Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Warbattys Testament – 5. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Warbattys Testament

5. Kapitel
Warbattys Geniestreich

Auch diese Nacht verging ohne Zwischenfälle.

Wir frühstückten. Harst in aller Gemächlichkeit; ich recht aufgeregt. Endlich brachen wir auf.

Ich hätte gern wenigstens andeutungsweise erfahren, was sich nun ereignen würde. Ich wusste nichts, konnte mir davon auch keinerlei Vorstellung machen. Harst jedoch zuckte die Achseln.

»Geduld!«

Nun standen wir in dem Tempelhof vor dem Springbrunnen.

»Setz dich bitte«, meinte Harst laut. »Ich werde nun abermals das Rebus zu ergründen suchen.«

»Was soll denn …«

Er ließ mich nicht aussprechen.

»Dass du mir suchen hilfst, hat keinen Zweck!«, rief er und schritt auf den Affen zu.

Ich erlebte nun die Komödie, dass er ganz so tat, als messe er Entfernungen ab – und so weiter.

Plötzlich dann: »Schraut, Schraut, ich habe es! Hier diese große Marmorplatte muss der Kernpunkt sein.«

Nun hob er die Platte hoch.

»Ah – eine eiserne Leiter! Vorwärts, steige mir voran.«

Ich lief hinzu, kletterte hinab. Und er folgte mir, flüsterte jetzt jedoch: »Warte, wir müssen sofort wieder nach oben!«

Er blieb kaum zwei Minuten auf der Leiter. Dann suchten wir wieder die Oberwelt auf; dann blieb der Schacht unbedeckt; dann zog Harst mich in ein Gestrüpp hinein am Fuß einer eingestürzten Mauer.

»Er wird sofort mit seiner Bande erscheinen«, flüsterte Harst.

»Wer?”

»Warbatty!«

»Warbatty? Aber der ist doch …«

»Abwarten!«

Eine Viertelstunde nichts.

Dann zwei Europäer, hinter ihnen sechzehn kleine, fast schwarze Wilde, nur mit Lendentüchern bekleidet, den Kopf bis auf eine Scheitellocke kahl geschoren: Gond – sechzehn Gond, die also Warbattys Verbündete waren.

Nun verschwanden diese schwarzbraunen Teufel in dem Schacht, nun kletterten auch Warbatty alias Professor Meier und Doktor Herbst hinab; nun wieder Stille auf dem Tempelhof.

Harst regte sich.

»Los denn!«, meinte er. »Sperren wir die ganze Gesellschaft ein.«

Im Nu war die Marmorplatte aufgelegt. Und darauf häuften wir Mauertrümmer, bis ein ganzer Berg die Platte bedeckte.

»So, und nun die Gefangenen befreit, Schraut!«

Er lief mir voran. Es ging durch ein paar halb verschüttete Straßen; dann hinein in den Hof eines größeren Gebäudes.

»Also du weißt bereits, wo sie sich befinden«, keuchte ich neben ihm.

»Ja, seit gestern Morgen. Ich habe so ein wenig geschwindelt. Die Spuren führten sämtlich hier in den Hof hinein und nur eine einzelne wieder heraus. Das war die Spur Warbattys, der uns gestern Vormittag dann ja auch gefunden und auf dem Tempelhof des singenden Vogels belauscht hat.«

»Wirklich belauscht?«

»Ich habe ihn ja selbst mit eigenen Augen bemerkt, lieber Schraut. Denke bitte mal an meinen kräftigen Nieser! An dieses überlaute Hatschi! In dem Moment war ich Warbattys ansichtig geworden. Deshalb auch nur die ganze Komödie; deshalb tat ich gestern so, als ob ich das Rebus noch nicht gelöst hätte, deshalb brüllte ich dir so überlaut zu, ich würde heute ganz gründlich an das Geheimnis herangehen und es dann auch sicher aufdeckten. Jetzt jedoch leise! Es befindet sich fraglos ein Wächter bei Pickering und dem Grafen.«

Der Hofraum hatte mehrere Abteilungen. Als wir durch ein paar Distelsträucher in den dritten Hof hineinschauten, sahen wir die beiden Gefangenen in einem Winkel gebunden dasitzen, mit dem Rücken an einen Mauerrest gelehnt. Vor ihnen hockten zwei der kleinen, schwarzbraunen Kerle, die jeder einen Revolver in der Hand hatten.

