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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 1.3.

Der Auserwählte – Teil 3

London. Bei der Ankunft gab es Nieselregen. Der Köter von Misses Blackhall kläfft wie immer durch das ganze Treppenhaus, der Kater der Amanda Honey stinkt nach wie vor wie eine Herde Ziegenböcke, und Misses Jones grüßt mich immer noch nicht, wenn ich ihr im Treppenhaus einen »Guten Tag« wünsche. Ein dreifaches Hipp-Hipp-Hurra auf die alltäglichen Misslichkeiten, denn sie beweisen uns, dass wir noch leben.

Als ich die Wohnungstür aufschloss, hatte ich das miese Gefühl es könnte alles abgebrannt sein, ausgeraubt oder voller Würmer oder ein außerirdischer grüner Schleim würde alles bedecken. Als Francine noch bei mir war, hatte ich solche Ängste nie. Da war es selbstverständlich, dass alles in Ordnung war. Selbstverständlich – vielleicht liegt darin der Knackpunkt. Ich Trottel bin in die Selbstverständlichkeit dieser Beziehung hineingeschlüpft wie in ausgelatschte Filzpantoffeln. Als ich heute früh aufstand, hatte ich für eine Weile das herrliche Gefühl, diese ganze Bombaygeschichte sei nur ein böser Traum gewesen.

 

Als ich dann mein demoliertes Gesicht im Badezimmerspiegel ansah, war klar, dass ich entweder den Spiegel wechseln muss oder mich unter die Guillotine legen, jedenfalls sieht keiner so aus, der nur geträumt hat. Diese ganze Geschichte in Bombay – ich hätte bei vier oder fünf Gelegenheiten einen anderen Weg wählen können. Ich hätte die Sache beenden können, doch stattdessen bin ich irgendwie immer tiefer in den Schlamassel geraten.

»Irgendwie« trifft die Sache auf den Punkt. Du steckst im Dreck und kannst dich noch nicht einmal genau erinnern, wieso du dort bist. Vielleicht fängt unser kleiner Tony ja an, durchzuknallen. Postlibidinöse Psychopathie. Vielleicht sollte ich mich bei einem Seelenklempner auf die Couch legen.

 

Bei Couch fällt mir diese Französin ein. Wie hieß sie eigentlich? Sie hatte so ein verdammtes Namensschild an der Uniform, aber ich komme nicht auf den Namen. Leila, Lotte, Lucy oder so. Lucy klingt gut. Hier tanzt die Lucy. Jedenfalls war sie das, was der Kotzbrocken Heathercroft einen heißen Feger nennen würde. Ich bin sicher, er hätte seine Chance genutzt und die Frau flachgelegt. Ganz im Unterschied zu mir. Junge – allein diese Vorstellung – dieser fette, schwabbelige, rosige Hintern von Heathercroft und dann lustig rauf und runter. Das muss aussehen wie ein Pavian, der Liegestütze macht. Ich wette, er hat Pickel auf beiden Backen. Nun ja, das ist alles pure Theorie. Aber wie sie mich angesehen hat. Wenn ich jemals im Leben einen Herzstillstand haben sollte, brauche ich mich bloß an diesen Blick zu erinnern, und die Pumpe fluppt wie bei einem Teenie. Scheiß drauf, diese Frau ist doch bloß eine dieser Edelnutten, die sich an alte Säcke hängen wie die Kletten. Der hehre Glanz der Macht und des Luxus im Austausch gegen eine gebührliche Nutzung des weiblichen Geschlechtsapparates durch die alten Böcke. Und wenn die Ziege die ersten Falten am Bump hat und sich der Seigneur eine Jüngere krallt, bleibt immer noch der große Enthüllungsartikel in der Sun: »Ich trieb es mit Husch Ibn Hoschi. Ich machte es ihm mit der Hand und er machte es mir mit dem Mund. Er war wie ein wildes Tier und riss mir die Kleider vom Leib. Nur meinen linken Stiefel und den rechten Handschuh musste ich anbehalten. Wir machten es auf dem Boden, wir machten es im Kronleuchter und wir machten es in der Kloschüssel. Wir trieben es in der Flugzeugtoilette und im Treibhaus. Sein Pint ist 82 Zentimeter lang, 17 Kilo schwer, mit I love England tätowiert und in vier Dimensionen drehbar. Zum Abschied schenkte er mir eine Tüte Abgas seines Porsche und eine Ehrenkarte für die Tombola im Altersheim. Ich werde ihn nie vergessen.« Und damit ist der morgendliche Blutstau für die verklemmten Spießer in der U-Bahn gesichert. Vielleicht sollte ich mich als Pornoschreiberling versuchen? Jedenfalls tut es gut, hier einfach zu sitzen und den Federhalter kratzen zu lassen.

