blick hätte sowieso nichts verraten. Durch einen Glücksgriff Tonys ähnelten sich Form und Farbe der Objekte fast perfekt. Tony und Lucille bleiben noch eine Viertelstunde und wurden dann zum Tor gebracht.

Für Tony hatte Torreas einen männlich-markanten Händedruck, bei Lucille ließ er sich zu einem perfekten Handkuss hinreißen. Dann klackte das Tor wieder zu.

 

Sie bestiegen das wartende Taxi, und Tony stellte mit einem Gefühl der Euphorie fest, dass er ein perfekter Kunstdieb war. Die zerknüllte Karteikarte warf er aus dem Autofenster in den warmen Fahrtwind.

Der Mann starrte Tony an und Tony Tanner starrte den Mann an.

»Herr Dorkas ist gerade nicht zu Hause. Aber kommen Sie doch herein, ich, ich wohne hier zurzeit als Gast und …«

Tony versuchte, sich darüber klar zu werden, woher er das Gesicht des Mannes kannte. Er ließ alle Begegnungen der letzten Monate Revue passieren, und es waren eine ganze Menge, aber er fand kein passendes Pendant zu seiner Erinnerung.

»Kairo«, sagte Little.

Tony verzichtete auf alle Hemmungen und Höflichkeiten und tastete Littles Gesicht mit den Blicken ab. »Sie haben zugenommen«, stellte er dann trocken fest.

»Was man von Ihnen nicht behaupten kann.«

»Oh, die paar Pfund, die mir noch fehlen, kriege ich in den nächsten Wochen wieder auf die Rippen. Dazu esse ich viel zu gern.«

Tony schaute sich in der Wohnung um. Ihn überkam das Gefühl, das jemand haben mochte, der nach langer Zeit wieder sein Kinderzimmer betritt – eine Mischung aus Wehmut und Fremdheit. Als er nach Nizza abgereist war, hatten diese Räume für ihn schon fast die laue Wärme des Heimatlichen gehabt. Zumindest waren sie etwas gewesen, das er nicht so leichthin verließ wie ein Hotelzimmer. Nun stand er hier und erkannte, dass er lange fortgewesen war und weit fort.

Little hielt sich Hintergrund, ließ aber keinen Blick von ihm wie ein Verkäufer, der einen Kunden belauert.

Schließlich sagte Tony: :»Ich werde mir wohl besser erst mal ein Hotelzimmer suchen. Ich melde mich, wenn Dorkas auch wieder im Lande ist.«

Der Satz war so etwas wie das letzte Leuchtsignal, aber Little reagierte nicht darauf, bat ihn nicht zu warten, bot ihm keinen Platz an, sondern führte seine stumme Pantomime des Verfolgers weiter.

»Alsdann«, sagte Tony Tanner zum Abschied und trat hinaus auf den Flur. Er ging langsam, um dem seltsamen neuen Mitbewohner von Dorkas’ die Chance zu bieten, sich zu besinnen und ihn zurückzurufen, aber der blieb stur wie ein schottisches Hochlandrind. Er öffnete die Haustür und warf einen Blick nach hinten und prallte im nächsten Moment mit einem Mann zusammen, der nicht auf ihn achtete, weil er seine Hausschlüssel suchte.

 

Tony und Dorkas standen wie Ringer am Beginn des Kampfes. Dann stieß Dorkas Tony mit einer schnellen Bewegung von sich.

»Ab in den Flur«, zischte er. »Man muss Sie hier nicht sehen.«

Im Flur erklangen aus einem oberen Stockwerk Stimmen und Schritte, und so hastete Tony hinter Dorkas her in dessen Wohnung. Nach Luft schnappend standen sie hinter der Tür.

Dorkas lugte wie ein U-Boot-Kapitän durch den Spion auf den Flur und wandte sich erst, als er sicher war, dass dort wirklich bekannte Hausbewohner entlangkamen, Tony zu. Auf der Stirne von Dorkas standen Schweißperlen.

Unwillkürlich musste Tony grinsen. Die Situation war gänzlich ungeeignet als Beginn eines Rachefeldzuges.

Plötzlich entspannte sich die Atmosphäre, und auch Little, der diese knisternden Funken der Aggression schon seit Tagen gespürt hatte, wurde lockerer. Trotzdem mussten sie sich erst wieder aneinander gewöhnen und redeten sorgfältig um die Geschehnisse der letzten Zeit herum. Es war absolut bizarr, stellte Tony fest – da war kein Schmal bist du geworden oder Wie ist es dir ergangen, so als wäre die völlige Vermeidung solcher alltäglicher und selbstverständlicher Gesten das geheime Erkennungszeichen einer Verschwörerclique.

Schließlich stand Dorkas auf und rieb sich die Augen. »Ich fürchte, ich muss dieses gesellige Beisammensein beenden, zumindest was meine Person angeht. War ein anstrengender Tag – man soll nicht glauben, wie misstrauisch Journalistennachwuchs sein kann. Und dann der Anwalt. Na ja, darüber können wir morgen konferieren.«

»Es gibt in der Tat einige Dinge, die wir noch abklären müssen«, erwiderte Tony.

