Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Nick Carter – Carruthers, der Verbrecherkönig – Kapitel 4

Nick Carter
Carruthers, der Verbrecherkönig
oder: Lebendig begraben
Kapitel 4

Carruthers’ Rückzug

Der Detektiv blieb regungslos sitzen, als Morris Carruthers hinter seinem Armstuhl hervortrat und mit zögernden Schritten sich seinem ihm aufgezwungenen Besucher näherte.

»Setzen Sie sich dort auf den Stuhl, Carruthers!«, sagte er gelassen. »Ihre Prahlerei macht Sie in meinen Augen nur lächerlich.«

Doch Carruthers trat bis ganz dich an den Stuhl heran, in welchem Nick Carter mit heiterem Lächeln saß, und starrte mit über der Brust verschränkten Armen auf diesen nieder.

»Wollen Sie nun freiwillig gehen oder soll ich meine Prahlerei, wie Sie es nennen, wahr machen und Sie an die frischte Luft befördern?«, fragte er wütend, wie etwa ein gereizter Kettenhund. »Mir bleibt es gleich, welche Beförderungsart Sie lieben … ein wenig Bewegung schadet meinen Muskeln nichts!«

»Ich sitze recht gut hier und ziehe vor, hierzubleiben!«, versetzte der Detektiv mit überlegener Ruhe. »Lassen Sie doch die törichten Prahlereien, ich wiederhole es. Sie wissen ganz gut, dass Sie mit Ihrer herkulischen Kraft nicht imstande sind, auch nur eine Zehenspitze von mir aus dem Hause zu bringen … und überdies wünsche ich heute noch keine Vornahme von athletischen Übungen in diesem Hause hier – am wenigsten in meiner Gegenwart.«

Carruthers lächelte verächtlich. »Ah, wirklich. Euer Hochwohlgeboren sind zu zart besaitet? Sie wünschen kein solch pöbelhaftes Schauspiel?«

»Nein, ich sagte schon, dass ich keinen Lärm wünsche. Richten Sie sich danach!«

»Gott, wie gnädig!«, stammelte Carruthers, der augenscheinlich vor innerer Wut kaum mehr an sich zu halten vermochte. »Wie nun, wenn ich dich Bürschchen mitsamt dem Stuhl fasse und durch das Fenster werfe? Ich kann dich packen und aufheben, ehe du auch nur aufzuspringen und dich zu verteidigen vermagst!«

»Sie würden eine Kugel in den Kniekehlen verspüren, ehe Sie mir auch nur einen einzigen Schritt näher kommen könnten – zum letzten Mal, Carruthers, lassen Sie diese Prahlereien beiseite – damit schrecken Sie mich doch nicht!«

»Ah, der berühmte Detektiv wünscht mir etwas vorzuschießen, wie interessant!«

Jedoch ungeachtet seiner höhnenden Worte blieb Carruthers plötzlich still stehen, als ob er dem Landfrieden nicht traute. Dabei löste er die Arme aus ihrer Verschränkung und ließ sie lose zu den Seiten herabhängen.

Mit unmerklichem Lächeln verfolgte Nick Carter auch die geringste Bewegung des anderen, denn es war ihm klar, dass sie nicht willkürlich gemacht wurden, sondern ihnen eine bestimmte Absicht zugrunde lag – aber welche eigentlich, das wusste der Detektiv noch nicht.

In der nächsten Sekunde hatte Carruthers die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt und stand nun etwa in der Haltung eines Schulknaben, welcher dem Lehrer ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagt.

»Hören Sie einmal, Carruthers«, bemerkte Nick Carter nun im Tone überlegener Ruhe. »Mir kommt es vor, als hätten Sie diese Doppelbewegung mit den Armen nur gemacht, um verstohlen an diejenige Tasche zu kommen, in welcher zweifellos Ihr Revolver steckt. In Ihrem eigenen Interesse möchte ich Ihnen raten, solche Versuche zu unterlassen.«

»Sie scherzen, Carter!«

Nicks einzige Antwort bestand in einem ausdrucksvollen Schulterzucken.

Nach wie vor saß er in derselben nachlässigen Haltung im Stuhl, als sei er mit dem anderen in freundschaftlicher Unterhaltung begriffen. In Wahrheit aber verfolgte er jede Bewegung des vor ihm Stehenden, ja den geringsten Ansatz zu einer solchen, mit gespannter Aufmerksamkeit.

Anscheinend stand Carruthers auch völlig regungslos, und er hätte wohl jeden anderen außer Nick betrügen und hinters Licht fuhren können. Doch der Detektiv war in jedem männlichen Sport selbst so erfahren, dass er es wohl wahrnahm, wie Carruthers sein Muskelsystem so wundervoll in der Gewalt hatte, dass sich keine Linie seines ganzen Körpers regte, während die ausgestreckten Finger der Hände doch ganz langsam am Rücken hinunter langten und mit jeder neuen Sekunde etwas tiefer kamen.