Es geschehen merkwürdige Dinge

Tony Tanner fuhr zu seiner Arbeitsstelle, hatte eine halbstündige Besprechung mit seinem Vorgesetzten, in der alle Unterlagen aus Bombay durchgesprochen wurden, und besuchte nur noch kurz sein Büro. Da seine Reise nach Bombay von Amts wegen mit fünf Tagen anberaumt gewesen war, er aber schon nach zwei Tagen mit allen erforderlichen Informationen zurück war, blieben ihm nun drei Tage zur freien Verfügung, die nicht auf seinen Urlaub angerechnet wurden. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und testete seinen Gemütszustand. Es war schon seltsam, wie sehr zwei Tage einen Menschen aus seinem Lebenszusammenhang zu reißen vermochten. Die Tür wurde aufgestoßen, und Heathercroft platzte herein. Tonys Anblick schien seine Heiterkeit zu erregen.

»Hey, was ist mit deiner Denkerstirn, Tanner. Ist da ein Alien rausgekrochen?«

»Husten. Husten im Kleiderschrank. Sehr gefährlich. Die Situation müsste dir bekannt vorkommen. Und nachdem ich dir jetzt ein pikantes Detail meines Intimlebens offenbart habe, scher dich bitte tunlichst zum Teufel, aber mach vorher die verdammte Tür zu, und zwar von außen, sonst mache ich mir einen Klammerbeutel aus deinem pickeligen Skrotum.« Tony blickte wie eine ganze Meute hungriger Kampfhunde.

Heathercroft setzte zum Rückzug an, stoppte dann aber doch und druckste herum. »Tanner«, setzte er an, »es gibt da etwas, was wir kurz bereden …«

»Wir müssen bereden, warum ich bei deinem Anblick immer an Arbeit denke, statt an Kotztüten, wie es nur dem natürlichen humanen Instinkt entspräche. Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass deine Kollegen immer den Schutt wegräumen müssen, den du liegen lässt, weil du viel zu sehr damit beschäftigt bist, Sekretärinnen anzubaggern, als dass du ernsthaft was für dein weit überhöhtes Gehalt tun könntest. Also verpiss dich, sonst werde ich unter Umständen vielleicht möglicherweise sogar deutlich.«

 

Die Tür klappte zu. Das hatte Spaß gemacht. Tatsächlich gehörte Heathercroft zu den Wesen, die alleine deswegen eine Existenzberechtigung haben, weil es eine tiefe Befriedigung vermittelte, sie zu beschimpfen. Und Heathercroft seinerseits war zu sehr auf die Erweiterung seines geschlechtlichen Erfahrungshorizontes fixiert und verband zudem in kongenialer Weise Arroganz und ein dickes Fell, dass ihm selbst eine Beschimpfung durch eine ganze Horde wortmächtiger walisischer Poeten schlichtweg schnurz gewesen wäre.

Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, traf Tony die psychologische Rache für seinen impertinenten Ausfall gegen einen Beamten ihrer britischen Majestät. Seine Freude über die Beschimpfung Heathercrofts schwand schnell und gerann über das Zwischenstadium eines gewissen Bedauerns, das Tony Tanner als Ausfluss seiner mehr oder weniger erfolgreich absolvierten guten Erziehung ansehen musste, zu einem handfesten Ärger über diesen Idioten Heathercroft, der ohne Anklopfen in fremde Büros einbrach wie der SAS bei einer Geiselbefreiung. Ein kleinerer Dauerlauf war gerade richtig, um den Testosteronspiegel zu senken.

Aber als Tony an der Themse entlang lief, dröhnte sein Kopf bei jedem Schritt, und alle Passanten schauten ihn an, als habe er gerade eben mit seiner Stirn den Tower gerammt.

Schnaufend, mit Kopfschmerzen und immer noch ärgerlich kehrte Tony in sein Domizil zurück. Er duschte und zog sich um. Auf dem Anrufbeantworter war ein Telefonat registriert.

Er spulte zurück und ließ das Band ablaufen. Ihn traf fast der Schlag.

»Hallo Tony, bist du da? Hallo, wenn du da bist, dann geh doch bitte an den Apparat.

Bitte.« Es war Francine. Eine kurze Pause.

»Du bist nicht da, wie? Natürlich bist du nicht da. Du bist ja nie da, wenn ich mal mit dir reden möchte. Klasse was? Drei Sätze und schon bin ich mitten drin in unserer gewesenen Beziehungskiste. Ist vielleicht ganz gut, dass ich dir die Sache auf die Art näher bringen kann. Ich meine, wenn du jetzt an der Strippe wärst, dann würde ich bestimmt losheulen, weil ich dann deine Stimme hören würde und an deinen Dackelblick denken müsste, den du immer hast, wenn wir Streit hatten oder das, was du Streit nennst. Eigentlich hatten wir nie Streit. – Hätte uns vielleicht ganz gut getan. Aber eigentlich gab es ja gar keine Gelegenheit. Wir waren irgendwie ein ideales Paar, nicht? Oh Tony …«

Sie seufzte, und dann gab das Aufnahmegerät eine Weile nur das Rauschen der Leitung wieder und das Knacken, als irgendwo irgendeine Verbindung irgendwohin vermittelt wurde.

Tony glaubte schon, der Anruf wäre zu Ende, aber dann setzte Francine neu an.

»Also – wo ist bloß mein Mist-Taschentuch, sag nichts, ich weiß, ich werde es nie lernen und jetzt bist du ja nicht da, um mir deines auszuleihen. Ja, also, ich wollte dir sagen, dass es mir leidtut. Es hätte nicht so kommen müssen, aber irgendwie – ach ich weiß nicht. Du warst immer unterwegs, und dich, wenn du zurückkommst, auf dem Flughafen scharfzumachen, dass wir dann übereinander hergefallen sind wie die wilden Tiere, das war toll, aber auch tolle Sachen verlieren mit der Zeit an Glanz. Ich meine, du reist in der Weltgeschichte herum und ich hasse Flugzeuge und habe auch meinen Job, und wenn du zu Hause bist, ist alles supertoll und du gehst in die Kneipe oder du hängst mit diesen lächerlichen Kopfhörern herum und lernst so Sachen wie 99 freundliche Sätze in Nieder-Tibetanisch oder Wie sage ich einem norwegischen Fischhändler, dass er ein Arsch ist, ohne dass er es merkt? Für dich war das alles toll, du hattest dein Leben, und ich war das Sahnehäubchen auf Tony Tanners Eisdessert. Deinetwegen hätte es so weitergehen können, ist mir schon klar. Aber du hängst ja auch nicht allein in dieser Scheißstadt. London ist Unterhaltungsmetropole, vergiss es doch. Irgendwann hat eine Frau wie ich auch das drängende Bedürfnis nach einem geregelten Zusammenleben, so richtig spießig mit Nippesfiguren über dem Kamin und einem Sofa von Laura Ashley. Du, mein Lieber, hast dich kein bisschen verändert. Dir passen nicht nur die Hosen von vor zehn Jahren noch, auch der Typ in der Buxe ist der gleiche. Aber ich habe mich verändert, Sonnenscheinchen. Und ich habe mich zu oft verteufelt einsam gefühlt. Hey, ich werde ja richtig wütend, das tut gut. Tony, du bist ein Arsch – nein, bist du nicht, streichen wir das aus dem Protokoll. Ich liebe dich. Ich liebe dich wahnsinnig. Wir waren wirklich so ein perfektes Paar – verdammt, das war jetzt wieder kein bisschen hilfreich. Scheiß-Taschentuch.«

