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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Das Netz der Eisernen Seite – Teil 2

Eisenbahnfahren, fand Dorkas, war eine durchaus angenehme Sache.

Man flegelte sich in einem leidlich bequemen Sessel und rührte keinen Finger, während die Landschaft an einem vorbeigetragen wurde. Das gleichförmige Geräusch der Räder, der Rhythmus der Telegrafenstangen neben dem Gleis und das immer neue, sanfte Auf- und Abschwingen der Leitungen versetzten Dorkas in einen angenehmen Zustand der Gelassenheit.

Er hing seinen Gedanken nach, während er durch Frankreich und die Schweiz reiste, und jeder Gedanke war so schön und zugleich so unwichtig wie das Bild vor dem Abteilfenster, dem im nächsten Moment ein anderes Bild folgen würde.

Manchmal hängte sich seine Aufmerksamkeit an eine Einzelheit in der Welt da draußen, und er registrierte Angler an einem Flussufer oder einen qualmenden Traktor, der auf einem Acker Furchen zog.

Mit Ehrfurcht betrachtet Dorkas die ersten Ausläufer der Alpen und fühlte Anflüge von Heroismus, wenn er an Hannibals Alpenüberquerung dachte. Leider beschränkte sich das europäische Zentralgebirge nicht auf ein Dasein in Schönheit, sondern brachte durch eine Schlammlawine den Fahrplan diverser Bahngesellschaften durcheinander.

Auf seine besorgten Nachfragen erhielt Dorkas die routinierten Beruhigungen der Schaffner, und so nahm er wieder Platz und ließ die Dinge geschehen. Mit mehrstündiger

Verspätung traf der Zug auf italienischem Gebiet ein, aber Dorkas hatte inzwischen den Speisewagen entdeckt und war guter Dinge. Der Zustand hielt solange an, bis er auf einem Bahnsteig vor einem Fahrplan und der Notwendigkeit stand, einem ungewohnten Haufen von Zahlen Informationen über seinen weiteren Reiseweg zu entnehmen.

Ein freundlicher Bahnangestellter half ihm weiter und setzte Dorkas in den letzten Regionalzug, der kurz nach Mitternacht einen Sackbahnhof erreichen sollte. Von dort waren es noch einige Kilometer bis zu seinem Ziel, die er mittels Taxi zu überbrücken hoffte.

Die Hoffnung schwand, als er merkte, wie sich der Waggon bei jedem Aufenthalt leerte, bis Dorkas schließlich mit seinem Koffer und einem höchst unbehaglichen Gefühl gänzlich allein im Wagen saß. Regen prasselte gegen die Scheiben, in denen sich ein besorgter Dorkas und viele ungenutzte Sitzbänke spiegelten.

Dorkas drückte die Nase an die Scheibe, nutzte die Hände als Lichtschutz und spähte hinaus. Nichts war zu erkennen, lediglich manchmal vorbeihuschende Signale zeigten an, dass der Zug sich überhaupt noch bewegte.

Ein Auto stieß seinen Lichtkegel durch die Regenschleier, in der Ferne schimmerten einsame Lichter, und dann waren auch sie von der Nacht verschluckt. Dorkas machte sich auf die Suche nach dem Schaffner. Er ging durch die ruckelnden Wagen und fand nur gähnend leere Abteile. Außer ihm schien keine Menschenseele mehr im ganzen Zug zu sein.

Dorkas fuhr sich mit dem Finger in das Hemd und lockerte den Kragen. Ihm war unbehaglich. Nun gut, beruhigte er sich selbst, der Schaffner hatte es vorgezogen, früher Arbeitsschluss zu machen, weil seit Generationen um diese Uhrzeit auf dieser Strecke niemand mehr zustieg, dessen Fahrkarte zu kontrollieren war. Alles hatte seine natürliche Erklärung.

Mit einiger Mühe fand Dorkas sein Abteil und seinen Koffer wieder und hockte sich auf die Bank.

Die Lok stieß einen schrillen Pfiff aus, der ihn zusammenzucken ließ. Tunnelwände warfen die Zuggeräusche zurück, es gab ein lautes Zischen und Rauschen, dann erreichte der Zug das Ende des Tunnels und der Lärm versiegte. Die Strecke war jetzt merklich kurviger. Immer wieder kreischten die Räder, wenn die Radkränze in den engen Biegungen an die Schienen gedrückt wurden.

Der Blick auf die Uhr half Dorkas auch nicht. Es war weit nach Mitternacht, der Zug hatte Verspätung.

Bremsenquietschen schreckte Dorkas auf. Der Zug lief in einen Bahnhof und Dorkas begann, seinen Koffer zur Tür zu schleifen, als er die Tafel mit dem Stationsnamen sah. Er musste im Zug bleiben, hier war noch nicht die Endstation. Er ließ den Koffer mitten im Gang stehen und schaute aus dem Fenster.

Der Bahnhof war verwaist, nirgendwo bewegte sich etwas.

Dorkas hoffte, wenigstens im Schalterraum eine Bewegung zu entdecken, aber an der Glastür hing ein Schild und dahinter wurde der Raum lediglich durch eine flackernde Neonröhre erhellt. Vorne am Zug dröhnte die Diesellok im Leerlauf, und der schwere Regen trommelte auf das Plexiglasdach des Bahnsteigs. Die Luft war kühl, sein Atem kondensierte zu kleinen Wolken.

Irgendwo muss eine Wetterscheide sein, dachte Dorkas, den ganzen Tag blauer Himmel und nun dieses Wetter.

Der Wind frischte auf und trieb ihm Staub in die Augen. Dorkas zuckte zurück, als wäre das ein persönlicher Angriff gewesen, schob das Fenster zu und setzte sich wieder. Von draußen hörte er, wie der Motor der Lok lauter wurde, dann ruckte der Zug an.

Die Bahnhofslichter glitten vorbei und verschwanden.

Dorkas schob sich eines dieser unvergleichlichen, harten Pfefferminzkügelchen in den Mund, aber auch das konnte ihn überhaupt nicht beruhigen. Dann fiel Dorkas ein, dass nicht jeder Mitreisende auch ein freundlicher Mitreisender war, und so war er hin- und hergerissen von seinem Wunsch, irgendwo Spuren menschlicher Anwesenheit zu erblicken und der Angst, Opfer eines Überfalls mit fürchterlichen Metzeleien zu werden. Langsam verdrängte eine dumpfe Schläfrigkeit die hellwache Aufregung, in die ihn seine Reise versetzt hatte.

 

Dorkas fielen die Augen zu. Er bemerkte, wie sein Körper widerstandslos dem Rütteln und Schaukeln des Zuges folgte. Sein Kopf sank zur Seite, einmal noch weckte ihn sein eigenes Schnarchen wieder auf. Dann döste Dorkas ein, und wie Nebel aus einem schwarzen Moor stiegen Bilder auf und Gestalten huschten vor seinen Augen daher. Er spürte die Angst seiner Kinderzeit, die Angst jedes Kindes, die Angst vor dem Alleinsein, vor dem Verlassenwerden, vor dem Zerbersten der so sorgsam gehüteten Welt, hinter deren täglichen kleinen Gewohnheiten er die Mächte des Chaos ahnte, die ihn in fiebrigen Albträumen bedrängten.

Dieses Schreckliche, dieses Unfassbare kam so nah, dass es ihm den Atem nahm und ihm das Blut in den Adern gefror, er konnte es körperlich empfinden, wie es gegen die hauchdünne Haut drängte, welche die letzte Grenze zu Dorkas’Welt bildete. Er konnte die monströsen Gestalten sehen, wie sich ihre Hässlichkeit unter der Folie abzeichnete – das Gesicht seiner Mutter, wenn sie wütend auf ihn war und ihm klar machte, wie wenig Mühe es ihr bedeutete, alle Schleusen kindlicher Ängste zu öffnen, auf sanfte Art die Katastrophe herbeizuführen; die Augen seines Vaters, die ihn unbeteiligt anschauten, völlig ungeregt und kalt, was ihn in seine Einsamkeit zurückstieß. Und nun hatten sie ihn in diesen Zug gesetzt, ganz alleine, er raste durch die Nacht, und die Landschaft wurde von Ungeheuern bewohnt, die jeden Menschen zu blutigen Fetzen zerrissen und mit ihren rot schimmernden Augen nur auf ihn warteten.

Er konnte hören, wie sie mit ihren Krallen über das Blech des Wagens kratzten, wie sie näher kamen, immer näher, mit ihren stinkenden, geifrigen Mäulern, und wie sie voller Triumph schrien. Schweißnass fuhr Dorkas hoch. Er hatte deutlich einen Schrei vernommen.

Dann warf etwas seinen Körper nach hinten. Dorkas prallte gegen die Bank und rutschte nach unten. Der Zug bremste. Er hatte die Bremsen gehört. Da schimmerte auch schon Licht, Gleise und Weichen glänzten mit nassem Stahl. Das Fenster, eben noch ein Spiegel des Wageninneren und wie zugeschüttet von Dunkelheit, öffnete sich auf den kleinen Bahnhof.

Noch halb verschlafen in seinem wirren Traum befangen, an den er sich fast schon nicht mehr erinnern konnte, schleifte Dorkas seinen Koffer zum Ausgang, blieb in der Tür stecken und riss und zerrte, bis das voluminöse Ding loskam und ihn unter seinem Gewicht fast erschlagen hätte.

Pressluft zischte, dann schlug die Tür automatisch zu. Aus einem Lautsprecher erklang ein abgerissener, unverständlicher Name, aber Dorkas’ Herz jubelte. Hier war gewiss ein Bahnangestellter, den er um Rat fragen konnte. Er schaute sich um. Irgendwo wurde klappernd ein Rollladen heruntergelassen. Bevor Dorkas auch nur einige Meter mit seinem Koffer zurückgelegt hatte, hörte er das Anspringen eines Zweitakters, und dann schnurrte eine Vespa los und verschwand zwischen hallenden Häuserwänden.