Die Entfernung von uns zu ihnen betrug etwa siebzig Meter.

»Die Revolver müssen weg!«, flüsterte Harst. »Ich werde sie den Kerlen aus der Hand schießen – weiter kein Kunststück! Und wenn sie fliehen, bekommen sie eine Kugel in die Wade! Halte Dich also bereit.«

Er zielte kurz. Zwei Schüsse nun und zwei gellende Aufschreie.

»Halt!«, donnerte Harst, »halt – stehen bleiben!« Die Gond mussten ein paar englische Brocken kennen, denn sie gehorchten. Wir eilten hin, fesselten sie und befreiten dann die beiden Landsleute, die ihrer Freude jeder auf seine Art Ausdruck gaben: der Graf herzlich und ehrlich dankbar, aber stets mit der abgeklärten Ruhe des Aristokraten, der dicke Rentier voller Temperament und unter einem gerührten Wortschwall und kräftigen Umarmungen. Am liebsten hätte er uns noch geküsst.

Wir fanden auch ihre Büchsen und dann ging es im Eiltempo zum Tempelhof des singenden Vogels zurück. Unterwegs gab Harst den Befreiten in Kürze die nötigen Aufklärungen über die Sachlage.

Pickering rief sehr bald dazwischen: »Ja, Warbatty! Und der andere Halunke heißt in Wahrheit Müller und ist ein verkommener Heilgehilfe und seit Langem Warbattys Spießgeselle, der irgendwie in den Besitz der Personalpapiere eines Doktor Herbst gelangt ist. Er hat uns das selbst höhnend eingestanden. Warbatty hatte ein feines Plänchen ausgeheckt, wie sie uns ausplündern wollten. Wir, der Graf und ich, sollten den braunen Halunken jeder 150.000 Mark Lösegeld zahlen; scheinbar auch Warbatty und Herbst-Müller. Und dieser sollte dann als Abgesandter der Gond nach Haidarabad zurück und das Geld auftreiben. Ich bin Millionär; der Graf ebenso. Das wussten die Schufte. Also glatte Erpressung …«

»Ja«, konstatierte Harst, »und wenn das Geld bezahlt worden wäre, hätte Warbatty Sie beide fraglos für alle Zeit stumm gemacht, aber nicht entlassen!«

Wir hatten den Tempelhof erreicht. Wir hörten sofort, dass die in den unterirdischen Räumen Eingesperrten gegen die Marmorplatte hämmerten. Wir räumten die Steine weg. Dann wurde die Platte etwas gelüftet, und Harst rief hinab, dass wir die Falle da unten ausräuchern würden, falls die Eingesperrten nicht einzeln und ohne Waffen herauskommen würden.

Als Wortführer meldete sich der angebliche Doktor Herbst. Das, womit er seine Antwort begann, war wieder so recht kennzeichnend für unseren aalglatten Freund Cecil.

»Warbatty ist seit ein paar Minuten spurlos verschwunden«, erklärte er. »Er hatte uns befohlen, die Edelsteine aus dem Mosaik der Säulen herauszubrechen, als wir Sie beide hier nicht vorfanden und feststellten, dass der Ausgang verrammelt war. Er wollte inzwischen nach einem zweiten Ausgang suchen. Dann nahm er uns die Edelsteine ab und befahl uns, gewaltsam die Platte zu heben. Und jetzt ist er hier unten nirgends mehr zu finden. Wir werden gehorchen, Herr Harst. Sie haben von uns keinen Verrat zu fürchten.«

Ich kann mich, was den Ausgang dieses Abenteuers angeht, kurz fassen.