Tony hörte, wie der Hörer auf eine Unterlage geknallt wurde, dann erklang das laute Schnauben, mit dem Francine ihre naseverstopfende Sentimentalität loswurde.

»Weißt du, seit Mama tot ist, war es für mich sehr einsam. Und ich bin nicht mehr der Partyfeger, der ich mal war. Und alle die Leute von früher, die sind weggezogen oder hängen abends nur schlaff in den Seilen und die meisten haben Kinder und wollen gar nicht auf die Piste gehen und wenn, dann ist es unheimlich peinlich, mit so einer hormonell überversorgten Endzwanzigerin in die Disco zu gehen. Ja, und überhaupt Kinder. Verdammt noch mal, ich will mich nicht jeden mistigen Monat drei Tage lang fühlen müssen wie Dracula im Sonnenschein und dann diese Scheißpakete mit Slipeinlagen aus dem Supermarkt schleppen für nichts und wieder nichts. Mutter Natur hat mich mit einer wunderprächtigen Gebärmutter ausgerüstet und ich will was davon haben. Das hast du nie kapiert. Dass ich die Pille nicht vertrage, war übrigens gelogen, aber ich will keine Sondermülldeponie für diesen ganzen Chemiedreck sein. Und irgendwie wäre das für uns auch eine Chance gewesen. Du hättest sicherlich einen perfekten Vater abgegeben, ein bisschen kindisch vermutlich, und ich denke, zu den Elternsprechtagen hätte ich alleine gehen müssen, weil du die Schule ja hasst. Aber sonst – Du bist überhaupt ziemlich perfekt in meinen Augen. Bilde dir jetzt bloß nichts ein. Ich bin einfach bescheuert, das ist es. Hat nichts mit dir zu tun. Ja also, ich will es mal so sagen, wenn man so alleine herumhängt und einem die Decke auf den Kopf fällt, dann macht man mal Fehler. Oder auch nicht. Ich meine, du kennst einen Typen und der hört dir zu und das tut gut. Und weil Männer eben so sind, bumst er dich hinterher. Zwei Stunden erleichterndes Gequatsche und als Bezahlung machst du die Beine breit und hoffst, der Typ macht dir nicht die Frisur kaputt. Das ist ein Geschäft. Ja, und jetzt bin ich schwanger, und weil ich wusste, dass es dich umbringen würde, habe ich unsere Geschichte beendet. Aber ich will das Kind. Es hat nichts mit dem Typen zu tun. Eigentlich ist es dein Kind, denn ich habe immer an dich gedacht, wenn einer von den Seelentröstern auf mir rumrutschte. So, jetzt ist das also auch raus. Ich meine, wenn du das wegstecken kannst, dann können wir uns ja vielleicht noch mal sehen. Vielleicht hast du Lust, mit mir essen zu gehen. Ich sehe dann zwar aus wie die Kuppel von St. Pauls, aber vielleicht stört dich das ja nicht weiter. – Ich fände es schön. Weißt du, ich liebe dich nämlich immer noch. Ich weiß, ich wiederhole mich. Ja, eines muss noch raus, dann haben wir es wirklich überstanden. Der Kerl, von dem es ist, war …«

Tony Tanner hechtete mit wildem Gebrüll auf den Anrufbeantworter los, riss das Gerät mit einem Ruck von der Leitung, rannte in die Küche und steckte es in den Mikrowellenherd.