Nichtsdestoweniger blieb Nick Carter gelassen sitzen, und wohl eine volle Minute brannten die Blicke der beiden Männer ineinander, ohne dass ein einziges Wort zwischen ihnen ausgetauscht worden wäre.

»Well, Carruthers«, versetzte Nick Carter schließlich in freundlichem Ton, »wäre es nicht besser für Sie, sich ruhig dort in jenen Sessel zu setzen? Es muss eine anstrengende Haltung für Sie sein, und Sie können sich den schönsten Muskelkrampf zuziehen, oder meinen Sie, ich wüsste nicht, dass Sie gerade eben mit den Fingerspitzen den Knauf Ihres Revolvers berühren? Lassen Sie ihn aber lieber stecken. Ziehen Sie wirklich, so kann dadurch Ihnen eher als mir ein Leid geschehen!«

»Was für ein außerordentlich aufmerksamer Herr Sie doch sind, Carter, Ihre Teilnahme ist wirklich rührend … vielleicht haben Sie gleich eine Heilsalbe für Muskelkrämpfe mitgebracht – oder nicht?«, höhnte Carruthers.

Dann riss er mit einer Plötzlichkeit, welche jedem anderen, der weniger als Nick Carter auf einer Hut gewesen, hätte verhängnisvoll werden müssen, die Hand hervor. Ein Revolver blinkte in dieser, und mit der Schnelligkeit des Gedankens suchte der Verbrecher die Waffe wider den Detektiv in Anschlag zu bringen.

Doch noch war Carruthers nicht dazu gekommen, die Waffe hochzuheben; ja, die Hand mit ihr war kaum hinter dem Rücken aufgetaucht und die Mündung des Revolvers noch dem Fußboden zugeneigt, als es auch schon aus dem Lehnstuhl, in welchem Nick saß, kurz und scharf krachte.

Carruthers stieß einen wilden Schrei aus und schwankte einen Schritt zurück.

Als ob ihm der Revolver mit einem schweren Knüppel aus der Hand geschlagen worden sei, entfiel ihm dieser und flog auf den Fußboden. Nick Carter dagegen saß nach wie vor bewegungslos und lächelnd – allem Anscheine nach unbewaffnet – da. Nur eine graue Rauchwolke, die vom Polster seines Sessels aus gegen die Decke wirbelte, gab Kunde davon, dass er geschossen haben musste.

Der erste Schreck hatte Carruthers einen Schritt zurückweichen lassen; er stand nun aber schon wieder mit seinem altgewohnten, kaltblütigen Lächeln, blickte erst auf die ihm aus der Hand geschlagene und seitwärts über den Teppich geschleuderte Waffe, und alsdann hob er seine Hand dicht zu den Augen, wie um sie zu betrachten.

»Well, Carter, ich muss gestehen, m Ihrer Gesellschaft langweilt man sich wenigstens nicht«, meinte er scherzend, indem er die völlig unversehrt gebliebene Hand lässig hin und her schlenkerte. »Das war ja ein recht netter Schuss. Viel besser kann ich es auch nicht; es mag Ihnen leidtun, dass Sie anstatt meine Hand nur die Pistole dort beschädigt haben!«

Er machte eine Miene, als ob er sich nach der Waffe bücken und diese prüfend nachsehen wollte. Doch ein scharfer Zuruf des Detektivs ließ ihn von diesem Vorhaben Abstand nehmen.

»Nicht von der Stelle gewichen!«, rief Nick Carter. »Im Übrigen lassen Sie sich gesagt sein, dass mein Schuss sowieso nur der Pistole galt, nicht Ihnen. Hätte ich Sie verwunden wollen, so hätte ich sicherlich nicht fehlgeschossen.«

Carruthers lächelte ungläubig. »Nicht schwindeln, alter Freund – oder nicht prahlen, wie Sie zu sagen vorziehen. Es war immerhin ein guter Schuss, und wollen Sie nun die Güte haben, mir zu sagen, wo sich Ihre Waffe befindet und mit was sie eigentlich geschossen haben? Doch hoffentlich nicht nur mit den Fingerspitzen, wie man Ihnen nachsagt?«

»Durchaus nicht, es war ein Revolver, wie man ihn für Geld zu kaufen bekommt«, entgegnete Nick Carter gelassen. »Und was seine Aufbewahrungsweise anbetrifft, so genüge Ihnen die Erklärung, dass meine Waffen sich immer gerade dort befinden, wo ich ihrer am ersten bedarf.«

»Natürlich im Ärmel.«

»O nein, Mr. Carruthers. Aber m meinem Stiefelschaft. Darum sitze ich auch jetzt noch mit überschlagenen Beinen. Doch ich bin tatsächlich nicht länger zum Scherzen aufgelegt!«, setzte der Detektiv mit erhobener Stimme hinzu. »Wenn Sie nicht wirklich eine Kugel in die Kniekehle gejagt erhalten wollen, Carruthers, so setzen Sie sich, ehe ich bis drei zählen kann, in den Lehnstuhl dort – haben Sie verstanden?«

»Aber selbstverständlich – wer vermöchte einer solch liebenswürdigen Einladung zu widerstehen!« Damit beeilte sich Carruthers auch schon, sich in den Sessel zu setzen.

