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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Der Kammerdiener des Maharadschas – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Der Kammerdiener des Maharadschas

1. Kapitel
In Warbattys Zelle

Cecil Warbatty saß im Gefängnis von Lucknow als Untersuchungsgefangener.

Das Unwahrscheinliche war Tatsache geworden: Harst hatte seinen Gegner nun endgültig besiegt!

Aber Harst traute der Zelle ebenso wenig wie den Gefängniswärtern, obwohl das große Zentralgefängnis erst wenige Jahre stand, ganz modern eingerichtet und das Personal nach Inspektor Greapers Angaben alterprobt war.

Harst hatte sich die Zelle vorsichtshalber selbst angesehen, und zwar gleich am Nachmittag, der der Gefangennahme Warbattys folgte. Gegen fünf Uhr geleitete Greaper uns wie verabredet in den Riesenbau, der jeder europäischen Metropole Ehre gemacht hätte. Der Inspektor war offenbar auch sehr stolz auf diese modernste Errungenschaft Lucknows, zeigte uns beim Durchschreiten der weiten Gänge und Stockwerke dies und jenes, was ihm besonders praktisch dünkte, und meinte wiederholt lächelnd: »Verehrtester Master Harst, von hier rückt niemand aus! Niemand! Sechs Jahre wird das Zentralgefängnis jetzt benutzt und noch nicht ein einziger Gefangener ist von hier entwichen – noch nicht einer!«

So oder so ähnlich lauteten seine Sätze stets, mit denen er Harsts Besorgnis, Warbatty könnte irgendwie ausbrechen, zu beschwichtigen suchte.

Der Wärter, ein Hindu, öffnete uns die Zelle Nr. 9 im Flügel für Untersuchungsgefangene.

Trübe Erinnerungen tauchten in mir auf. War ich doch selbst einer von denen gewesen, die der bürgerlichen Gesellschaft den harmlosen Kleinkrieg erklärt hatten und dafür eingesperrt worden waren. Wenn ich auch nur als Taschendieb mich betätigt, nachdem ich die Schmierenschauspielerei wegen allzu starken, ständigen Hungers aufgegeben hatte, ich blieb ein Gezeichneter! Gewiss, all das lag jetzt weit, unendlich weit hinter mir. Harst hatte mir damals die rettende Hand entgegengestreckt, er war es, dem ich das neue Leben verdankte – als anständiger, ehrlicher Mensch.

Seltsamer Gegensatz! Der frühere Taschendieb war nun ein Freund und Gehilfe des berühmtesten Liebhaberdetektivs, den es zurzeit gab, des berühmtesten Detektivs überhaupt. Man brauchte nur in die Zeitungen zu sehen: Überall fand man dies oder jenes über den merkwürdigen Kampf zwischen Verbrecher- und Polizeigenie, zwischen Warbatty und Harst.

Blitzschnell schoss mir das durch den Kopf, als ich hinter Harst nun die Zelle betrat.

Warbatty als vielfacher Mörder genoss nicht das Vorrecht der Untersuchungsgefangenen, nicht gefesselt sich frei in dem kleinen, hellen Raum bewegen zu dürfen. Er trug Handschellen, zwischen denen eine Stahlstange von vierzig Zentimeter Länge hing. Ebenso waren seine Füße mit Stahlfesseln versehen, von denen eine dünne Kette zu einem Ring unter dem Tischchen hinlief, an dem er nun saß und trotz der Handschellen einen großen Bogen bereits zur Hälfte mit Zahlen, Strichen, Punkten und hieroglyphenähnlichen Zeichen bedeckt hatte. Er legte den Federhalter hin, korkte die Tintenflasche (sie enthielt eine ungiftige Tinte, hellblau) zu und erhob sich, wie es die Vorschrift verlangte.

Harst beachtete seinen Gegner nicht. Aufmerksam musterte er nun jede Einzelheit der Zelle.

Ich beobachtete Warbatty. Jetzt ohne Schminke, Perücke und falschen Bart hatte ich das Gesicht eines kleinen, schmächtigen Mannes vor mir, dessen Bartlosigkeit und glatte Haut einen Rückschluss auf das Alter sehr erschwerte. Die schmalen Lippen und ein brutal breites Kinn, dazu eine eckige Stirn und dünne, hellblonde Augenbrauen verrieten vielleicht etwas von dem Charakter dieses Menschen, der seinen Weg mit Toten gezeichnet hatte, seit wir hinter ihm her waren. Gerade diese Augenbrauen, die wie lächerliche helle Striche über den großen, farblosen Augen lagen, wirkten eigenartig unschön. Sie passten nicht zu den sonstigen Einzelheiten, nicht zu der schmalen, messerscharfen, ganz leicht gebogenen Nase und den dicken Muskelwulsten, die sich als Falten geradezu drohend von den Mundwinkeln zum Kinn hinzogen. Sie sahen wie die gemalten Brauen eines Puppenkopfes aus, und man war daher desto unangenehmer berührt von dem Ausdruck der Augen, der ganz deutlich ironische Geringschätzung widerspiegelte.