Dann stellte er den Herd an und tigerte laute Urschreie ausstoßend durch die Räume.

Nach fünf Minuten war die Wohnung voller Qualm, der Anrufbeantworter ebenso ruiniert wie der Mikrowellenherd.

Und Tony war vollkommen heiser.

Er riss alle Fenster seiner Wohnung auf, um den Gestank von verbranntem Gummi und geschmolzenem Plastik zu vertreiben, der Assoziationen von Flugzeugabstürzen, Autounfällen und abgeschossenen Panzern hervorrief. Er lehnte sich aus dem Fenster und schnappte nach frischer Luft. Der Anruf von Francine war exakt das, was die Jäger einen Blattschuss nennen. Auf einmal war wieder alles möglich, und doch blieben seine Gefühle hinter dieser Erkenntnis zurück, zögerten noch, misstrauisch wie ein gerade frei gelassenes Tier an der offenen Tür des Geheges. Wie ein Verurteilter, der plötzlich begnadigt wird, dachte er: »Was, ich werde nicht hingerichtet? Ich bin frei? Das können Sie mir nicht antun, Herr Henker, was soll ich denn jetzt mit dem langen Nachmittag anfangen?«

 

Er brauchte Ablenkung, und da kam es ihm gerade zupass, dass er noch einen Besuch bei Dorkas machen musste.

Tony schnappte sich den Kasten, verstaute ihn in einer Plastiktüte und suchte nach einem Jackett. Sein Koffer war noch nicht ausgepackt. Er öffnete ihn, warf ungeduldig die Kleidungsstücke auf das Sofa und stockte, wie eingefroren in der Bewegung, als er zwei Blätter aus weißem Papier in einer Jackentasche bemerkte. Er musste einen Moment überlegen, bis ihm deren Herkunft klar war. Dann suchte er einen Bleistift und setzte sich mit den Blättern an einen Tisch. Die eifrige Lektüre von altmodischen Kriminalromanen in Verbindung mit der kriminalistischen Kenntnis, die ihm lange Abende vor dem Fernseher bescherten, zahlten sich jetzt voll aus. Vorsichtig setzte er den Bleistift an und schwärzte vorsichtig und mit Hingabe das erste Blatt. Das Ergebnis war enttäuschend. Außer Knicken und Linien, die rein zufälligen Ursprungs waren, konnte er nichts entdecken.

Beim zweiten Blatt hatte er Erfolg. Es musste über dem anderen gelegen haben. Schon bald blieben in dem geschwärzten Feld Spuren zurück, schmale Linien, die der Bleistift nicht erfasst hatte. Zuerst konnte Tony keinen Sinn in der Schrift entdecken. Vergeblich suchte er nach zusammenhängenden Wörtern. Er fürchtete, auf eine fremde Schrift gestoßen zu sein, auf Bengali vielleicht oder Arabisch, denn er glaubte, charakteristische Unterlängen zu erkennen. Schließlich beschränkte er sich darauf, die Linien ganz mechanisch auf ein neues Blatt Papier zu übertragen. Und nun erkannte er es. Vor ihm lag eine Formel. Eine physikalische Formel vielleicht? Nein, da standen Abkürzungen wie Cl, H oder S.

Obwohl Tony von Chemie nicht allzu viel Ahnung hatte, wurde es deutlich, dass es sich um eine sehr komplexe Formel handeln musste. Tony übertrug alles, was er erkennen konnte, noch einmal auf ein neues Blatt, fertigte eine Kopie an, versteckte diese Kopie unter einen Topf, in dem eine vertrocknete Blumenleiche Klage über den Verlust der pflegenden Hand Francines führte, und arbeitete sich durch die Tür in das Treppenhaus. Unter dem einen Arm trug er das ruinierte Mikrowellengerät, in der anderen Hand eine Einkaufstüte mit dem Kästchen für Dorkas. Aber der musste sich noch gedulden. Tony hatte zuvor noch eine andere Erledigung zu machen.

