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Elbsagen 77

Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig

78. Der Traum des Fischerknaben Benjamin Kohl

An der rechten Ecke des Durchgangs vom alten zum neuen Fischerufer zu Magdeburg steht ein Haus, in dem zur Zeit der Erstürmung und Zerstörung Magdeburgs die Eltern eines damals ungefähr zehnjährigen Knaben wohnten. Am 19. Mai des Jahres 1631 lagen schon am frühen Morgen alle Schüler in den Schulen auf den Knien und beteten mit ihren Lehrern, dass der liebe Herrgott die Erstürmung der Stadt und ihren voraussichtlich darauffolgenden Untergang in Gnaden abwenden wolle. Noch vor acht Uhr aber verkündeten die Sturmglocken, dass der Feind im Einrücken begriffen und die Stadt übergeben sei. Der eisgraue Lehrer, dessen Name nicht auf die Nachwelt gekommen ist, entließ die Schüler auf Nimmerwiedersehen. Die armen Kinder eilten nun sämtlich, die Bücher unter dem Arm, nach Hause zu den ihren. Die Straßen aber waren von fliehenden Einwohnern und fremdem Kriegsvolk so vollgestopft, dass oben genannter Knabe, namens Benjamin Kohl, unmöglich durchkonnte. Er flüchtete also aus dem Getümmel und Gemetzel in kleine entlegene Gassen und kam endlich in ein Brauhaus, wo er aber auch nicht blieb, sondern sich in den Hof flüchtete und sich dort in ein großes Braufass verkriechen wollte. Aber darin fand er bereits einen Insassen, nämlich eine schöne Jungfrau, die ihn flehentlich bat, ihr doch um Gottes willen männliche Kleidungsstücke zu bringen. Sie wolle ihn reich dafür belohnen. Er entfernte sich auch, geriet aber unter die Kroaten und wurde von diesen genötigt, ihnen einen schweren Korb mit erbeuteten Kostbarkeiten bis in ihr Quartier, das neben dem Haus seiner Eltern war, zu tragen. Von hier aus glückte es ihm auch, in das Haus zu gelangen, er fand aber niemand mehr darin und überhaupt alles verwüstet und zerwühlt. Allein er entdeckte auch einige alte, als wertlos zurückgelassene Mannskleider. Die raffte er eilig auf und eilte dem Brauhaus zu. Mittlerweile war dieses aber mit den anderen Nachbarhäusern in Brand geraten. Er hoffte schon nicht mehr, die Jungfrau wiederzufinden, als er sie vom Hof aus rufen hörte und sah, wie das Mädchen aus einem alten Fass herauskroch. Er händigte ihr nun die erbetenen Kleidungsstücke ein, das Mädchen legte sie an und bat ihn, er möge sie für seinen Bruder ausgeben. Sie verließen nun zusammen die Brandstätte und flüchteten für die Nacht in das wüste Haus seiner Eltern, eins der wenigen Gebände, die überhaupt an jenem Schreckenstag nicht in Flammen aufgegangen waren. Am anderen Morgen fielen beide abermals den Kroaten in die Hände, die sie zu den niedrigsten Diensten gebrauchten, sie jedoch am Leben ließen und am Abend mit ins Lager nahmen. Dort blieben sie einige Tage, wo es ihnen dann auf ihr Bitten glückte, nach Wanzleben zu entkommen. Hier war ein Vetter des Knaben Schlosser. Als sie bei diesem angekommen waren, entdeckte die Jungfrau der Schlosserfrau ihr Geschlecht und ihre Herkunft und blieb auch in diesem Haus in der männlichen Kleidung eines Schlosserlehrlings, bis endlich ein vornehmer Kavalier, ein schwedischer Offizier, der – wie sich später ergab – der Bruder des Mädchens war, sich hier einstellte und sie nach heimlicher Unterredung mit sich in einem Wagen fortführte. Den Fischerknaben aber, ihren Retter, nahmen sie als ihren Diener mit. So kamen sie bis Wolmirstädt, wo sie einige Tage blieben, aber plötzlich wieder aufbrechen mussten, weil die von Gustav Adolf bei Werben geschlagenen Kaiserlichen sich der Stadt näherten. Allein es half ihnen nichts, kaiserliche Reiter überfielen sie auf der Flucht, plünderten sie aus und nahmen sie sämtlich gefangen. Aber bald darauf gelang es dem Knaben, in der Finsternis zu entschlüpfen. Er erreichte auf Umwegen die Stadt Wanzleben wieder und kam unversehrt zu seinen Verwandten zurück.