Im Augenblicke, als dies geschah, erhob sich Nick Carter, zog rasch ein paar blinkende Handschellen aus der Tasche und trat mit ihnen an den Sitzenden heran.

»Es tut mir leid, doch ich sehe mich gezwungen. Sie zu fesseln, Carruthers«, versetzte er. »Es gelüstet mich nicht nach einer weiteren Schießerei, und da ich es mir in den Kopf gesetzt habe, heute nach noch nach den Geheimnissen dieses Hauses Umschau zu halten, so sehe ich mich zu dieser Maßregel gezwungen.«

Carruthers schaute ihn lauernd an. Er war augenscheinlich von dieser plötzlichen Wendung der Dinge durchaus nicht erbaut.

»Nehmen Sie doch Vernunft an, Carter«, sagte er. »Man soll auch den Scherz nicht zu weit treiben. Sie haben zudem kein Recht, mich zu fesseln.«

»Die Hände her, sage ich!«, stieß der Detektiv mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich nehme mir jedenfalls das Recht – und sind Sie damit nicht einverstanden, Carruthers, so mögen Sie sich morgen über mich beschweren und meine Verhaftung beantragen!«

Immer noch zögerte der sich in der Gewalt des anderen sehende Carruthers.

»Well, Carter … ich will Ihrer Torheit nachgeben. Ich wiederhole Ihnen, ich habe nichts in meinem Hause zu verbergen; Sie werden mir den schimpflichen Verdacht noch abbitten, denn ich bin nicht der, für welchen Sie mich halten.«

»Die Hände her!«, stieß Nick Carter befehlend hervor, »oder ich vergesse mich!«

»Seien Sie doch vernünftig, Carter!«, beschwor ihn Carruthers. »Durchsuchen Sie mein Haus, so viel Sie wollen. Sie brauche mich doch nicht dazu. Ich verspreche Ihnen, mich sofort zu entfernen und nicht eher ins Haus zurückzukehren, bis Sie mir es selbst erlauben. Warum wollen Sie mich denn durchaus fesseln?«

Nick Carter stutzte. Gewiss, er war überzeugt, dass er es mit dem denkbar gefährlichsten Halunken zu tun hatte; doch das waren schließlich alles nur in der Luft liegende Vermutungen, für welche es an Beweisen mangelte.

»Well!«, meinte er unschlüssig. »Wenn Sie Wort halten wollen, Carruthers.«

»Aber sicherlich!«, beeilte sich dieser zu beteuern. »Meinen Sie, ich trage nach dem Vorgefallenen Neigung, Ihre Gesellschaft freiwillig nochmals aufzusuchen? Fällt mir ja gar nicht ein. Sie wollen sich eine schlaflose Nacht bereiten und dieses Haus durchsuchen. Nun gut. Sie sollen Ihren Willen haben. Sie werden wahrscheinlich eine Menge parfümierter Billetdoux finden und zu der Erkenntnis kommen, dass ich auch ein großer Schwerenöter sein kann – doch das ist alles. Dass ich es nicht vergesse!«, fügte er unter einem erleichterten Auflachen hinzu, als er wahrnahm, dass der Detektiv die Handfesseln wieder in die Taschen steckte. »Sie werden guten Whiskey und noch bessere Zigarren im Überfluss vorfinden. Tun Sie ganz, als ob Sie zuhause wären – trinken und rauchen Sie nach Belieben. Vielleicht werden Sie morgen früh zu der Erkenntnis gekommen sein, dass ich doch ein besserer Kerl bin, als Sie es sich denken!«

»Well«, entschied der Detektiv. »Dann machen Sie, dass Sie fortkommen. Doch ich erkläre Ihnen, dass ich mich bis morgen früh hier als Hausherr betrachte und jeden, der etwa heute Nacht hier einzudringen wagen würde, ohne Bedenken über den Haufen zu schießen gedenke.«

»Das ist nicht schön von Ihnen, Carter«, bemerkte Carruthers, der seine vorige Elastizität zurückgewonnen hatte. »Was hätten Sie gesagt, hätte ich mich so ungastlich aufgeführt … doch Sie kennen meine Wohnung, nicht wahr?«