Im Zug gingen inzwischen die Lichter aus, die Lok dröhnte und legte einen Schleier von Abgasen über den Bahnsteig, dann fuhr der Zug rückwärts aus dem Bahnhof hinaus und verschwand bald hinter einer Kurve.

Dorkas schaute den Lichtern nach und empfand deren Verschwinden mit der gleichen Ohnmacht, mit der ein Schiffbrüchiger die Vorbeifahrt eines fernen Schiffes sehen mochte. Mit seinem Koffer, den er ohne die geringste Rücksicht auf sein Gewicht und im blinden Vertrauen auf die europaweite Existenz von Dienstmännern gepackt hatte, kämpfte er sich eine Treppe hinunter, durch einen düsteren Tunnel, und stand alsdann auf dem Bahnhofsvorplatz.

Welcher Idiot hatte jemals etwas vom Charme des Südens gefaselt? Dorkas wünschte derartigen Schönrednern und Reisebeilagen-Schreiberlingen, dass sie auch dereinst einmal nach Mitternacht auf just diesem Platz stehen mussten, auf dem er sich jetzt befand.

Nasse, dunkle Fassaden mit verschlossenen Fensterläden umrahmten den ausgestorbenen Platz. Einige schmale Gassen zweigten ab und verliefen sich in der Dunkelheit, während der Platz von einigen trüben Laternen erhellt wurde. Der Wind peitschte den Regen quer über den Platz, in der Ferne kollerte Gewitterdonner und wurde von Berghängen vielfach knurrend zurückgeworfen.

Erschöpft zerrte Dorkas seinen Koffer aus der Pfütze, in die er ihn platziert hatte, und machte sich Gedanken über die Wasserdichtigkeit des guten Stücks. Wahrscheinlich wanderte der italienische Regen via italienischer Pfütze schon in seine guten britischen Wollsocken.

Dorkas schaute sich nach einem trockenen Platz um, aber der Wind schien den Regen selbst unter den Bogengang des gegenüberliegenden Hauses zu treiben. So blieb Dorkas stehen, ließ sich den Regen in das Gesicht schlagen und registrierte, wie seine Kleidung mit jeder Minute schwerer und nasser wurde. Es war eine unangenehme halbe Stunde, in der er fröstelnd, die Arme verbittert gekreuzt auf einem Fleck stand und manchmal mit den Füßen aufstampfte, um die eiskalten Zehen wieder zu beleben, in ständiger Hoffnung auf ein von irgendwo herankommendes Taxi.

 

Mein Gott, was für ein Land – Vulkanausbrüche, Erdbeben, Erdrutsche, Überschwemmungen, Dauerregen, die Mafia, Streiks, dachte Dorkas. Wie hatten die Italiener sich bloß dieses sonnige Illustrierten-Image zulegen können? Da war es sicherlich viel angenehmer, sich im schottischen Hochland aufzuhalten.

Durch das Heulen des Windes, das Regenprasseln und das Donnern, das immer näher kam, drängte sich ein anderes Geräusch. Dorkas horchte auf. Tatsächlich, es war ein Motor.

Ein Auto. Der Klang, der schon jeden Ökostudenten im ersten Semester zum sofortigen Großdemoaufruf gegen Lärmsmog veranlasst hätte, erschien Dorkas jetzt süßer als Nachtigallengesang. Und er hatte Glück. Über die breite Hauptstraße rollte ein schwerer Wagen, hielt am Rand des Platzes und fuhr dann bis zu Dorkas.

Der Fahrer stieg aus und öffnete den Kofferraum, während Dorkas mit größter Selbstverständlichkeit seinen wasserdurchtränkten Koffer hineinwuchtete und auf der Rückbank Platz nahm. Man holte ihn ab, er hatte es fast nicht mehr erhofft. Im Inneren des Wagens war es angenehm warm.

Dorkas kuschelte sich in eine Ecke der Lederbank und streckte die Beine aus. Ein Hoch auf dieses Produkt der dekadenten westlichen Technik.

Der Fahrer stieg ein, wendete den Wagen und nahm dann die Straße im flotten Tempo unter die Räder.

Das monotone Motorengeräusch und das Klacken der Scheibenwischer wiegten Dorkas sofort in den Schlaf. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, und der Fahrer musste sich auf die Straße konzentrieren. Was also lag näher, als sich etwas Ruhe zu gönnen. Und schon war Dorkas wieder sanft eingeschlummert.

Ein kräftiges Rütteln an seiner Schulter weckte ihn.

»Sind wir da?«, fragte Dorkas schlaftrunken.

»Wir sind am Ende des Weges, Signor«, sagte der Fahrer.

Dorkas blickte sich um. Im Scheinwerferlicht konnte er nur Baumstämme und das schmale Band eines Wirtschaftsweges erkennen. So hatte er sich sein Ziel nicht vorgestellt. »Muss ich jetzt noch weit gehen«, erkundigte er sich kleinlaut.

»Sie müssen überhaupt nicht mehr gehen«, antwortete der Fahrer, und sein drohender Unterton wirkte auf Dorkas wie eine Aufputschpille. Er rutschte aus seiner halb liegenden Haltung in eine aufrechte Position und beugte sich dem Fahrer zu. Das silberweiße Haar des Mannes weckte in ihm eine Erinnerung, aber das war nur ein kurzer Moment, denn der Blick aus eisblauen Augen schien Dorkas aufzuspießen wie einen Käfer für die Insektensammlung.

Der Mann hatte die Innenbeleuchtung angeschaltet und betrachtete bewegungslos den nervös herumrutschenden Dorkas, der sich inzwischen eindeutig über die Rollenverteilung von Opfer und Täter klar geworden war.

»Was wollen Sie?«

Eine ausgemacht blöde Frage, sagte Dorkas zu sich selbst, nachdem er sie ausgesprochen hatte. Aber was sollte er sonst äußern? Er musste dieses Schweigen durchbrechen, diese bedrohliche Stille, in der er die Aggressivität und Wut seines Gegenübers förmlich knistern hörte.

Der Fahrer setzte zu einer Antwort an, überlegte dann doch eine Weile schweigend und holte dann einen Zettel aus der Tasche.

»Dieser Wisch hier hat mich eine Menge Geld gekostet. Als ich ihn zum ersten Mal in der Hand hielt, hielt ich es nicht für notwendig, ihn mitzunehmen. Und als ich ihn wiederhaben wollte, war der Preis gestiegen.«

»Ist das hier jetzt eine Sammlung für Not leidende Zettelsammler?« Dorkas konnte sich Frechheiten erlauben. Jetzt wo er den Mann sprechen hörte, mit einer kühlen Beiläufigkeit, die nichts mit der Welt zu tun hatte, in der Dorkas noch lebte, kannte er sein Schicksal. Seine Müdigkeit erlaubte es ihm, sein Todesurteil als Ende irdischer Belästigungen zu akzeptieren. Seine einzige Hoffnung war, dass es schnell ging und ohne überflüssige Schmerzen.

»Sie haben die falschen Freunde!«, sagte der Mann.

»Ich habe die falschen Chauffeure«, bemerkte Dorkas.

Der Mann zuckte mit keiner Wimper. Er war keiner, den man provozieren konnte. Mit einer schnellen Handbewegung entfaltet er den Zettel und hielt ihn Dorkas vor das Gesicht. Es war eine Passagierliste, wie Dorkas trotz seiner müden Augen sofort erkannte. »Sagt Ihnen dieser Name etwas?«

Dorkas war derart überrascht, dass er nach Worten suchen musste und wie ein Kind stammelte. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er sprach gegen einen großen Kloß in seinem Hals an.

»Ich wusste nicht, dass er in der Maschine war.«

»Die Maschine stürzte ab. Keiner überlebte.«

»Mein Gott, wir waren so lange zusammen. Wir haben fast täglich zusammengearbeitet. Und dann verschwand er plötzlich – spurlos.«

»Unfug!« Die Stimme des Mannes zischte vor Ungeduld. Blitzartig schnellte er vor, packte Dorkas’ Genick und drückte dessen Nase bis an den Zettel.

Dorkas japste und begann zu strampeln wie ein Kaninchen, das man vor dem finalen Genickschlag an den Ohren hochzieht. Das Wasser in seinen Schuhen spritzte an den Seiten hoch.

»Veralbern Sie mich nicht. Sie haben ihn gestern noch zum Flughafen gebracht. Ich habe Sie beide beobachtet.«

Der Mann schüttelte Dorkas, stieß ihn dann zornig zurück und nahm seine Hand fort.

Dorkas richtete sich stöhnend und mit schmerzendem Nacken wieder auf. Er hatte den Namen Tony Tanner gelesen. Es war unglaublich. Es war einfach unglaublich.

»Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie da zusammen sind?«

Nein, in diesem Moment wusste es Dorkas nicht mehr. Er überlegte, und ganz plötzlich, als wäre ein Nebel weggeweht und ließe nun einen breiten Weg sehen, erkannte er die Wahrheit. Was war er doch für ein Idiot. Er hatte sich ködern lassen. Er hatte eine unendlich wichtige Sache gefährdet, weil ein junger Schnösel im richtigen Moment mit dem richtigen Objekt in seinem Laden aufgetaucht war. Und er, Dorkas, der Obertrottel, taperte wie ein hungriger Honigbär in diese Falle hinein und vertraute diesem Fremden, ja empfand sogar so etwas wie Sympathie und Freundschaft für ihn.