Eine Woche ungefähr mochte vergangen sein, da träumte dem Knaben, ein Engel in weißem Kleid mit Goldflügeln stehe an seinem Lager und rufe ihn. Als er nach diesem sehr lebhaften Traum erwachte, sah er sein kleines Schlafzimmer hell erleuchtet. Die Stubentür stand weit offen, von dem ziemlich geräumigen Hausflur, von woher das Licht hell in sein Zimmer drang, tönte der Gesang des Chorals Jesus, meine Zuversicht herein. Dem Knaben war genau bekannt, dass im Haus niemand gestorben sei, den man etwa beerdigen könne. Daher glaubte er noch immer zu träumen, bis er aus dem Bett aufstand, sich der Tür näherte und neugierig hinausblickte. Aber wie erschrak er, als er mitten im Hausflur eine schwarze Bahre sah, worauf der Sarg mit einer schön geschmückten Leiche stand. Rund herum waren schwarz gekleidete Männer und Frauen, darunter auch ein Priester, der die aufgeschlagene Bibel in der Hand hielt. Die Leiche und die umstehenden Männer und Frauen kamen ihm alle bekannt vor, nur das Gesicht des Priesters war ihm fremd. In der Leiche erkannte er die Jungfrau, welche er aus dem Brauhof gerettet hatte. Bleich, mit geschlossenen Augen, lag sie im offenen Sarg. Die blonden Flechten ihres schönen Haares reichten an beiden Seiten der Wangen bis auf den Busen herab. In den über dem Schoß gefalteten Händen hielt sie einen halb zerrissenen Myrtenkranz, mit Rosen durchwebt.

Aber, o Wunder! Aus dem Kranze keimten Wurzeln empor, die in einen vollkommenen, mit grünen Zweigen und Blättern versehenen Baum ausliefen, der wie ein Christbaum anzusehen und mit bunten Lichtern geschmückt war. Er trug aber statt des Zuckerwerkes und der vergoldeten Äpfel und Nüsse, die man gewöhnlich an einem solchen Baum zu erblicken pflegt, lauter Waffen und kriegerische Geräte, wie Trommeln, Pfeifen, Pauken, Schwerter, Lanzen und Musketen; oben aber, an der Spitze, zwei schwarze und weiße Fahnen. Die umstehenden Trauerleute waren sein Vater, seine Mutter, sein Bruder, sein Lehrer und andere Bekannte aus seiner Vaterstadt, lauter Personen, die schon lange ins Himmelreich hinübergegangen waren. Als der leise Gesang vorüber war und die Frauen und Männer ihre Gesangsbücher zusammenklappten, da trat der Priester einen Schritt näher an den Sarg und schien sprechen zu wollen, als zwischen die ganze Gesellschaft der Engel im weißen Kleid mit den glänzenden Goldflügeln schritt, den er kurz vorher im Traum gesehen hatte. Die goldenen Flügel des Engels verbreiteten einen überaus hellen Glanz, sodass der Knabe auch das kleinste Stäubchen hätte erkennen können. Nun bemerkte er, dass die Züge des Engels dieselben waren, wie die des jungen Kavaliers, der die Jungfrau von Wanzleben abgeholt hatte. Noch ehe aber der Priester zum Sprechen kam, trat der Engel zwischen ihn und die Leiche, legte den rechten Zeigefinger auf die Stirn des Mädchens und sagte: »Das Mägdlein ist nicht tot, sondern es schläft!«

Augenblicklich richtete sich die Jungfrau im Sarg auf, stieg rüstig von der hohen Bahre herab und schritt an der Hand des Engels aus dem Kreis der Umstehenden. Da erloschen die Lichter, die Männer und Frauen entfernten sich und der ganze Zauber war verschwunden, sodass Benjamin, noch immer in der Tür seines Schlafgemaches stehend, nur die dumpf widerhallenden Schritte vernahm. Ein eiskalter Schauer durchbebte den erschrockenen Knaben. Er legte sich wieder in sein Bett und erzählte am Morgen, als er aufgestanden war, das wunderbare Gesicht seiner Muhme, der Ehefrau des Schlossers, die jedoch die Vermutung aufstellte, er möge wohl alles geträumt haben. Als er später mit seinem Vetter nach Magdeburg kam, fand er bei vielen seiner Bekannten ein Bild vor, das den Sarg mit der Leiche der Jungfrau geradeso darstellte, wie ihm alles zu Wanzleben im Traum vorgekommen war. Auch hörte er, dass am 20. Juli ein Mönch zu Klosterberge dem zerstörten Magdeburg eine Leichenpredigt gehalten und darin angeführt habe, es sei die Jungfrau Magdeburg aus diesem irdischen Jammertal abgerufen und mit Feuer, Trommeln und Pfeifen gut soldatisch begraben worden. Diese Predigt war auch in der Tat zur angegebenen Zeit und an dem genannten Ort von einem Mönch gehalten worden, allein es erschien bald darauf eine zweite Schrift unter dem Titel Magdeburgum redivivum oder das wiederauflebende Magdeburg, welche die Predigt des Mönchs widerlegte und das vorgedachte Bild zum Titelkupfer hatte. Im nächsten Jahr war der junge Kavalier wieder nach Magdeburg gekommen, hat den Knaben reichlich beschenkt, und die Jungfrau selbst hat sich an den schwedischen Rat Christoph Schulze, der sich damals unter den schwedischen Kommissarien zu Magdeburg befand, verheiratet. Jener Traum ist aber herrlich in Erfüllung gegangen, die Stadt Magdeburg ist schöner und glänzender aus ihren Trümmern erstanden und grünt und blüht unter dem schwarzen und weißen Panier.