»Gewiss. Sie wohnen in dem Apartmenthotel Undine

»Im obersten, zehnten Stockwerk. Sollten Sie mich in irgendwelcher Angelegenheit zu sprechen wünschen, so lassen Sie sich gesagt sein, dass ich von Mitternacht ab bis morgen Nachmittag in meiner dortigen Wohnung weilen und selbstverständlich jederzeit mit Vergnügen bereit sein werde, Sie zu empfangen. Im Übrigen haben Sie hier die zu diesem Hause gehörigen Schlüssel; hier ist auch der Hausschlüssel – und dieser da ist der Schlüssel zur Hintertür. Sie können sich also nach Belieben einschließen und auch die Sicherheitsketten vorlegen, sodass Sie ganz gewiss niemand – und ich am wenigsten – in Ihrer Haussuchung stören kann.« Damit händigte er Nick Carter ein Schlüsselbund aus, welches dieser ohne Weiteres in Empfang nahm.

Mit leichten Schritten ging Carruthers durch den Korridor, nachdem er in diesem gleichfalls Licht angesteckt, nach der Ausgangstür. Vor dieser blieb er nochmals stehen. »Ein Wort im Vertrauen, Carter«, rief er spöttisch. »Sollten Sie Meadows finden, so überlasse ich Ihnen diesen mit Freuden ungeteilt – aber die 55.000 Dollars teilen wir miteinander – abgemacht, was?«

Der übermütige Ton Carruthers verdross Carter; es legte sich ihm seltsam beengend auf die Brust, er wusste selbst nicht recht, warum. So begnügte er sich mit einem verächtlichen Schulterzucken. Er atmete erleichtert auf, als sich die Tür nun hinter dem leise vor sich Hinpfeifenden geschlossen hatte und er sich allein im Hause sah. Schnell schloss er hinter Carruthers ab, legte die Sicherheitskette vor und verwahrte auch die Hintertür in ähnlicher Weise, sodass ohne sein Vorwissen niemand ins Hausbeindringen konnte.

Dann machte sich Nick Carter ohne weiteren Aufenthalt daran, überall in den Räumen Licht anzuzünden. Dann, als er in einem Spiegel plötzlich seine Gestalt erblickte, blieb er stutzig stehen und betrachtete sich überrascht, als ob er sich plötzlich in einer ganz anderen Gestalt sähe.

»Sage einmal. Nick Carter«, fragte er sein Spiegelbild, »sollte dieser Carruthers doch recht haben und du schließlich nichts anderes als ein Riesenesel sein? Wie kamst du dazu, diesen Vorschlag anzunehmen und Carruthers laufen zu lassen. Hm, freilich, ich hatte kein Recht, ihn zu fesseln, doch der Bursche ist jeder Teufelei fähig; sein übermütiges Lachen, sein ganzes Benehmen gefiel mir nicht, er ist imstande, mir es die Nacht über heißzumachen. Ich werde gut tun, scharf aufzupassen. Jedenfalls wäre mir ungleich wohler, der Kerl säße gefesselt im Stuhl und ich hätte ihn unter den Augen!«

Er ging einige Schritte weiter und blieb dann wieder stehen.

»Hm«, flüsterte er beunruhigt. »Was wollte er zu dieser Zeit hier im Hause … Lafont berichtete doch, dass er all die Tage über niemals in der Abendzeit hier vorsprach … dass ich hierherkommen würde, konnte er nicht wissen, denn außer mir kennt nur Inspektor McClusky meine Absicht … bleibt also nur die Annahme, dass er zu einem ganz besonderen Zwecke hierherkam … und ich habe ihn durch meine Dazwischenkunft gestört … es mag auch sein, dass er sein Geschäft schon erledigt hatte und eben fortgehen wollte … darum stand er auch in Mantel und Handschuhen mit dem Hut auf dem Kopfe am Fuß der Treppe … hm, hm, sei kein Kindskopf, Nick Carter!«, setzte er mit schwachem Lächeln hinzu. »Du siehst Gespenster … was kann hier im Hause weiter geschehen. Ich bin gewarnt und werde auf meiner Hut sein … und zudem bin nicht ich es, der diesen Carruthers zu fürchten hat, sondern der Fall liegt gerade umgekehrt – und zudem hat er schon an seinem eigenen Leibe erfahren, dass mit mir nicht zu spaßen ist!«

Nick Carters Besorgnis würde sich noch mehr verstärkt haben, hätte er wissen können, dass Paul Lafont, obwohl es schon stark auf elf Uhr nachts zuging, sich immer noch nicht vorschriftsmäßig im Polizeihauptquartier durch den Fernsprecher oder persönlich gemeldet hatte.