Den Gond gewährten wir freien Abzug mit Waffen, behielten nur ihren Anführer und dessen Sohn als Geiseln da. Die braunschwarzen Gesellen waren nun zu Todfeinden des Verräters Warbatty geworden, der sie im Stich gelassen hatte. Sie schworen ihm blutige Rache und halfen uns sogar ihn suchen. Doch er blieb verschwunden.

Gewiss: Harst entdeckte den geheimen Ausgang, durch den er entwischt war. Es war dies eine Falltür in dem Verbindungsgang zwischen den beiden unterirdischen Gewölben. Sie führte in einen gemauerten Gang, der bis zu einem weit entfernten anderen Tempelhof hinlief.

Warbatty war abermals entkommen! Harsts Stimmung kann man sich denken!

Erst als die ergebnislose Verfolgung Warbattys beendet und die Gond entlassen waren, erfuhren wir nun auch, weshalb Warbatty Harst und mich nicht angegriffen hatte, obwohl er dies doch mithilfe der Gond wohl hätte wagen dürfen. Wir erfuhren es nicht etwa durch Müller, der alles in allem ein ungefährlicher Gauner und ein Feigling war, sondern durch Harst, der seines alten Feindes Schliche rechtzeitig durchschaut hatte.

In Gegenwart Müllers erklärte er uns Folgendes: »Als ich Warbattys Gesicht dort drüben auf jener Mauer zwischen den Sträuchern gewahrte, als ich merkte, dass es ihm darauf ankam, uns zu beobachten und nicht etwa sofort unschädlich zu machen, da genügte mir dies als ausschlaggebender Beweis für die Richtigkeit meiner Vermutung, die sogleich beim ersten Lesen des Testaments Warbattys unklar in mir aufgestiegen war. Die Sache ist die: Warbatty muss irgendwie gehört haben, dass man mithilfe des Rebus, das er dann in sein Testament mit hineinbrachte, hier sehr wertvolle Schätze finden könnte. Er wird auch selbst bereits hier an Ort und Stelle versucht haben, das Rebus zu lösen. Es gelang ihm nicht und da kam ihm der geniale Gedanke, mich, seinen Feind, dem er doch mehr Kombinationstalent zutraute, zu seinem Erben zu machen! Ich sollte die Lösung des Rätsels finden, und er wollte dann den Rahm abschöpfen! Das ist der wahre Sachverhalt. Nun, er hat mich unterschätzt! Er wollte mich dort in den unterirdischen Räumen überfallen, als er sah, dass wir hinabgestiegen waren. Es kam jedoch ein wenig anders! Müller, können Sie dies alles nicht bestätigen?«

»Jawohl, Herr Harst. Jedes Wort ist richtig. Warbatty hat vor drei Jahren das Rebus, wie Sie es nennen, einem alten Hindu erpresst, der jedoch die Lösung selbst nicht kannte. Ich traf mit Warbatty dann in Madras zusammen. Dort vereinbarten wir ganz genau unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten, wie Sie dazu ausgenutzt werden sollten, das Rätsel zu enthüllen.«

Wir ließen Müller nachher laufen. Er versprach Harst hoch und heilig, ehrlich zu werden.

Als wir nach Haidarabad zurückgekehrt waren, meldete Harst den Behörden die Auffindung des kostbaren Gewölbes. Der Nizam empfing Harst in Audienz. Wir erhielten jeder ein kostbares Geschenk; Harst einen Brillantring, ich eine Brillantschlipsnadel, die ich nie trage, denn kein Mensch hält den großen Stein für echt. Und doch ist er echt.

Das ist die Geschichte des Testaments Warbattys. Harst hat sie soeben im Manuskript gelesen. Er meint, ich hätte Warbattys Schlauheit mehr hervorheben sollen. »Denn«, sagte er, »einen Todfeind als Rätselrater auszunutzen, das ist beinahe schon übergenial, – wirklich!«