Ha, es passte alles so gut zusammen. Man verschwindet für eine Weile, kommt dann mit zwei blauen Flecken und einer winzigen Information zurück. Jammert über all die Gefahren, die man überstanden hat, nistet sich bei dem gutmütigen alten Dorkas ein – wie hatte er nur auf diese hirnrissige Geschichte mit der Vergewaltigung reinfallen können und dafür dann noch einen Anwalt bezahlt! – und sammelt dann bei Dorkas genüsslich eine wichtige Grundsatzinformation nach der anderen. Tony Tanner, du Schwein. Du mieser Spion. Du Judas.

Dorkas wurde blass bei dem Gedanken, welchen Schaden er mit seiner Treuherzigkeit angerichtet hatte. Es war kaum wiedergutzumachen. Aber immerhin, das war tröstlich, wusste Tanner das Wichtigste noch nicht, ahnte mit Sicherheit noch nicht einmal etwas davon.

Dumm gelaufen, Tanner, aber zum Glück habe ich dir den entscheidenden Knopf noch nicht gezeigt.

»Nein«, antwortete Dorkas auf die Frage. Er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, aber der Mann hatte wieder in schweigender Ruhe gewartet.

»Etwas dürftig für jemanden, den man in seiner Wohnung beherbergt.«

»Er hat mich getäuscht. Völlig. Ich wusste nicht, dass er auf diesem Flug war. Und dass er nicht an Bord war …«

»Nun wissen Sie es.«

»Nun weiß ich es. Und ich sehe einige Dinge nun völlig anders.«

Der Mann beugte sich vor. »Das sollten Sie! Dieser Tony Tanner hat eine Tendenz, in seiner Umgebung verfrühte Todesfälle zu bewirken. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie über ihn wissen – auch wenn Sie es inzwischen anders sehen.«

Stammelnd gab Dorkas eine Einzelheit nach der anderen preis. Er hörte die eigene Stimme und wusste, dass er sich mit seinem Geschwafel eine kleine Gnadenfrist erarbeitete.

Seine Worte erklangen und verhallten und rieselten davon wie Sandkörner durch den Trichter einer Eieruhr. Schließlich verstummte Dorkas.

Der Mann stieg aus, ging um den Wagen und riss die Tür an Dorkas’ Seite auf. »Raus.«

Dorkas kletterte aus dem Wagen, kam ins Stolpern und fiel vornüber. Auf Händen und Knien gestützt, mit gesenktem Kopf, wartete er auf sein Ende.

Der Mann zog mit einem Griff das schwere Gepäckstück aus dem Kofferraum.

Dorkas wartete, und in jeder Sekunde hörte er schon den peitschenden Knall des Schusses, spürte den Einschlag der Kugel in seinen Körper und spürte, wie sich die Kugel ihren Weg durch Knochen und Gewebe bahnte.

Dorkas starb tausend Tode, seine Unterlippe begann unkontrolliert zu zittern. Aber er bettelte nicht um sein Leben und er war noch klar genug im Kopf, um stolz darauf zu sein, dass er dieses Fetzchen Würde wie eine zerschlissene Regimentsfahne über seinem Ende wehen lassen konnte.

 

Dorkas hörte den Wagen wegfahren, aber er brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass der Mann ihn nicht erschossen, erschlagen, erhängt oder ertränkt hatte. Nachdem er sich aufgerichtet und etwas Atem geschöpft hatte, stellte er fest, dass es kaum einen Unterschied machte, ob der Mann ihn hier in der Wildnis zurückließ oder ihn gleich umbrachte.

Der Regen war noch heftiger geworden, das Gewitter zog näher und erhellte manchmal mit grellen Blitzen die Landschaft.

Dorkas stand auf einer schmalen Asphaltstraße, die sich auf- und absteigend, aber ohne größere Biegungen durch einen Wald hinzog. In seiner Erschöpfung konnte Dorkas nicht anders, als sich auf den Koffer fallen zu lassen und im Regen sitzen zu bleiben. Er bemühte sich, das Geschehene einzuordnen. Die Gedanken rotierten in seinem Kopf.

Tony Tanner war auf dieser abgestürzten Maschine gebucht gewesen, aber er war nicht mitgeflogen. Ihm war klar, welchen Verdacht der Mann gegen Tanner hegte. Und Tanner war vermutlich jeder Perfidie fähig. Noch gestern hatte er ihm, als wäre es purer Zufall, einen Zettel mit der Schrift von Fritz Weiss auf den Tisch gelegt! Dorkas verbarg das Gesicht in den Händen und weinte, bis sein gesamter Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Fritz Weiss war in derselben Maschine geflogen wie Tony Tanner. Aber Tanner lebte noch und Fritz Weiss war tot. Immer und immer wieder hatte Dorkas diese bittere Einsicht vor sich hergeschoben. Er hatte ganze Romane erfunden, Schicksale, die jedem Frauenroman zur Ehre gereicht hätten, um das plötzliche Verschwinden seines Freundes zu erklären.

Und nun war die Gewissheit da, hatte ihn eingeholt und übermannte ihn. Dorkas wischte sich mit einem nassen Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht und erstarrte gleich darauf zur Salzsäule. Aus dem Dickicht, ganz in seiner Nähe tönte ein lang gezogenes schrilles Heulen.

Dorkas zog den Nacken ein, als wollte er sich in ein Schneckenhaus verkriechen, und in diesem Moment hätte er alles für solch eine Unterkunft gegeben. Das Heulen ertönte wieder, wurde von zwei, drei Stellen beantwortet. Jetzt knackte Unterholz. Waren es Wölfe? Es gab Wölfe in Italien, das wusste Dorkas. Aber Wölfe sollten viel harmloser sein, als ihr Ruf besagt. Das beruhigte ihn, bis zu dem Augenblick, in dem ihm einfiel, dass es in Italien Mischlinge aus Wölfen und verwilderten Haushunden gab, die wesentlich angriffslustiger auf Menschen reagierten als ihre Erzeuger. Während dies noch in seinem Kopf nachklang, vernahm Dorkas schon ein vielstimmiges, röchelndes Knurren. Es war ein Laut, der instinktiv jedes menschliche Wesen in Panik versetzen musste und unweigerlich Bilder von scharfen Reißzähnen und rötlich funkelnden Augenpaaren hervorrief.

Dorkas tat das, was ihm in dieser Situation als einziger Ausweg erschien. Er stellte sich auf seinen Koffer. Die Beine aneinandergepresst, die Arme fest an den Körper gezogen, hätte er auf jeden Beobachter wie ein armer Irrer gewirkt, der sich in der geschlossenen Abteilung mit Flugversuchen beschäftigt.

In der Ferne blitzte etwas auf. Ein Licht, dann noch eines, dann weitere. Die Lichter kamen ziemlich schnell näher, sprangen über die Kuppen der Straße und verschwanden für Sekunden in den Senken. Aus dem Dickicht vernahm Dorkas die Geräusche einer panische Flucht. Es war das Letzte, was er hören konnte, denn nun brandete Motorenlärm auf und überdeckte selbst den heftigen Donner des Gewitters, das genau über dem Wald stand. Das konnten keine Autos sein, dafür standen die Lichter viel zu hoch über der Straße.

Dorkas verharrte in seiner verängstigten Position und starrte den Lichtern entgegen. Es konnten nur fliegende Untertassen sein oder Kampfhubschrauber beim Tiefflugtraining, eine andere rationale Erklärung konnte Dorkas nicht finden. Die Lichter erfassten ihn, Dorkas schloss die Augen, geblendet und in Erwartung des Aufpralls. Kreischend schleifte Metall über Metall, als gewaltige Trommelbremsen zufassten. Vorsichtig öffnete Dorkas die Augen.

Einen Meter vor ihm baute sich die Kühlerfront eines Traktors auf. Es war ein riesiger Fiatagri mit Vorderrädern in Manneshöhe.

In dieser Lage hielt es Dorkas für angemessen, mit einem möglichst sportiven Satz seinen Koffer zu verlassen und die Front des Traktors gemessen zu umschreiten. Hinter dem riesigen Vorderreifen war ein Motorraum, in dem zahlreiche Zylinder im Leerlauf pockerten, und diesem schloss sich ein Hinterreifen an, der bis zur Höhe einer zweiten Hausetage reichte. Zwei weitere Zugmaschine desselben Kalibers standen eng dahinter.

Dorkas allerdings wendete seine geballte Aufmerksamkeit den drei Jünglingen zu, die augenscheinlich diese bäuerlichen Monstermaschinen gelenkt hatten. Die Bürschlein waren sicherlich nicht älter als sechzehn oder siebzehn, mitten im schönsten Pickelalter. Aneinandergedrängt, mit hängenden Armen standen sie vor Dorkas und wagten nicht, die Köpfe zu heben.

Dorkas räusperte sich. Das Zucken, das durch die drei lief, machte ihm sofort klar, dass er es hier mit einem der seltenen Fälle von akutem Schuldbewusstsein zu tun hatte und sofort stellte er sein Verhalten darauf ein.

»So, so«, sagte er auf Italienisch, das er fast akzentfrei beherrschte, »wie oft findet denn so ein Rennen statt?«

Die Burschen sagten keinen Mucks, stießen sich gegenseitig an und schielten von einem zum anderen, in der Hoffnung, dass der andere den Mut zur Antwort finden würde.

»Ein oder zwei Mal in der Woche … nur …«, druckste schließlich der Junge in der Mitte los. Er hatte einen kurz geschorenen Schädel und Ohren, die ihn vermutlich bei jedem Gegenwind zur Rückwärtsbewegung verdammten.

»So, so«, kommentierte Dorkas, der inzwischen die Arme in die Hüfte gestemmt hatte und einen Offizier imitierte, den er mal beim Zusammenfalten einiger Rekruten beobachtet hatte.