Inspektor Greaper ärgerte sich offenbar über diese Blicke, die erst eine Weile auf Harst ruhten und dann uns mit erhöhter Geringschätzung streiften.

»Was schreiben Sie da, Warbatty?«, fragte er streng.

»Mein Testament, Herr Inspektor«, erwiderte der große Verbrecher mit übertrieben tiefer Verbeugung.

Harst drehte sich interessiert um. »Ihr Testament?«, meinte er. »Wohl ein ähnliches wie damals in Madras?«

»Vielleicht, Master Harst, vielleicht …«

»Oh, Sie werden Ihre Frechheit bald einbüßen!«, schnaubte Greaper ihn an. »Mensch, wo nehmen Sie nur diese Abgebrühtheit her?«

»Ich bin weder frech noch abgebrüht, Herr Inspektor. Nur ein schlechter Charakterbeurteiler kann mich so einschätzen. Doch – bei Master Harst finde ich dafür mehr Verständnis. Er weiß, dass ich unzählige Male Gelegenheit gehabt hätte, ihn durch einen Messerstich, eine Revolverkugel oder eine Bombe beseitigen zu können. Wer wie ich auf so grobe, unfeine Mittel, einen Gegner loszuwerden, verzichtet, der steht für Durchschnittsgeister unter dem Horizont ihrer Urteilskraft.«

Greaper lachte kurz auf, zuckte die Achseln.

»Größenwahn!«, sagte er zu Harst. »Ich habe bereits den Irrenspezialarzt Professor Makkaray gebeten, Warbatty häufiger hier zu besuchen. Sie selbst, Master Harst, haben ja geäußert, dass Warbatty sehr wahrscheinlich nicht ganz zurechnungsfähig ist.«

»Ich bin auch geistig nicht normal«, warf Cecil Warbatty sehr bestimmt ein. »Als Arzt vermag ich das zu beurteilen.«

»So. Sie geben also zu, Arzt zu sein. Dann nennen Sie uns doch auch Ihren richtigen Namen«, sagte Greaper schnell.

Warbatty lächelte. »Arzt bin ich. Gut. Mein Name? Bitte – mag Master Harst den doch irgendwie aufspüren. Ich will ihm etwas helfen: Ich bin sogar ein sehr angesehener Arzt, wohne in einer Hafenstadt, besitze dort eine prächtige Villa, besitze eine liebende Frau und reizende Kinder. Suchen Sie mich nun in allen fünf Erdteilen – bitte!«

Höhnischer Triumph ließ seine Blicke aufleuchten.

Harst schaute Warbatty fest an. »Ist das alles wahr?«, fragte er. »Sie nicken. Ich glaube Ihnen. Ich werde Ihren richtigen Namen ermitteln, Warbatty! Verlassen Sie sich darauf!«

Der seltsame Mensch, für den auch Harst genauso wie ich etwas wie Sympathie empfand, wurde merklich unruhig. Plötzlich bat er nun in gänzlich verändertem Ton:
»Versprechen Sie mir eins, Harst, alter Gegner, dass die meinen nie erfahren, was ich trieb, wenn ich angeblich zu Forschungszwecken in der Welt umherreiste. Meine arme Frau liebt mich über alles. Meine Kinder hängen an mir. Versprechen Sie es mir!«

»Es sei! Warbatty, weshalb in aller Welt dieses Verbrecherdasein? Weshalb?« Harst redete eindringlich und gütig.

Abermals etwas ganz Merkwürdiges.

Ein Zug von hilfloser Traurigkeit erschien auf Warbattys magerem Gesicht. »Weshalb?«, flüsterte er. »Weshalb? Ja – wenn ich das wüsste!«

Schauspielerte er nur? Es war schwer zu entscheiden.

Er hatte den Kopf gesenkt.

Ich sah, dass Harst ihn genau beobachtete. Jedenfalls war diese Szene so eindrucksvoll, dass Minuten in lautlosem Schweigen verstrichen.

Dann schaute Warbatty auf. »Bitte ersparen Sie mir die Quälerei einer Untersuchung durch Irrenärzte«, sagte er zu Greaper. »Ersparen Sie sie mir – ich flehe Sie an! Meine Nerven würden das nicht ertragen. Der Kampf mit Harst hat mich erschöpft. Ich würde wahnsinnig werden, wenn …«

Inspektor Greaper machte eine bedauernde Handbewegung. »Tut mir leid. Darüber hat der Untersuchungsrichter zu bestimmen. Wir können nun wohl gehen, Master Harst …«

Wir verließen die Zelle. Die Tür fiel lautlos zu.

»Na, sind Sie nun beruhigt?«, meinte Greaper zu Harst. »Eine Zelle wie die dort lässt niemanden gegen unseren Willen heraus.«

Harst schwieg.

