Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Am helllichten Tag

Eine Krimi-Kurzgeschichte von Bernd Hasch

Kommissar Gilles stand vor der Leiche im kleinen Apartment des 6. Obergeschosses und nagte an seiner kalten Pfeife. Da lag vor ihm eine junge, hübsche Frau, fast nackt und mit einem Schal erdrosselt.

»Anscheinend hat der Serienmörder wieder zugeschlagen«, ließ Assistent Holbein vernehmen.

»Quatsch«, brummelte Gilles, »Lassen wir die Spurensuche in Ruhe ihre Arbeit machen. Wer hat sie gefunden?«

»Der Nachbar Norbert Unger. Wohnt direkt nebenan. Der ist völlig fertig.«

»Aber ein paar Fragen wird er uns doch beantworten müssen«, sagte der Kommissar.

Während sie herübergingen, informierte der Assistent.

Die Tote heißt Amelie Jordan und war Krankenschwester. Sie kam aus Norddeutschland und arbeitete erst seit einem halben Jahr hier an der Klinik.«

»Wahrscheinlich hätte sie bei ihrem Aussehen hier nicht mehr lange gewohnt«, bemerkte der Kommissar mit Blick auf den verwahrlosten Hausflur, in dem zwei Uniformierte postiert standen.

Die Tür zur Nachbarwohnung war nur angelehnt. Sie fanden einen jungen, bleichen Mann vor.

»Sie sind der Nachbar …?«

»Norbert Unger, vierundzwanzig Jahre alt, zurzeit arbeitslos und wohnt hier seit zwei Jahren«, ergänzte Holbein eifrig.

»… und haben sie gefunden?«, beendete der Kommissar seine Frage.

Der Gefragte nickte geistesabwesend.

»Ich weiß, es ist schwer, aber wir müssen Sie befragen.«

»Fragen Sie«, sagte der, an einer Zigarette saugend.

»Wie kamen sie in die Wohnung Ihrer Nachbarin?«

»Die Tür war angelehnt, und das kam mir seltsam vor. Erst habe ich gerufen, und da sich niemand gemeldet hat, bin ich in die Wohnung gegangen. Entsetzlich!«

»Wie kam es denn, dass Sie die angelehnte Tür entdeckt haben?«

»Ich wollte gerade einkaufen gehen.«

»Aha, und dann haben Sie die Polizei angerufen?«

»Nein, ich nicht. Auf dem Hausflur traf ich Frau Husemann und ihr sagte ich, was passiert war. Die hat dann die Polizei alarmiert.«

»Warum nicht Sie?«

»Ich habe kein Telefon. Das übersteigt meine finanziellen Verhältnisse.«

»Verstehe«, sagte der Kommissar, »das war es erst einmal. Ich bin sicher, wir sehen uns noch.«

Draußen im Flur sinnierte der Kommissar: »Sie sprachen vorhin vom Serienmörder …«

»Ja glauben Sie denn nicht …?«

»Mit Glauben kommen wir nicht weiter, Holbein«, unterbrach ihn sein Chef, »was könnte uns veranlassen, zu glauben, dass hier der Serienmörder am Werk war. Klar, sie war blond, jung und hübsch. Das waren die anderen auch.«

»Sie war nackt«, ergänzte der Assistent.

»Aber nicht ganz. Das ist anders. Ebenfalls, dass sie nicht mit einem Kälberstrick, sondern mit ihrem Schal erdrosselt wurde.«

»Aber sie hatte ein mit Lippenstift gemaltes Herz auf der Wange«, erinnerte Assistent Holbein diensteifrig.

»Richtig, das hatte sie, allerdings auf der linken Wange.«

»Spielt das eine Rolle?«

»Wer weiß?«, grummelte der Kommissar.