»Manchmal auch drei Mal.«

»So, so.«

»Sie verraten uns doch nicht, Signore? Wenn unsere Eltern das erfahren, kriegen wir gigantischen Ärger.«

Dorkas nannte den Namen seines Zieles. »Wenn ihr mich dorthin bringt, will ich die Sache vergessen.«

Die Gesichter der Burschen hellten sich auf. »Das ist nur eine Viertelstunde von hier. Kein Problem.«

»Viertelstunde? Ich gebe euch fünf Minuten für die Strecke. Und vergesst meinen Koffer nicht!«, verkündete Dorkas majestätisch. Danach kletterte er in das Fahrerhaus und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Mit Traktoren kannte er sich ja inzwischen bestens aus.

***

Die Zeit zerfloss für Tony Tanner wie ein Eisblock in der Wüstensonne und dehnte sich zu einer Folge von Ewigkeiten, die wie zähe Lava durch sein Bewusstsein strömten. Er versuchte, anhand seines Herzschlages einen Begriff für die Zeit zu gewinnen. Aber das Herz schien entweder zu rasen, immer hektischer zu pumpen, bis es ihn schüttelte, oder aber er wartete atemlos auf den nächsten Schlag, der nicht kommen wollte, und stürzte voller Angst in diese Pause, in dieses Schweigen in seinem Inneren, hinein. Manchmal zweifelte er, dass er überhaupt noch am Leben war. Er war schon gestorben, der elende Rest scheinbarer Lebendigkeit war nichts als ein Reflex alter Gewohnheit, und er war dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in dieser nachtdunklen Vorhölle gefangen zu sein. Dann galoppierten wieder Gedanken und Bilder durch seinen Kopf, er verlor sich im Labyrinth der Erinnerungen und vergaß seine Lage für kurze glückliche Momente, nur um kurz darauf die würgende Aussichtslosigkeit umso stärker zu empfinden. Er hatte alles richtig gemacht, er hatte mit kühler Professionalität gehandelt und war doch in diese Katastrophe geschliddert. Wenn er nach einer Erklärung suchte, blitzte nur ein Name auf – Dorkas. – Zu viel der Zufälle, mein Herr, zu viele Ausflüchte und esoterisches Schwadronieren, Sir Dorkas, Sie sind durchschaut.

Die Wut auf diesen Menschen Dorkas war die einzige Kraftquelle, die er noch hatte, und die Anfälle, in denen er heiser schreiend auf den Boden einhieb und sich wünschte, es wäre das fette Gesicht von Dorkas, trieben ihn weiter und weiter durch seine Maulwurfsexistenz. Inzwischen war er zu wenig mehr in der Lage, als auf dem Rücken zu liegen und die faulige Luft röchelnd in seine Lungen zu saugen. Seine Kehle brannte, Krämpfe zogen seine Muskeln zusammen und machten seinen Körper zu einem fremden Gegenstand, der nur durch Schmerzen mit ihm verbunden war. Es wäre gut, der Sache ein Ende machen zu können, indem man sich den Schädel an der Wand einrammt, aber dazu, auch wenn der Gedanke immer wieder aufkam, fehlte ihm jede Kraft. Zuletzt begann er zu delirieren, verlor die Herrschaft über seine Gedanken und musste den inneren Bildern hilflos zusehen, wie sie von ihm Besitz ergriffen wie ekliges Gewürm, das ein Aas befällt.

Verloren trieb er dahin durch einen Ozean von Dunkelheit. Besonders schmerzhaft war, dass sein gemartertes Gehirn ihm immer wieder denselben albernen Satz vorsagte: »Durst ist schlimmer als Heimweh – Durst ist schlimmer …«

***

Vielleicht hatte der Wind die Seite verschlagen oder vielleicht war sie selbst es gewesen, mit einer fahrigen Handbewegung, die ihrer derzeitigen Stimmungslage entsprach. Nun las sie dieselben Sätze noch einmal ohne sich dessen bewusst zu werden und klappte das Buch schließlich mit einem ärgerlichen Knall zu. Es mochte Tage und Gelegenheiten geben, an denen sie einen Roman von Sarraute ertragen konnte, aber der heutige gehörte jedenfalls nicht dazu.

Irgendein seichter kitschiger Liebesroman, in dem die Heldin auf der letzten Seite endlich mit einem gehauchten »Ich liebe dich so sehr« und einem beseelten Blick aus ihren veilchenblauen Augen in die starken Arme dieses enorm gut aussehenden jungen Menschen sinken kann – das wäre es jetzt! Aber allein die Vorstellung, derartige Literatur in der Bibliothek eines Montalban zu finden, hatte etwas Ketzerisches an sich.

Lucille Chaudieu lehnte sich zurück und stellte sich vor, sie selbst wäre in diesem Moment die Protagonistin einer solchen Geschichte: »Die junge Schöne ruhte zerstreut auf ihrem Lager aus seidigen Kissen, welches ihr der livrierte Diener auf einer schön geschwungenen Récamiere bereitet hatte. Ein großer Sonnenschirm schützte die alabasterweiße Haut der Dame vor den erbarmungslosen Strahlen der Sonne. Dennoch leuchtete ihr Kleid in strahlender Helle und vereinte sich mit dem Glanz der roten Kissen und dem fröhlichen Grün des gepflegten Rasens zu einer exquisiten Harmonie der Farben.«

Vielleicht war »junge Schöne« doch etwas zu dick aufgetragen? Lucille betrachtete kritisch ihre nackten Füße mit den sorgfältig lackierten Nägeln. Nein, »Schöne« war korrekt, nur das »jung« erschien ein wenig übertrieben. Aber was machte das? Sie war perfekt, ein Männertraum auf zwei wohlgeformten Beinen. Und da die Einsicht der Männer nicht tiefer unter die Oberfläche drang als der Stachel einer Mücke, war das völlig ausreichend.

Lucille Chaudieu nippte an ihrem Glas. Es war diese innere Unruhe, die sie quälte, diese Mischung aus Langeweile und gespannter, aber zielloser Aufmerksamkeit. Montalban war am Vortag abgereist. Er hatte, mit einem spöttischen Lächeln im Gesicht, um ihre Begleitung gebeten, sehr wohl wissend, dass Lucille nach dem Ausflug in die Wüste dazu keinerlei Lust und Kraft mehr hatte. Ihre Absage hatte Montalban mit dem größtem und einem höchst verlogenen Bedauern zur Kenntnis genommen und war alsdann aufgebrochen. In gewisser Weise fehlte er ihr. Seit er weg war, schien es so, als starre sie durch ein Zielfernrohr auf einen grauen Himmel, ohne das Ziel entdecken zu können, dessen Jagd ihr Leben in der letzten Zeit geprägt hatte.

Hier lag wohl nicht zuletzt die Ursache ihrer Unruhe – sie wusste nicht, was er tat und warum er es tat.

Jenseits der Rasenfläche, auf der Vortreppe des Schlosses, erschien Etienne. Wenn Etienne erschien, dann bedeutete das, dass es 15 Uhr und fünf Minuten war. Andernfalls hätte man auf einen problematischen Fehler im Gefüge des Kosmos schließen müssen.

Lucille beobachtete den Diener, der jetzt in seiner altmodischen, aber edlen Livree die Treppe herunterstieg.

Zuerst der linke Fuß, auf der Mitte der Treppe verharren und Wendung nach links zwecks kritischem Blick auf die Schlossfassade, dann die Treppe herunter bis zum Kiesweg, dort Wendung nach links, drei Schritte bis zum Rosenstrauch und dort Begutachtung der Blüten mit anschließendem fingerspitzigem Abzupfen der vertrockneten Blätter.

Lucille war sich sicher, dass Etienne auch nicht einmal die Schönheit der Rosenblüten bemerkt oder sich an ihrem Duft erfreut hatte. Sie hatten für ihn denselben Wert wie ein Parkettboden, für dessen Sauberkeit er sich verantwortlich fühlte.

In Lucilles Augen stieg ein boshaftes Glitzern. Sie griff nach dem Glas und hielt es hoch. Sie hasste diesen Mann mit den weichen, fast weibischen Gesichtszügen, die ihm zusammen mit seinem vollen, weißen Haar etwas Eunuchenhaftes verliehen. Und sie wusste, dass er diese Gefühle, auf sie bezogen, teilte. Vielleicht war er einer der wenigen Männer, wenn man dieses kreidehäutige Wesen so bezeichnen wollte, die sie durchschauten oder zumindest soviel von ihrer Seele ahnten, dass sie Lucille mit Argwohn betrachteten.

 

Etienne hatte noch dem alten Montalban gedient und begleitete den jungen Herrn auf seine diskrete und stumpfe Art seit dessen Geburt. In Etiennes Gedächtnis waren alle Liebschaften Montalbans abgespeichert, alle Gesichter junger Dienstmädchen, die er irgendwann mit einem Briefumschlag voller Geldscheine und einer Adresse einer diskreten Klinik auf den Bahnhof hatte absetzten müssen, all die verheulten Frätzchen der jugendlichen Schönheiten aus der besseren Gesellschaft mit ihrem »Aber du sagtest doch, dass du mich liebst«-Ausdruck, der durch die schwarz verlaufenen Make-up-Spuren auf den Wangen so herzzerreißend lächerlich wirkte, all die wütenden Telefonate gehörnter Ehemänner, weinender Mütter oder verhandlungsbereiter Väter, bei denen er seinen Herrn stets beharrlich verleugnet hatte.

Etienne hätte mit seinem Wissen Montalban durchaus in Schwierigkeiten bringen können, wäre da nicht eine Mischung aus Hochnäsigkeit, die sich aus dem Leben im Umkreis Montalbans herleitete, aus Dummheit und einer haustierhaften Treue gewesen. Für ihn war Lucille eine von vielen, aber zugleich witterte er mit seinem sicheren Wachhundinstinkt, dass Lucille sich von den anderen unterschied. Er konnte dieses Gefühl nicht in Worte fassen und vermutete bei ihr eine ansteckende körperliche oder geistige Krankheit, jedenfalls ließ er unter seiner Zuvorkommenheit stets seine tiefe Abneigung durchblitzen.