»Aber Verehrtester!«, sprach Greaper kopfschüttelnd. »Fürchten Sie wirklich noch immer, dass …«

»Abwarten!«, fiel ihm Harst ins Wort. »Ich war weniger besorgt, als ich die Zelle betrat, als jetzt, wo ich sie besichtigt und Warbatty von einer neuen Seite kennen gelernt habe.«

»Wie soll ich das verstehen?« Der Inspektor machte plötzlich ein recht ernstes Gesicht.

»Warbatty, wette ich, hat bereits einen Plan entworfen, wie er fliehen kann. Er spielte vorhin Komödie. Diesen Menschen habe ich noch immer unterschätzt. Nun, ich werde vorläufig hier in Lucknow bleiben und auch meinerseits aufpassen. Fragen Sie jetzt nicht weiter, bester Inspektor. Ich kann mich vielleicht auch irren.«

Wir wohnten nun im Hotel Viktoria im Europäerviertel. Wir hatten zwei Zimmer im ersten Stock mit großem Balkon und Aussicht auf den Gumtistrom mit seinem lebhaften Schiffsverkehr.

Wir waren vom Zentralgefängnis in einem der leichten Ponywägelchen zum Hotel gefahren, da wir uns für die Abendgesellschaft bei dem englischen Gouverneur Lord Davenprooft umkleiden mussten, der uns zu dem in seinem Palais stattfindenden Gartenfest eingeladen hatte – auch ein Beweis, welches Ansehen Harst nun in der ganzen zivilisierten Welt genoss.

Harst lernte damals so zahlreiche hohe Beamte, Großkaufleute und indische Nabobs kennen, dass wir für die nächsten vier Tage mit weiteren Einladungen geradezu überschüttet wurden.

Am fünften Tag morgens nach einer etwas wilden Sektkneiperei bei dem Oberbefehlshaber der englisch-indischen Truppen in Lucknow erklärte Harst beim Frühstück, er würde noch heute abreisen, nach Baroda, wo er zur Tigerjagd eingeladen war.

»Lieber Alter, setz dich also sofort hin und schreibe Entschuldigungsbriefe an all die Leute, die mich ihren Gästen in Freiheit dressiert als Überdetektiv vorführen wollten. Unser Zug geht um sechs Uhr nachmittags.«

Er gähnte herzhaft. »Ich wünschte, Warbatty wäre noch in Freiheit«, fügte er dann hinzu. »Wie entsetzlich langweilig ist doch das Leben ohne ihn …«

Nun, ich war darüber gerade entgegengesetzter Ansicht! Aber ich behielt sie für mich.

Der braune Zimmerkellner kam und meldete Inspektor Greaper.

Harst wurde lebendig. »Du, sollte unser Cecil etwa bereits ausgekniffen sein? Ich hatte eigentlich gedacht, er …«

Da erschien Greaper in bester Laune, schüttelte uns die Hände, setzte sich, nahm eine Zigarette und meinte: »Oh, wir haben Warbatty bald soweit! Erst hat Professor Makkaray ihn bearbeitet, dann der Doktor Tompson, und heute trifft aus Benares der Oberspezialist für kriminelle Irre, der Professor Haberton aus Kalkutta hier ein, der gerade in Benares weilte. Warbatty wird, so hoffe ich, in den nächsten Tagen ein umfassendes Geständnis ablegen und uns dadurch einen Riesenprozess ersparen …«

Er redete weiter, bis Harst ihn plötzlich unterbrach: »Eine Frage. Dass Makkaray und Tompson Warbatty untersuchen sollten, wusste ich ja. Gestern aber erwähnten Sie von Professor Haberton noch keine Silbe, als wir uns vormittags sprachen.«

»Ganz recht. Aus dem einfachen Grund, weil Haberton erst gestern Abend sich dem Untersuchungsrichter telegrafisch zur Verfügung stellte – aus rein wissenschaftlichem Interesse. Richter Dakberty hat sofort zurückdepeschiert, er würde sich freuen, wenn auch Haberton sein Urteil über Warbatty abgeben wollte. Denn mit dem, was Makkaray und Tompson schriftlich über Ihren Gegner geäußert haben, Master Harst, lässt sich ja für das Strafverfahren nichts anfangen – gar nichts! Alte Geschichte: zwei Ärzte – mindestens drei Meinungen! Tompson sagt: unzurechnungsfähig, beginnende Gehirnerweichung und so weiter. Und Makkaray: verantwortlich für jede Kleinigkeit – sehr intelligent – sehr habgierig, eitel – und so weiter. Bin nur neugierig, was der berühmte Haberton ausklügeln wird!«

»Wann kommt er an?«, fragte Harst.

Greaper sah nach der Uhr. »Der Zug von Benares ist vor einer halben Stunde eingetroffen.«

Harst erhob sich. »Bitte warten Sie, Greaper. Ich ziehe mich schnell fertig an. Dann wollen wir zum Zentralgefängnis fahren. Ich möchte Haberton sprechen. Schraut, bitte, begleite uns. Die Absagen haben Zeit.«

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