Zwei Stockwerke tiefer musste er an Misses Jones vorbei, die mit einem Blecheimer eine Barrikade auf dem Treppenabsatz aufgebaut hatte und missmutig einen Feudel hin- und herschob. Im Normalfall hätte Tony alles getan, um eine solche Begegnung zu vermeiden.

Misses Jones gehörte zu jenen Exemplaren Mensch, die ihrer eigenen Gattung mit einer Mischung aus Misstrauen und ungeschönter Boshaftigkeit entgegentreten. Selbst Francines sonniges Gemüt hatte an den schwarzen Klippen dieser Einfraudemonstration für die Ausrottung des Menschengeschlechtes Schiffbruch erlitten. Es wehte das Gerücht durch das Haus, dass Misses Jones einst als Krankenschwester Dienst am Nächsten geleistet habe.

Tony hielt das für völlig unmöglich, bis er sich eines Sonntags einen Knöchel verstaucht hatte und den Notdienst eines nahe gelegenen Hospitals aufsuchen musste. Dort hatte er sich einem Wesen in Schwesterntracht gegenübergesehen, das ihn dann allerdings höchst unangenehm an Misses Jones erinnerte und im Übrigen die Feinfühligkeit eines Kopfschlächters bewies. Am Ende einer höchst schmerzhaften Behandlung, über die am nächsten Tag sein Hausarzt wenig lobende Dinge sagte, entschuldigte sich Tony nicht nur, weil er durch seine Ungeschicklichkeit den sonntäglichen Frieden der Ambulanz gestört hatte, sondern empfand tiefste Scham bei dem Gedanken, dass er überhaupt einen Fuß sein eigen nannte, den er zum Zwecke der Verstauchung nutzen konnte, ja, ihn überkamen bohrende Zweifel an seiner Berechtigung, überhaupt auf dieser Welt zu sein.

So kam es, dass Tony, sobald er auch nur andeutungsweise seine Hausgenossin witterte, den Rückzug antrat, indem er sich selbst und der Umwelt mehr oder weniger geschickt vorspielte, er habe seinen Herd angelassen oder müsse noch einen Schlüssel holen.

Heute warf er sich den abschätzigen Blicken der Nachbarin entgegen, die ihn abtasteten wie die Grapschfinger eines Zollbeamten bei einer Leibesvisitation, grüßte laut und freundlich und war wie vom Blitz getroffen, als er tatsächlich eine Antwort aus ihrem Munde erhielt. Natürlich war es kein Gegengruß. Sie hob den triefenden Feudel und brachte ihn wie eine Lanze in Anschlag, um damit auf Tonys lädierten Mikrowellenherd zu deuten. »Was soll das denn sein?«, krächzte sie.

Tony stieg vorsichtig über den Eimer und manövrierte an diversen Wasserpfützen vorbei. »Das ist ein Kunstwerk«, erklärte er ernsthaft mit der krächzenden Stimme, die ihm noch zur Verfügung stand. »Es ist ein Werk des dynamischen Aktionismus und ich nenne es Die Stille nach dem Anruf. Ich werde es gleich für einen fünfstelligen Betrag an eine Galerie in Soho verkaufen. Einen schönen Tag, Misses Jones.«

»So, so«. Misses Jones Stimme triefte vor Missfallen. »Sie produzieren also in Ihrer Wohnung etwas, das Sie Kunst nennen.« Ihre Stimme schraubte sich mit zunehmender Lautstärke in die Nähe jener Tonlage, die für Weingläser und Sektschalen lebensbedrohlich sein kann. »Wenn Sie in Ihrer Kunst herstellen, dann ist Ihre Wohnung eine Werkstatt. Und das ist verboten. Denn die Herstellung von Kunst in einer Werkstatt ist in diesem Haus nicht gestattet. Dies ist ein Wohnhaus. Ich werde die Hausverwaltung benachrichtigen!«