Lucille wiederum hielt Etienne für einen ziemlichen Idioten, dessen Leben sich einer endlosen Schleife von Wiederholungen abspielte.

 

Ein schriller Schrei ließ Etienne zusammenzucken und brachte ihn in eine hilflose, trippelnde Tanzbären-Wendung, während er versuchte, den Ursprung des Schreies zu erkennen. Lucille hatte den Inhalt ihres Glases genüsslich auf Kleid und Kissen verteilt und jammerte nun nach Etienne.

Der Diener setzte sich in Bewegung, hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und dem festen Bewusstsein, dass er eigentlich sieben Schritte weiter bis zum Efeu an der Mauer machen müsste, um dort die Blätter zu überprüfen. Er hatte etwas von einem missmutigen Pinguin, als er auf Lucille zuwackelte.

»Etienne, das schöne Kleid ist völlig verdorben. Sorgen Sie doch sofort für die Reinigung!«

Etienne legte seine teigige Stirn im tiefe Falten. »Mademoiselle, das wird schwierig, denn Floralind ist mit dem Wagen zur Stadt gefahren und kommt erst in einigen Stunden wieder, und das Dienstmädchen hat Ausgang – und der Chauffeur ist mit dem anderen Wagen zur Inspektion in der Werkstatt und wird ebenfalls einige Zeit fortbleiben …«

»Soll das heißen, Etienne, dass ich dieses Kleid auf den Müll werfen darf, nur weil die hiesigen Herrschaften nicht in der Lage sind, es schnellstmöglich in die Reinigung zu bringen? Bin ich hier in einem Kafferndorf?«

Etienne zuckte schuldbewusst zusammen und schielte hasserfüllt unter den Brauen hervor. Kafferndorf war für einen Rassisten wie ihn ein Volltreffer mit Zusatzschaden.

»Wenn Mademoiselle sich des Kleides entledigen, werde ich telefonisch den Transport mit einem Taxi in die Reinigung organisieren. Inzwischen werde ich mich um diese wunderschönen, leider nun völlig verdorbenen Kissen kümmern können.«

Lucille schlüpfte in ihre Sandaletten und schritt zur Treppe. Während sie die leeren Flure zu ihrem Zimmer entlangging, wurde ihr plötzlich klar, dass sie in diesem riesigen Gebäude völlig allein war. Montalban hatte seinen Tross mitgenommen, die anderen Bediensteten waren unterwegs oder hatten frei und würden erst in geraumer Zeit zurückkehren. In fliegender Hast wechselte sie die Kleidung, lief aus dem Zimmer und zwang sich noch einmal zurück. Nein, sie durfte sich keine Blöße geben. Noch einmal wechselte sie ihre Kleidungsstücke, suchte nun sorgfältig die passenden Farben und Accessoires aus und bot, als sie Etienne das beschmutzte Kleid übergab, den üblichen perfekten Anblick.

»Etienne, dieser Vorfall hat mich enerviert. Ich möchte jetzt ruhen und ich will keine Störung. Sorgen Sie dafür, dass nur ja kein Wagen bis zum Schloss vorfährt. Ich hasse dieses Knirschen der Kieselsteine. Ich bekomme davon Kopfschmerzen – vielleicht sogar Migräne!«

»Sehr wohl, Mademoiselle.«

Es sollte wohl heißen: Ich nehme das zur Kenntnis und wünsche Ihnen jede Form der Migräne an den Hals.

Lucille lauschte auf das Telefonat, das Etienne mit dem Taxiunternehmen führte. Nun war er gezwungen, sich bis zum Einfahrtstor vorzuarbeiten, denn nur von dort konnte man auf die Landstraße gelangen. Sie sah ihm nach, wie er, das Kleid über den Arm gelegt, losschlurfte. Mit dem weißen Kleid, auf dem rote Spuren verliefen, wirkte er wie ein Mörder, der sein erschlafftes Opfer fortschleppt.

 

Lucille ließ sich von ihrem Schauder keine Sekunde zurückhalten. Sie schlüpfte in die Wohnung Etiennes und fand sofort das Schlüsselbord. Ganz hinten hingen die Schlüssel zu Montalbans Privaträumen. Das war ein Vorteil, denn so konnte der Verlust der Schlüssel nicht sofort auffallen. Sie griff zu, versicherte sich noch einmal mit einem schnellen Rundblick, dass sie wirklich allein war, und stieg dann die Treppe in das Obergeschoss hoch.

Möglicherweise hatte Montalban irgendeine Sicherung eingebaut, die Unbefugten den Zutritt verwehrte oder ihm zumindest die Möglichkeit gab zu kontrollieren, ob jemand Zugang zu seinen Räumen gefunden hatte. Lucille zögerte, bevor sie den Schlüssel umdrehte.

Eine solche Möglichkeit existierte, aber sie erschien ihr unwahrscheinlich. Hier, in diesem Gemäuer fühlte sich Montalban auf eine fast arrogante und ungenierte Art sicher.

Die Tür sprang auf. Noch nie hatte Lucille die Räume des Mannes betreten, dessen Gefährtin in Tagen und Nächten sie geworden war. Sie hatte es immer für eine Selbstverständlichkeit gehalten, dass jedem Mann und jeder Frau das Recht auf ihre ureigensten und intimen Bereiche zustand. Aber hier war es anders. Sie drückte die Tür lautlos auf und erschrak vor dem Anblick eines übermannshohen afrikanischen Fetischs, der gegenüber der Tür postiert war. Als sie sich näherte, erkannte sie Stofffetzen, welche die Holzfigur wie ein Kleid bedeckten. Es waren die verschiedensten Muster, aber sie bemerkte mit einigem Erstaunen, dass auf vielen Stoffen militärische Tarnfarben erkennbar waren. Und dann entdeckte sie die Haarsträhnen, die zwischen den Stoff gewebt waren. Es waren lange, glatte Haare, manche braun, manche blond. Keines entsprach dem typischen Haarkleid eines Afrikaners.

Lucille schluckte einen dicken Kloß herunter. Es gab eine Menge Erklärungen, wie diese Haare an diesen Fetisch gekommen war – und vielleicht war es ja auch nur die Symbolfigur einer zentralafrikanischen Friseurinnung. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie hatte anderes zu tun und betrat entschlossen das ganz private Reich des François de Montalban.

 

Der erste Raum, beherrscht oder bewacht von der afrikanischen Statue, hatte etwas von der Willkürlichkeit eines Möbellagers. Wertvolle alte Sessel standen neben Sitzmöbeln, die interessant und zugleich dermaßen unbequem aussahen, dass sie unschwer der allerneuesten Möbelmode zuzuordnen waren. Alles wirkte teuer und wertvoll und in seiner Zusammenstellung zugleich lieblos und ungeordnet. Außer den verschiedenen Sesseln gab es noch einen runden Tisch. Spielkarten lagen auf seiner spiegelblanken Platte, als ob sich die Spieler eben erst in plötzlicher Hektik erhoben hätten.

Lucille betrachtete den Aschenbecher voller Zigarettenstummeln und Zigarrenstumpen, die dem Raum einen grauen Geruch kalten Rauches mitgaben. Montalban rauchte selbst nicht, aber einige der Männer, die Lucille bei sich die »Leibgarde« nannte und von denen sie sich wohlweislich fernhielt. Dies war also der Vorraum zum Allerheiligsten, und hier saßen die »Hüter der Schwelle«. Montalban verabscheute Zigarettenqualm und hätte ihn in seinem eigentlichen Bereich nie geduldet. Außerdem war klar, dass auch der Diener Etienne diese Räume nicht betrat, sonst hätte er sich vermutlich sofort um Sauberkeit, Ordnung und frische Luft bekümmert. Ihr Herz schlug schneller. Sie wusste, was sie tat, aber nun begann sie, es richtig zu verstehen. Und sie bekam Angst.

 

Eine Doppeltür führten in die nächsten Räume. Als Lucille Chaudieu sie aufstieß, sah sie sich im selben Moment einer Person gegenüber. Sie starrte die andere Frau an, doch schließlich wurde ihr klar, dass dieses grimassenhaft verzerrte Gesicht ihr eigenes war und dass sie in die Spiegelwand eines Badezimmers schaute. Die Anspannung löste sich in einem Schluchzen. Lucille Chaudieu lehnte mit dem Rücken an der Türeinfassung und sank langsam zu Boden, während Weinkrämpfe ihren Körper schüttelten. Lucille wurde bewusst, dass sie heulte, wie sie das als kleines Mädchen getan hatte. Das ärgerte sie, und so zwang sich, in kürzester Zeit wieder erwachsen zu werden.

Sie biss sich auf die Lippen, konzentrierte sich auf den Schmerz wie auf ein Heilmittel und stand wieder auf. Das Badezimmer, in der Größe einer Drei-Personen-Sozialwohnung, enthielt die üblichen Einrichtungsgegenstände, natürlich in allerbester Ausführung, und daneben eine Anzahl von Laufbändern und Trainingsgeräten, wie sie jedem Fitness-Center Ehre gemacht hätten. Lucille konnte es sich nicht verkneifen, an den Computern der Geräte herumzuspielen. Es waren jeweils nur die Daten einer Person eingespeichert. François de Montalban war offenbar in körperlicher Bestform – aber diese Tatsache hatte Lucille ja schon am eigenen Leibe erfahren dürfen.