»Kommen wir zur Tatzeit. Die anderen Frauen wurden nachts ermordet. Diese Tat geschah am helllichten Tag. Und was noch anders ist: Die anderen Opfer hatten ihre Wohnungen im Erdgeschoss. Die Tote hier liegt im 6. Obergeschoss, und woher wusste der Mörder, dass sein Opfer zu dieser Zeit zu Hause war?«

»Ein Nachahmungsmord?«

Der Kommissar wog mit dem Kopf. Eine Antwort war das nicht.

»Gehen wir erst mal zu Frau Husemann.«

 

»Es ist beruhigend zu wissen, dass Sie hier sind, Herr Kommissar«, sagte die alte, weißhaarige Dame.

»Ich kann Sie beruhigen, ein Verbrechen passiert nicht zweimal am gleichen Ort. Aber erzählen Sie mal. Sie haben die Polizei verständigt, aber was geschah vorher?«

»Ich kam zurück vom Einkaufen, und als ich hier oben den Flur erreichte, kam der junge Mann aus ihrer Wohnungstür. Nanu, habe ich gedacht, hat es denn jetzt doch geklappt. Aber Herr Unger war kalkweiß, als er mich anschrie, die Polizei anzurufen.«

»Wie meinten Sie das, mit jetzt doch geklappt?«

»Na ja, es ist ja kein Geheimnis, dass Herr Unger sich in die kleine süße Amelie Jordan verguckt hatte.«

Die Kriminalbeamten konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Hatte Herr Unger etwas bei sich, als Sie ihn aus der Wohnung kommen sahen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Und wie war er angezogen?«

»Na, er hatte ein rot-weiß kariertes Hemd und eine Jeans an.«

»Ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe«, lobte der Kommissar.

»Ich bin zwar alt, aber sehen kann ich noch ganz gut«, sagte Frau Husemann.

 

»Haben Sie schon eine Spur?«, fragte Norbert Unger, als die beiden Beamten ihm wieder gegenüberstanden.

»Eine ganz heiße«, sagte der Kommissar, »aber wir brauchen wir Ihre Hilfe.«

»Gerne, wenn ich nur helfen kann.«

»Sie sagten, dass sie einkaufen gehen wollten. Was wollten Sie denn besorgen?«

»Ein paar Flaschen Bier.«

Der Kommissar trat ganz nah an den jungen Mann heran und zeigte auf die leeren Flaschen neben dem Kühlschrank.

»Ohne Leergut und nur mit Hemd und Hose bekleidet? Draußen regnet es und ist kalt. Ich werde Ihnen sagen, wie es war. Sie haben unter einem Vorwand bei Ihrer Nachbarin angeklingelt, und als sie Ihre Annäherungsversuche abwehrte, drehten Sie durch und strangulierten sie zu Tode. Als Ihnen das bewusst wurde, rissen Sie ihr die Kleider vom Leib und malten ihr ein Herz mit Lippenstift auf die Wange. Sie wussten aus der Zeitung, dass zwei Morde auf ähnliche Art geschehen waren. So wollten Sie Ihre Tat vertuschen.«

»Was sagen Sie da?«, stöhnte der Mann auf.

»Was Sie nicht wissen konnten, dass die Morde stets nachts erfolgten und die Wohnungen im Erdgeschoss lagen. Außerdem haben Sie das Herz auf die falsche Wange gemalt.«

»Sie sind vollkommen verrückt!«, schrie Unger.

»Mag sein, das haben auch schon viele behauptet, nur haben sich die Meisten geirrt.«

Er ließ die beiden Uniformierten vom Flur kommen.

»Bringen Sie diesen Mann ins Präsidium, damit wir uns dort weiter unterhalten können.«

Als Norbert Unger abgeführt wurde, sah Assistent Holbein seinen Chef schräg von der Seite an.

»Das war aber ein starker Alleingang, alle Achtung!«

»Der Serienmörder ist er nicht. Aber dass er der Mörder von Amelie Jordan ist, dafür verwette ich meine Pfeife.«

So sicher war sich der alte Fuchs.

Copyright © 2009 by Bernd Hasch