Tony war inzwischen in die rettende Nähe der Haustür gelangt. Beim Klang der Stimme verspürte er eine nicht zu unterdrückende Erektion des rechten Mittelfingers und er war nicht in der Stimmung, derart gesunde Regungen zu bekämpfen. So betrat Tony Tanner die Straße, während seine rechte Hand ein verborgenes, aber dennoch eindeutiges Zeichen des Protestes abgab.

In der Mülltonne fand sich noch ein Platz für sein Kunstwerk. Sein nächster Weg führte Tony in eine Apotheke. Er verlangte krächzend nach dem stärksten Medikament für überstrapazierte Stimmbänder. »Fußball«, erklärte er auf den fragenden Blick des Apothekers.

Ein Mann im blauen Overall mit dem Namenszug einer Sanitärfirma, der neben Tony stand, nickte verständnisvoll. »Arsenal spielt aber auch einen Schrott zusammen in der letzten Zeit. Aber es wird bestimmt auch wieder besser.«

»Wollen’s hoffen«, krächzte Tony. »Im Interesse meiner Schreiorgane.«

Ein herzhafter Schlag auf die Schulter warf Tony fast um, obwohl er als Aufmunterung gedacht war. »Und immer dran denken, Kumpel: You never walk alone.«

DAS habe ich in den letzten Tagen in der Tat zu spüren bekommen, dachte Tony und dankte mit einem matten Winken für die wohlgemeinte Lebenshilfe.

***

Sein Weg führte ihn zu einem der renommiertesten Labors der britischen Chemieindustrie, wo er seinen alten Klassenkameraden Blofield in Amt und Würden wusste. Dort gab er den Zettel mit der Formel in einem Umschlag mit der Aufschrift »Benjamin Blofield, top urgent« ab. Dann trottete er los, um einen Taxistand zu finden.

Als er schließlich vor Dorkas’ Laden stand, konnte er sich einem verbrecherischen Impuls nicht entziehen. Er öffnete leicht die Tür, schob die Hand durch den Spalt, hielt die Glocke fest, die den Eintritt eines Kunden meldete, und schlüpfte fast lautlos in den Raum.

Aus einem Nebenraum klang das Kratzen eines Füllfederhalters.

Tony hob den Kasten beidhändig über die Theke, suchte kurz nach der richtigen Höhe und dann ließ er sein Mitbringsel fallen.

Der Kasten krachte auf die Theke. Eine Staubwolke wirbelte auf.

Das Kratzen endete mit einem erschreckten Haken, ein Stuhl polterte um, dann erschien das dickliche Gesicht von Dorkas in der Tür. Seine angespannten Züge lichteten sich, als er Tony erkannte. »Welche Freude und welches Vergnügen,« strahlte er.

»Welche unerwartete Freude und welches unverdiente Vergnügen. Dieses mit den besten Grüßen von Prabanadrath Devasatri aus Bombay.«

Dorkas fasste den Holzkasten mit den Fingerspitzen, drehte ihn und deutete dann auf Tony. »Öffnen Sie ihn«, forderte er dann.

»Ich denke gar nicht daran. Das ist für Sie. Und außerdem stand auf dem Deckel noch so ein Spruch.«

»Sehr richtig.« Dorkas nickte wohlgefällig wie in Pfarrer, dem ein Konfirmand gerade die Zehn Gebote fehlerfrei aufgesagt hatte. »Der rechte Ort.« Dorkas Hand deutete auf den unordentlichen Laden, in dem sie standen. »Die rechte Zeit.« Er deutete auf die Uhr an seinem Arm. »Der rechten Hand.« Und nun deutete Dorkas auf Tony.

Der zögerte und hob schließlich den Deckel auf.