 

Der nächste Raum. Sie öffnete die Tür, betrat ihn und fragte sich, welche Beziehung dieses Zimmer zu dem Vorraum hatte, zu dem Schloss, überhaupt zu allem, was sie von Montalban wusste. Sie drückte leise die Tür zu, bis das Schloss mit lautem Klacken einrastete, und schaute sich, den Rücken an das mit Schnitzereien verzierte Holz gedrückt, um. In der Mitte des Raumes, dem Fenster zugewandt, stand ein schlichter Schreibtisch. Eigentlich handelte es sich lediglich um eine alte abgeschabte, mit einem Eisenband eingefasste Platte, die auf zwei klappbaren Böcken aus Leichtmetall ruhte. Ein Notizblock, eine alte Schreibmaschine und einige Bleistifte bildeten die einzige Ausstattung. Im Nähertreten konnte Lucille auf der Platte Reste von Buchstaben erkennen. Es schien etwas wie … miere Divi … mee zu sein. Irgendjemand hatte dieses Möbel aus altem Material zusammengezimmert, und Montalban schien damit wohl eine sentimentale Erinnerung zu verbinden. An den Wänden standen einige Regale mit Büchern, alten Stahlhelmen und historischen Waffen. Bilder bedeckten das, was noch an freier Fläche übrig blieb.

Lucille kannte sich mit der Form von Stahlhelmen nicht aus, aber sie erkannte das gezackte Schutzstaffel-Zeichen an einem von ihnen und erschauerte, als sie das Einschussloch direkt oberhalb des Randes entdeckte. Auf einem Zettel konnte sie Charlemagne, Berlin, 310445 entziffern. Eine Adresse, überlegte sie. Ein Hotel vielleicht und eine Schließfachnummer?

Sie schaute die Fotos an. Es waren ausnahmslos Schwarz-Weiß-Aufnahmen; die Rahmen waren von der billigsten Art. Lucille schaute auf die Gesichter junger Soldaten – Männer in Uniformen vor Lastwagen, auf einem Kampffahrzeug, vor einer Bar, am Rande einer Arena sitzend, mit Jagdgewehren vor Urwaldkulisse, in eleganter Kleidung in einem Theaterfoyer. Die wenigen Frauen, die auf den Bildern erschienen, wirkten wie billige Flittchen oder wie distanzierte Puppen, die man als Ergänzung der Szenerie vor die Kamera geschoben hatte.

Lucille suchte ohne Erfolg nach Montalbans Gesicht. Dennoch schienen diese jungen Männer ihm alle irgendwie zu ähneln, als entstammten sie einem einzigen Elternpaar – oder als wären sie das Ergebnis einer heimlichen Zuchtauswahl. In ihren Mienen stand die Arroganz der Jugend, waren Mut, Tatendurst, Kampfeslust zu erkennen, aber auch, wenn man genauer hinschaute, und dies tat Lucille Chaudieu, rücksichtlose Härte und Verachtung für alle, die nicht wie sie waren. Es waren allesamt hübsche Gesichter, und diese Männer oder Jungen hatten gewiss nie Probleme, eine Gefährtin für eine Nacht oder für länger zu finden. Aber unter der Fassade war nichts, keine Tiefe, keine Seele, keine Spur von Gefühl. Es waren Gesichter von Kinohelden, und wenn dann der Film zu Ende war und man den Menschen hinter dem Gesicht suchte, war nur Leinwand und Leere zu finden.

Der Gedanke schüttelte Lucille. Als wenn man einen Stein aufheben und das Ungeziefer darunter finden würde …

Lucille wusste, dass sie nicht alle Zeit der Welt hatte. Sie betrat also den nächsten Raum, nun ohne Zögern, als hätte sie hier einen festen Termin. Der Anblick war fast derselbe – ein Feldbett, Regale, Bilder, Waffen als Dekoration, in einer Ecke ein Büroschrank aus Stahl. Ein ausgestopfter Stierkopf mit riesigen Hörnern bildete einen Blickfang, und die Fotografien waren neueren Datums und farbig. Der Schrank war verschlossen. Sie hätte eines der Schwerter von der Wand nehmen können, um ihn aufzubrechen, aber sie scheute sich davor, Spuren zu hinterlassen.

Einen Moment lang überkam sie etwas wie Überdruss, wie bei einer Frau, die zum Einkaufen ausgegangen ist und mit einem Mal nicht mehr weiß, was sie sich eigentlich leisten wollte. Sie riskierte viel, indem sie diese Gemächer betrat, und musste sich nun damit abfinden, dass sie sich Fotografien und Titel militärgeschichtlicher Bücher anschaute.

Über Montalbans Wesen erfuhr sie auf diese Weise vielleicht etwas, aber sie wollte kein Seelenbild ihres Liebhabers malen, sie wollte etwas anderes. Sie ging an den Porträts vorbei. Unten an den Rahmen war pedantisch die Namen der Abgebildeten notiert: Salan, Jouhaud, Challe, Zeller, Milan, Osama …

Einige Namen kamen Lucille bekannt vor, aber sie konnte dieses vage Gefühl an keiner Tatsache festmachen. Aber da war ein Foto von Montalban. Er saß in einem Straßencafé, offensichtlich irgendwo im Süden, und lächelte ironisch dem Betrachter entgegen. Neben ihm saß ein Mann mit Adlernase und einem ausgesprochen riesigen Mund. Und dann ein Bild mit Montalban in Uniform. Im Hintergrund war deutlich die silbrige Nase einer »Mirage« erkennbar.

Lucille spürte ihren Puls hochschnellen. Hektisch suchte sie – und tatsächlich, da war wieder Montalban, wie er breitbeinig und mit verschränkten Armen neben seinen Leuten stand, und hinter ihnen war wieder eine Mirage, und Lucille konnte das Staffelabzeichen, das auch in ihrem Gedächtnis für immer eingebrannt war, unter der Kanzel deutlich erkennen.

Obwohl sie es nicht wollte, drängte es sie nahe an das Foto, und sie studierte die Gesichter der Piloten, die dort auf dem Boden hockten oder dahinter in der zweiten Reihe standen. Kein Zweifel, das war er, dessen Bild sie im Herzen trug, ihr toter Freund. Das schwarze Haar mit wilder Locke in die Stirn gekämmt, die betonten Augenbrauen über den ernsten Augen und dieses unverschämt charmante, unvergessliche Lausbubenlächeln.

Lucille stützte sich ab und wischte sich über die Stirn. Sie kam sich unendlich alt, ausgebrannt und verbraucht vor, leer, und sie fragte sich, warum ihr diesmal keine Tränen in die Augen schießen wollten vor lauter Schmerz und dem Gefühl, das Liebste verloren zu haben.

Lucille hatte ihre Seele verloren. Und hier, auf diesem Bild, in diesem Lächeln, lag ein Rest von dem Leben, das ihr bestimmt gewesen war, das sie so fest in den Händen gehalten und wie von Göttern beschlossen vor sich gesehen hatte – und das verändert wurde und umgeknickt war wie ein Hälmchen, das sich nun mühsam aufmachen musste, in eine andere Richtung weiterzuwachsen.

Ihre Fingernägel krallten sich in die Wand, sie stützte sich ab, verkrampft und zähneknirschend wie ein Dämon der Wut und der Verzweiflung. Ein Geräusch sank leise in den schwarzen Rauch ihres Gemütszustandes. Es kam leise und gleichmäßig, sie wollte es ignorieren, aber ihr Instinkt fuhr seine Stachel aus und trieb sie zur Aufmerksamkeit.

Das Klingeln eines Telefons. Na und? Jetzt erkannte sie, dass ihre Räume zwei Stockwerke unter diesem Raum lagen und das Klingeln durch das geöffnete Fenster schallte. Wenn sie nicht gleich an den Apparat ging, würde Etienne misstrauisch werden, vielleicht würden sie sich auf der Treppe begegnen, vielleicht sogar an ihre Tür klopfen. Die Ausrede vom Tiefschlaf durch Tabletten würde er ihr nicht abnehmen. Sie musste hier raus!

So schnell es ging schlüpfte sie durch die Tür. Das Telefon klingelte erbarmungslos weiter. Es konnte nur eine Frau sein, die eine solche Penetranz aufbrachte, dachte Lucille wütend.

Sie war an der Tür zum Vorraum, blickte auf den Schreibtisch und sprang noch einmal darauf zu. Irgendetwas wollte sie mitnehmen, irgendeine Beute, auch wenn es lächerlich schien. Aber was? Das Farbband aus der Schreibmaschine, um festzustellen, was Montalban in den letzten Monaten geschrieben hatte? Unsinn, zu aufwendig, zu auffällig. Der Notizblock, das war es. Vielleicht hatte er ja irgendetwas notiert und sie …

Sie riss den obersten Zettel ab, floh hinaus auf die Treppe und hastete hinunter in ihre Räume. Von unten hörte sie den schlurfenden Schritt Etiennes. Er hatte sich also schon auf den Weg gemacht. Liebes Telefon, hör’ jetzt nicht auf zu klingeln, flehte sie und griff atemlos nach dem Hörer.

»Hallo Lucille-Mausi, ich dachte, jetzt, wo du doch in so einem Schnieki-Schuppen wohnst, wo man vom Schlafzimmer zum Bad immer etwas Lauf-Lauf-Lauf machen muss, sollte das Telefon ein bisschen länger klingeln …«

Lucille brauchte einige Sekunden, bevor sie die fröhliche Frauenstimme einordnen konnte. Anette – die Nervensäge. Lucille lachte laut auf, als sie daran dachte, dass Anette auch in diesem Fall ihrem angeborenen Talent gefolgt war und im falschesten aller Momente angerufen hatte.

»Halloli«, konstatierte Anette, »dir scheinst es ja gut zu gehen, bei deinem hochadeligen Lover?«

»Oh Danke, ich kann nicht klagen. Ich hoffe, es geht dir auch gut?«

So, dachte sie, das war das Stichwort, jetzt legt sie los und ich kann entspannen, hoffte Lucille. Sie breitete den abgerissenen Zettel auf dem Telefontischchen aus. Glück gehabt, unter ihren Fingerkuppen waren deutlich die Vertiefungen einer durchgedrückten Schrift zu bemerken. Wie gut, dass man alte Krimis anguckte!