Dorkas warf ihm einen bezeichnenden Blick zu und nickte. Dann entschied er, dass Tony aus Gründen der Sicherheit bei ihnen bleiben müsse und verteilte Schlafplätze. Nun war der rechte Augenblick für seinen großen Auftritt gekommen, entschied Tony.

»Bevor Sie sich in Morpheus’ Arme flüchten, muss ich Ihnen noch etwas zeigen«, sagte er zu Dorkas. Mit eleganter Geste warf er seinen Koffer auf den Küchentisch, öffnete ihn und holte einen Gegenstand heraus, der sorgfältig in ein gebrauchtes Hemd eingeschlagen war.

Dann räumte er den Koffer vom Tisch, legte den Gegenstand in dessen Mitte und zupfte in der Art eines Zauberkünstler den Stoff zur Seite.

»Voilá, die Herren, das peladianische Fragment! Eigenhändig aus der Villa Nèptune gestohlen.«

Dorkas hatte ihm über die Schulter geschaut. Nun hörte Tony das scharfe Geräusch, mit dem Dorkas die Luft einsog. Stille. Dann die zitternde Stimme von Dorkas: :»Das da – dieses – Teil, ist alles andere. Aber es ist nicht, ich wiederhole nicht, nie und nimmer, nie gewesen und wird es nie sein, das peladianische Fragment!«

Wie vom Donner gerührt stand Tony und schaute auf den Tisch und dann auf Dorkas und auf Little.

Dorkas fuchtelte mit den Armen und war rot angelaufen. Seine Stimme war leise, aber von einer Heiserkeit, die seinen Zorn besser zum Ausdruck brachte als jedes noch so laute Gebrüll.

»Das Ding da ist spätrömisch, das sieht doch ein Idiot auf den ersten Blick. Zwischen diesem – diesem Machwerk und dem peladianischen Fragment liegt gerade mal ein Jahrtausend und noch ein halbes.«

Tony wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Das ist nicht möglich. Auf dem Ausstellungsplatz war dieses Objekt eindeutig als peladianisches Fragment bezeichnet.«

Dorkas lachte bitter. »Wer wollte sich diesem Argument widersetzen. Ein Pappschildchen, das ist es gewesen? Oder vielleicht gerade mal ein Zettel mit Schreibmaschinenschrift. Wie lange braucht man, um so etwas auszutauschen? Reden wir hier von Sekunden oder sollten wir nicht schon zu Zehntelsekunden übergehen?«

Hatte sich Tony Tanner jemals im Leben derart geschämt? Wenn ja, dann konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Und das war gut so. Er zuckte hilflos die Achseln. »Gibt es hier im Hause irgendeine Flüssigkeit, mit der man sich möglichst schnell ins Delirium saufen kann?«

Dorkas schaute stumpf vor sich hin, dann schlug er Tony auf die Schulter. »Kopf hoch, morgen sehen wir weiter. Und irgendwo muss ich auch noch eine halbe Flasche Cognac haben, falls Sie bei Ihrem Vorhaben bleiben.«

 

Tony hasste Cognac und blieb bei seinem Vorhaben. Nach einer dreiviertel Stunde begann er weinerlich zu lallen, nach einer weiteren halben Stunde schnarchte er mit offenem Mund in einem Sessel. Es war nicht allein diese Geräuschkulisse, die Dorkas und Little nicht schlafen ließ.

Dorkas, das stellte Little besorgt fest, war angeschlagen. Er gab sich nicht einmal mehr die Mühe, seinen deprimierten Zustand zu verbergen. Er schlurfte mit Altmänner-Schritten durch die Wohnung, schaute aus dem Fenster, zog sich wieder in sein Schlafzimmer zurück und war nach einigen Minuten wieder unterwegs. Zuletzt schaltete er das Licht in der Küche an und betrachtet die Diebesbeute des Tony Tanner.

Spätrömisch, das war sofort zu erkennen. Und dennoch war es ein seltsames Werk. Eine nackte gehörnte Gestalt hieb mit einem Schwert die Maschen eines Netzes durch, aus dem sich monströs geformtes Getier der Tiefe ergoss. Etwas erweckte Dorkas’ Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor und ließ seine Fingerspitzen leicht über die Oberfläche des Reliefs gleiten.

Die Hörner der Männergestalt waren auf beiden Seiten abgebrochen. Zuerst hatte er es für eine Beschädigung gehalten. Nun war er sich sicher, dass der Künstler diesen Effekt von Anfang an gewollt hatte. Aber welche Gestalt mochte das sein?

Dorkas überlegte, ohne ein Ergebnis. Dann fiel ihm ein Titel eines Goya-Werkes ein: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Dieser Satz hatte nichts mit dem zu tun, was er jetzt vor sich sah, und dennoch arbeiteten die Worte in Dorkas weiter, veränderten sich und formten sich um. »Der verstoßene Gott befreit die Monster der Tiefe.«

Dorkas hörte die Stimme und registrierte erst mit Verzögerung, dass es seine eigene war. »Das Netz«, flüsterte etwas. Erschrocken fuhr Dorkas herum und stieß mit dem Ellbogen gegen Little, der unbemerkt hinter ihn getreten war.