»Oh ja, mir geht es ja so supie-gut. Einfach suuu-pie! Und weißt du wieso? Du ahnst es ja nicht! Ich habe da einen Jungen kennengelernt. Quatsch Junge, er ist natürlich ein Mann, aber er ist so voll end-knuffi! Gestern sag ich, mein Lippenstift ist unters Sofa gerollt und er hat die ganze Zeit gesucht und ich habe mir seinen Knack-Popo angeschaut. Für so was wurde die Jeans erfunden, wirklich. Der Typ ist wirklich ein totaler Glücksgriff …«

»Er ist also verheiratet«, stellte Lucille mit boshaftem Grinsen fest und fischte nach einem Bleistift. Diese Gemeinheit brachte selbst Anette zum Schweigen. Kurzzeitig.

»Woher weißt du das?« Anette klang plötzlich misstrauisch. Eine Hyäne in Liebesdingen, die Fresskonkurrenz wittert.

»Hallo? Keine Panik! Ich weiß doch gar nicht, von wem du sprichst. Aber du kennst doch die traurige Wahrheit: Männer sind wie gute Jobs, entweder stressig oder schon vergeben. Und er gehört wohl eindeutig zur zweiten Kategorie.«

»Hab’ ich das gesagt? – Na egal. Aber er lebt von seiner Frau getrennt und lässt sich natürlich scheiden.«

»Das habe ich doch irgendwo schon gehört …«

»Du altes Lästerliebchen. Du kennst ihn eben nicht, er ist ganz anders als alle anderen Männer.«

»Hab’ ich auch irgendwo schon gehört …«

»Du hast heute Frechi-Tag! Stimmt ja auch – eigentlich. In gewisser Weise. Aber nicht bei ihm. Er ist so süß, so zärtlich, so – einfühlsam, so schmiegig …«

»Du sprichst nicht zufälligerweise von einem Delfin oder so was Ähnlichem?«

»Biesti-Lucilli! Delfin, phh! Ich habe diese Frau schon gesehen, die der hat. Wabbel-Schwabbel, sage ich dir, mit der kann’s kein Mensch aushalten, und er ist ganz traurig. Ordinär ist die, oder heißt das orginär – nee, die passt überhaupt nicht zu ihm, hat sie nie, wird sie nie. Eine Schminke-Inke, sieht aus wie tausend Jahre, das kannst du mir aber glauben. Von der würde sich jeder scheiden lassen, klarer Fall. Stell dir vor, die hat …«

Lucilles Bleistift fuhr vorsichtig schraffierend über das Blatt. Sie klemmte den Hörer, aus dem die Liebesdinge Anettes hervorquollen wie warmes Wasser aus einer Dusche, zwischen Schulter und Ohr und versuchte, aus den Linien und Bögen etwas Sinnvolles herauszulesen.

Es war die Schrift Montalbans, das zumindest sah sie schon. Eine Zahl war zu erkennen, vierstellig.

Sie überlegte, während sie mit verständnisvollen Was du nicht sagst und Mmmmhs Anette ihre Aufmerksamkeit signalisierte. Vierstellig. Ein Datum. Das Datum von vorgestern oder vorvorgestern, so genau wusste sie es nicht einmal. Noch eine Zahl. Das musste eine Telefonnummer sein. Aber dahinter stand ein Wort. Mühsam entzifferte Lucille ein Fenocchio. Von einem Fenocchio hatte sie noch nie etwas gehört.

»… er fasst die schon seit Jahren nicht mehr an. Wer packt schon gern an altes Frittenfett, meinst du nicht? Du, die Ehe ist nur noch pro forma. Ich könnte diese Vollschnecke umbringen. So einen Mann vom freien Markt fernzuhalten. Gibt’s dagegen kein Gesetz oder so was? Vielleicht hätte ich ihn nie kennengelernt und was dann? Du, was hältst du davon, wenn ich schwanger werde – ein Baby – und dann von ihm? So ein süßes Putzi-Mädchen. Wird ja eigentlich auch Zeit, findest du? Mal mit ‘nem dicken Bauch über die Promenade – und ich habe da Kinderkleidchen gesehen! Meine Figur kriege ich nach der Geburt schon wieder hin. Hat Pamela Anderson auch geschafft … sag mal – hörst du mir eigentlich überhaupt zu?«

»Aber sicherlich, Anette-Liebes. Immer doch. Sag mal. Kannst du mit dem Namen ›Fenocchio‹ etwas anfangen?«

»Das war doch dieser Typ, der vom Lügen die lange Nase kriegte … oder was meinst du, was da gewachsen ist? Hihi. Du, mal ehrlich, bei meinem Cutie kann ich mich da nicht beklagen, wenn der …«

»Feeee-nocchio, Anette-Blondchen. Was du meinst, ist Pi-nocchio.«

»Irgendwas mit Pi – meine ich doch! Aber warte mal. Ich hab doch was im Kopf. Fenocchio. Na klar, das ist der Speiseeis-Laden mit dem Frambi-Myrti in Nizza, den kennt doch jeder!«

»Sagtest du Frambi-Myrti …?«

»Schwer von Kapee – oder du bist out, Lucilein! Framboise-Myrtilles – das Eis der Saison – suuu-pie, sage ich dir. Ganz Nizza rennt hin, da kriegste kaum einen Platz!«

»Was du nicht sagst!«

»Da war ich doch erst vorgestern mit meinem Cutie-Baby. Du, die haben bestimmt tausend Eissorten, wenn nicht noch mehr, aber Frambi ist der Knaller. Könnte ich mich reinlegen, voll end-lecker, sage ich dir, todlecker, einfach göttlich, fast so gut wie mein Süßer. Und wenn ich Frambi lecke und er schaut mir zu …«

»Anettelein, Anettelein! Sag mir vorher noch, wo das ist?«

»Place Rosetti, aber, sag mal, wie kommst du jetzt eigentlich darauf?«

»In Nizza, was?«

»Schätzchen, hör mir doch zu. Nizza, Place Rosetti, probier das Frambi, wenn du mal hinkommst.«

Wenn Anettes neuester und vermutlich endgültiger Schwarm ihr tatsächlich die Telefonrechnung bezahlte, wie sie behauptete, dann war er zugleich reich, blöd und großzügig.

Nach etwas mehr als einer Stunde beendete Anette das Gespräch, weil sie »mal für kleine Mädchen« musste. Lucille versprach, in den nächsten Tagen anzurufen und legte mit einem Seufzer auf. Auf irgendeine Weise hatte diese wortreiche Schilderung von Liebeswahn und Liebeslust sie angerührt wie ein billiger Kitschfilm. Aber dafür blieb keine Zeit.

Also Nizza. Sie wählte die Vorwahl von Nizza und die Nummer, die auf dem Zettel stand.

Lange Zeit lauschte sie dem Freizeichen, dann klackte es in der Leitung und eine Männerstimme fragte: »Ja?«

Lucille beschloss, einen allseits kompatiblen Standardspruch loszulassen. »Wie läuft es«, fragte sie.

Der Mann stockte, als hätte ihn die Frauenstimme überrascht. Dann antwortete er doch.

»Er ist reif.«

»Wie reif?«

»Komplett reif. Wir können ihn sofort auf den Strand legen. Das Boot haben wir schon präpariert.«

»Nein, noch nicht. Ich brauche ihn noch.«

»Wozu?« Der Mann klang misstrauisch.

»Das ist mein Problem. Ich muss ihm noch einige Fragen stellen.«

»Mein Gott, dann müssen wir ihn wohl wieder aufpäppeln, ehe er die Fische sieht?«

»Wie schön, wenn ein Mann mal schnell kapiert!«

»Je ne suis pas stupide, Madame. Wann soll er Ihnen was husten?«

»Ich bin morgen um vier Uhr nachmittags im Fenocchio. Holen Sie mich ab.«

»Woran erkenne ich Sie?«

»Ich werde Sie erkennen!«

»A votre service. Bitte – es ist Ihr Mann, es ist Ihr Job und es ist Ihre Telefonnummer. Aber wenn ich mich an die Vorgaben gehalten hätte, dann wäre das Handy schon vor einer Stunde ins Hafenbecken geflogen.«

»Na so ein Zufall. Dann halten Sie sich jetzt bitte an die Vorgaben und schmeißen das Handy weg, Mann!«

»Gleich ist es weg. Also morgen vier null null. Blubb blubb.« Damit ging er aus der Leitung.

***

Die Landschaft flog vorbei, vorangetrieben von dem hastigen Takt der Eisenreifen.

Zwischen den weiten Feldern direkt neben dem Bahndamm und den entfernteren Bergen, die sich schroff und wie aus purer Willkür aus der Ebene erhoben, schwebte das Gesicht eines Mannes. Das gerundete, wohlwollende Antlitz eines Mannes, der nicht mehr jung und noch nicht alt war, der weder besondere Härten zu ertragen gehabt hatte, die sich in seine Züge eingraben haben mochten. Man hätte auch nicht sagen können, dass sie von Inspirationen und Begeisterungen derart durchflutet worden wären, als dass sie den Glanz geistiger Erkenntnis zwischen Haaransatz und Kinn gelegt hätten.

Dorkas betrachtete das Gesicht wie ein mäßig interessantes Ausstellungsstück eines Provinzmuseums und musste sich förmlich zu der Erkenntnis zwingen, dass er selbst es war, der sich in der Fensterscheibe des Abteils spiegelte. Mürrisch sah er aus, müde und enttäuscht.