»Das Netz«, stammelte Little. »Das Netz – diese Fäden, das waren die Maschen eines Netzes. Sie haben das Netz in der Hand!«

»Ja«, sagte Dorkas düster. »Genau das ist es. Sarah Hamilton hat versucht, das Netz zu zerschneiden. Ihre verdammten Steinsetzungen sollten wie ein Schwert wirken. Ja, das muss es sein.« Dorkas setzte sich auf einen Küchenstuhl und versank in stumme Überlegung. Dann fuhr er wieder hoch.

»Das ist es. Die Pfähle, die der Pharao mit sich führte, die Reliefs in der Grabkammer …« Vorbei an dem verständnislosen Little sauste Dorkas zu dem Sessel, in dem Tony schnarchte.

Dorkas riss Tony am Kragen hoch und schüttelte ihn. Tonys Lider öffneten sich einen Spalt und ließen zwei Augen erkennen, die an die verschmutzten Scheiben einer lange ungenutzten Industriehalle erinnerten. Dorkas öffnete seinen Griff, und mit einem lauten Protestschnarcher plumpste Tony zurück in den Sessel. Er fuchtelte ein wenig mit Armen und Beinen und fand dann eine Position, die ihm gelegen zu sein schien.

Nachdem er Tony mit einer Wolldecke versehen hatte, kehrte Dorkas in die Küche zurück.

»Sie sind sicher?«, fragte er Little.

»Absolut. Ich weiß es, fragen Sie mich nicht, wieso, aber ich weiß, dass es so ist. Es gibt irgendetwas, das – aber ich brauche mich nicht zu wiederholen.«

Dorkas ging unruhig auf und ab. Etwas fehlte noch. Etwas war noch nicht logisch. Vor der Steinplatte blieb er stehen und murmelte vor sich hin. Was sollte diese Gestalt mit den abgebrochenen Hörnern darstellen? Einen Gott? Einen Teufel? Keines von beiden, denn sonst wären diese Hornstümpfe nicht gewesen. Ein gefallener Gott, verwiesen aus den Gefilden der Ewigkeit und dennoch nicht ohne Kraft und Willen. Einer, der die Ordnung der Dinge bekämpft. Die Ordnung des Kosmos, welche Ungeheuer in Schach halten konnte.

Dorkas kratzte sich am Kinn. Er schaute auf Little und schaute wieder auf das Relief.

»Das ist es!«, beschied Dorkas dann. »Sie zerstören das Alte und bauen etwas anderes auf. Das alte Netz fesselt sie, das neue lässt sie frei. Aber worüber reden wir eigentlich? Was bedeuteten diese Netze eigentlich …?«

Nach einem Räuspern und einigen vergeblichen Ansätzen, bei denen ihm die Stimme versagte, antwortete Little: »Fäden, die sich über die Landschaft ziehen – vielleicht auch Drähte – Leitungen – Energiekabel – vielleicht habe ich mich getäuscht, vielleicht halten sie ja nicht das Netz, sondern das Netz hält sie – versorgt sie mit Energie …«

»Das muss kein Widerspruch sein.« Beim Stichwort Energie hatte etwas in Dorkas Überlegungen gezuckt. Er eilte in den Nebenraum und machte das Licht an.

Tony fuhr aus dem Schlaf, brabbelte einen Protest, der an Lucille gerichtet zu sein schien, und fiel wieder in tiefen und lauten Schlaf.

Dorkas raffte Papier und Karten zusammen und kehrte zu Little zurück. »Ausgehend von der Hypothese, dass Sarah Hamilton, bewusst oder unbewusst, die Absicht hatte, eine Masche aus dem alten Netz zu zerstören, dann würde das bedeuten, dass sich …«

Die Karten raschelten und purzelten zu Boden, als sich Dorkas nervös durch den Haufen zu dem gewünschten Blatt durchwühlte. Er verglich, maß mit gespreiztem Daumen und Zeigefinger, und blieb dann stehen, beide Arme auf den Tisch gestemmt wie ein Feldherr, der sich gerade seiner verlorenen strategischen Position bewusst geworden ist. Er wendete den Kopf zu Little.

»Ich hatte nicht erwartet, dass die Sache solche Dimensionen hat.«

»Welche Dimensionen?«

»Nennen wir es einfach global. Jeder Idiot führt heute diesen Begriff im Mund. Aber ich fürchte, und ich wünschte es wäre anders, ich fürchte, in diesem Fall hat der Begriff seine Berechtigung. »Er rieb sich die Nase und dann gähnte er und schaute auf die Uhr.

»Trotz dieser Lärmquelle da hinten werde ich jetzt versuchen zu schlafen. Im Grunde können wir sehr zufrieden sein.. Das peladianische Fragment hätte uns nicht halb so weit gebracht. Schade, dass wir es nicht früher erkannt haben. Sonst hätte sich Herr Tanner den morgigen Kater erspart.«

Ende des 3. Bandes