Vielleicht das Alter, fragte er sich. Vielleicht warteten die Jahre heimtückisch und verborgen wie Strauchdiebe hinter der faltenlosen Haut, um dann innerhalb weniger Tage zuzuschlagen und das Ihre in Besitz zu nehmen? Die letzten Tage waren anstrengend gewesen, aber sicherlich nicht anstrengender als es die vielen Tage und durchwachten Nächte an kleinen Schreibtischen verstaubter Bibliotheken gewesen waren, ummauert von Wänden aus abgegriffenen, ledergebundenen Schwarten, in denen möglicherweise die Erkenntnis, der entscheidende Ansatz verborgen lag – und nicht zermürbender als die Stunden, in denen sich aus dem Gekritzel unzähliger Notizen, aus Fußnoten, Nebenbemerkungen, Querverweisen, Parallelen, Widersprüchen, Fehlinterpretationen etwas in seinen Gedanken formierte, als wäre plötzlich in einer schon tausendmal betrachteten Wand ein winziger Riss sichtbar geworden.

Solchen Spuren folgte er, die so erregend und unfassbar waren wie das Parfum einer schönen Frau, die eben um die Ecke gebogen ist, ein Luftgebilde, nur von einer verfeinerten geistigen Witterung aufnehmbar. Dann folgten die farblosen Stunden und Tage, in denen er sich den seidendünnen Faden entlangtastete, jeden Moment gewärtig, dass die Verbindung reißen und er ohne Anhaltspunkt, verloren und vergeblich, in diesem Labyrinth versinken würde. Er fühlte sich dann immer am Rande von etwas, das dem Wahnsinn gleichen musste, diesem endgültigen Abgleiten in eine verschlossene, nur dem darin Verfangenen verständliche Welt.

Und irgendwann kam schließlich der Moment, in dem die Idee Gestalt und Substanz gewann, sich verfestigte, mit Worten greifbar war.

Dann tauchte Dorkas schweißgebadet wie von einem Horrortrip wieder auf in der allgemein zugänglichen Realität, und seine Beute konnte er auf einem Zettel vorweisen, ein Satz manchmal nur oder ein Halbsatz; aber was war Schopenhauers zwölfbändige Gesamtausgabe mehr als die Ausführung eines Gedankens, der sich in einem Satz bannen ließ?

Nein, das war es also nicht, was seine Gesichtszüge mit dieser Müdigkeit und Verbitterung beschwerte. Dorkas mochte sich nicht der Tatsache stellen, aber sie ließ sich ebenso wenig ignorieren wie Zahnschmerzen. Er hatte einen – ja was? Dorkas zögerte, bevor er den Gedanken zu Ende führte – einen Freund verloren, und dieses durch die hässlichste aller Möglichkeiten, durch Betrug und Verrat.

Sicherlich, Tony Tanner war nie ein Freund gewesen, verlogen und hinterlistig, wie er sich in Dorkas’ Leben geschmeichelt hatte. Aber für ihn, für Dorkas, war es Freundschaft, selbst wenn er diesen Begriff, als etwas zu Großes, fast Heiliges, selten benutzt hätte. Er hatte Fritz Weiss verloren, und das war so gewesen, als hätte man ihm ein Organ bei lebendigem Leibe herausgerissen, und nun hatte er den anderen verloren und erkennen müssen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Weiss und Tony Tanner gab.

Dorkas erinnerte sich an die erste Begegnung mit Tony Tanner und die plötzliche Intuition, die in ihm so großes Interesse geweckt hatte. Unterbewusst hatte er eine Verbindung Tony Tanners zu Fritz Weiss gespürt – ein Aufblitzen von Ähnlichkeit, von Zusammengehörigkeit – nun war diese Verbindung zu einer traurigen Gewissheit geworden. Schließlich gab es Leute, die diesen Tony Tanner für einen Mörder hielten.

In gewisser Weise verstand Dorkas nun, wie sich eine Frau fühlen musste, deren Gefährte und liebevoller Vater ihrer Kinder an einem sonnigen Sonntagvormittag verhaftet wird, weil er ein Dutzend widerlichster Sexualmorde begangen hat. Und wie diese Frau fragte sich auch Dorkas, ob auch er einmal Opfer geworden wäre und wenn ja, wann und warum. Es war schmerzhaft und es war nicht gerecht und die alte Marktweiber-Weisheit »So ist das Leben nun einmal« half ihm auch nicht weiter. Niemand kann enttäuschter sein, als wenn er von dem enttäuscht wird, von dem er eigentlich Zuneigung und Anerkennung erwartet.

Neben dieser Last der persönlichen Enttäuschung gab es die praktische Ebene, auf der sich die Frage stellte, was Tony Tanner wusste, welchen Schaden er angerichtet hatte, wie viel Lügen er verbreitet und wie viel taktische Wahrheit herausgelassen hatte. Der wichtigste Punkt von allen war, für wen er arbeitete. Die Antworten, die Dorkas für sich formulierte, während der Zug weitere hundert Kilometer auf sein Ziel zueilte, lauteten: Tanner wusste zu viel, weil Dorkas vertrauensselig war und zugleich – leider – in manchen Momenten der Schwäche zu eitler Selbstdarstellung neigte und darum mit seinen Erkenntnissen glänzen wollte.

Aber Tanner wusste beileibe nicht alles, oh nein, da hatte sich Dorkas noch gut bedeckt gehalten (allerdings auch, wie er selbstkritisch anmerkte, aus der Tatsache heraus, dass selbst alles das, was Dorkas wusste, nichts war im Vergleich zu dem, was man eigentlich wissen müsste, um wirklich zu verstehen.)

Dennoch war der Schaden unermesslich, und an wen auch immer Tanner seine Seele verkauft hatte, dieser Gegner hatte nun einen entscheidenden Vorteil. Es war zum Verzweifeln.

 

Die Zeit rann Dorkas durch die Finger, er konnte schon förmlich hören, wie sich in die Sphärenklänge des Universums das Knistern eines Fehlers, einer Abweichung, eines Wirrwarrs mischte, und nun musste er sich mit den Folgen der menschlichen Niedrigkeit beschäftigen und sie, wenn irgend möglich neutralisieren.

Alle Informationen, die Tony Tanner herbeigeschafft hatte, konnten gefälscht sein oder in die falsche Richtung führen oder sich auf einen unwichtigen Aspekt beschränken und daher in die Irre führen – oder – oder – oder. Dorkas rieb sich die Schläfen. Gut, sagte er sich, vielleicht muss es ja so sein. Vielleicht hat irgendeine Institution dort oben beschlossen, dass Dorkas und Konsorten nichts anderes sind als Laborratten, die eifrig im Wasserbecken strampeln und glauben, sie hätten eine faire Chance. Dabei ist doch beschlossen, herauszufinden, wie lange eine Ratte zum Ersaufen braucht. Aber bis dahin würde Dorkas weiterstrampeln, weitersuchen, mit Tony Tanner und jetzt ohne Tony Tanner.

Gong zur nächsten Runde, dachte Dorkas voller Erbitterung, auf in den Kampf, wir erklären den Sieg zur spießbürgerlichen Nebensache, wirf dich hinter dein MG, du Fettsack und genieße dein persönliches Stalingrad!

 

Das Großabteil des Zuges hatte sich inzwischen gefüllt. Eine Gruppe junger Engländer besetzte die Plätze um Dorkas herum. Es waren braun gebrannte Burschen, von geradezu obszöner Gesundheit und feistem Selbstbewusstsein, die sich in Italien eine halbe Standarddosis Kultur reingepfiffen hatten, nachdem sie vorher drei Wochen El Arenal überlebt und tagsüber kastenweise Bier gesoffen hatten. In dem lauten Gespräch, das sie führten, brüsteten sich nun voreinander mit ihrer Leistungskraft auf einem speziellen körperlichen Gebiet, als gebe es selbst im Zug noch Paarungsreviere abzustecken.

Die Jungs rochen nach Bier, Schweiß, zu viel Deo und Pickelcreme.

Dorkas blickte angestrengt aus dem Fenster. Hier hatte er das christliche Abendland in seinen schönsten Exemplaren – Sexualakrobatik statt Zärtlichkeit, ein Willi mit Zählwerk auf Rekordkurs, Erotik aus dem Schlachthof, wo austretende Körpersäfte und in Einzelteile zerlegte Leiber regierten (Die Alte hatte Möpse, sag ich dir, vier Kilo mindestens. War das die Blonde, die du hinter der Bierbude gestemmt hast? Äh – ich weiß gar nicht, welche Haarfarbe sie hatte. Aber du hast sie doch nach mir …?)

Dorkas bereicherte zuhörend sein dürftiges Vokabular der Gossensprache um weitere Kostbarkeiten. Die Jugend, stellte Dorkas zynisch fest, war eine ziemlich widerwärtige Krankheit, die Gott sei Dank nicht chronisch verlief, und deren akutes Stadium durch die Medikation von einigen Zusatzjahren geheilt werden konnte. Im Grunde hatten diese Knaben schon verloren, sie wussten es nur noch nicht. Während sie sich noch die letzten blonden oder braunen Haare vom Kragen klaubten und sich dabei fragten, von welcher »Perle«, die an welchem Tag »fällig« gewesen war, die wohl stammen mochten, wuchs in ihnen schon unbemerkt das Monster heran, das unter dem Namen »braver Bürger und Steuerzahler« in millionenfacher Klonung dafür sorgte, dass Europa wirtschaftlich florierte und geistig zur Senkgrube verkam.

Gegen diese Blüte Britanniens, die sich vermutlich in nichts von anderen Nationalitäten unterschied, kam sich Dorkas vor wie ein verwegener Hippie auf Morgenlandreise, und dieser Gedanke hatte etwas ungemein Tröstliches. Er versöhnte Dorkas mit der Spiegelung seines Gesichtes im Fenster. Und dann bildeten sich zwei Falten auf seiner Stirn, denn Dorkas war der Mann eingefallen, der ihm die Passagierliste gezeigt hatte und er stellte sich die Frage, welche Rolle dieser Mann spielte und war sich sicher, dass er es bald, mehr oder weniger freiwillig, feststellen würde.

Fortsetzung folgt …