Der Kasten war mit roter Seide ausgeschlagen. Auf dieser Seide lag ein Gegenstand, den Tony sofort erkannte, obwohl er ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein großer Knoten aus Leder. Auf den zweiten Blick erkannte man die feine Struktur von Schlangenhaut und die Kunstfertigkeit, mit der das Leder zu einem Knoten zusammengefügt worden war. Vor Tony lag die Peitsche des nKum mPhosa, jene Waffe, die an der Scheide jenes tibetischen Dolches fehlte, den er in der Sammlung Matankas gesehen hatte. Der Anblick jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

»Für Sie«, sagte Dorkas.

Tony war derart überrascht, dass Dorkas, nachdem er eine Weile gewartet hatte, seine Aussage wiederholte.

»Das ist für Sie.«

Tony verschluckte sich fast an den Hustenpastillen, mit denen er sich den Mund vollgestopft hatte wie ein gieriges Backenhörnchen, schaffte sich Raum für die Zunge und legte los: »Machen Sie sich aus dem Ding ein Zäpfchen und stecken Sie es sich hin, wohin Sie wollen. Aber erwarten Sie nicht, dass ich dieses Gerät in die Hand nehme, und erwarten Sie weiterhin nicht, dass ich noch einmal meinen Fuß in ihr exquisites Ladenlokal setze.«

Er war schon auf dem Weg zur Tür, als ihn die sanfte Stimme von Dorkas stoppte. »Könnte es sein, Herr Tanner, dass Sie zuweilen zu einer gewissen Dämlichkeit neigen?«

Tony lallte, weil er wieder Hustenpastillen in die Backentaschen schieben musste, nahm aber unterdessen vor der Ladentheke Aufstellung und wirkte ähnlich eindrucksvoll wie ein Wrestler in seiner Ringecke. Merchand banker, dachte er, Merchand banker! Das war ein Cockney-Wort, das »wanker« bedeutete, etwas ganz schön Schmutziges also.

»Dämlich? In der Tat. Denn sonst wäre ich bei Ihrem Anblick schreiend weggelaufen, hätte weder Ihren Kramladen noch überhaupt dieses Stadtviertel jemals betreten und sicherlich keinerlei Expertentipps über Antiquitätengeschäfte im fernen Bombay angenommen. Und hiermit wünsche ich Ihnen Lebewohl!«

Mit gesenktem Kopf, die Arme auf die Theke gestützt, ließ Dorkas die Rede über sich ergehen. Als Tony schwieg, begann er, mit den Fingern auf das Holz zu trommeln. »Sind Sie fertig?« fragte er.

»Mit Ihnen auf jeden Fall.«

»Oh, darin liegt nichts Verdienstliches. Ich bin sozusagen nebensächlich. Aber die Hauptfrage ist doch wohl, sind DIE mit Ihnen fertig, Herr Tanner? Und in diesem Fall, fürchte ich, lautet die Antwort nein.«

»Wer sind DIE?« krächzte Tony.

Dorkas hob nur die Schultern. »Sehen Sie, Herr Tanner, Sie machen mir Vorwürfe, weil Sie glauben, ich hätte gewisse Ereignisse – sagen wir angestoßen. Und wenn ich mir die Spuren in Ihrem Gesicht anschaue, dann kann ich die Schlussfolgerung ziehen, dass Sie in Bombay – hmm, in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Tatsache ist aber, dass ich und meine – nennen wir sie Kampfgefährten –, nicht in der Lage sind, irgendetwas zu bestimmen. Wir können leider nur reagieren. Und das, was Ihnen zugestoßen ist, wäre Ihnen auch zu-gestoßen, wenn Sie mich nie gesehen hätten. Es wäre Ihnen möglicherweise in anderer Form zugestoßen. Aber Sie können dem nicht entgehen, so oder so. Aber ohne uns hätten Sie vielleicht – oder sagen wir es offen – mit Sicherheit, nicht überlebt, denn Sie hätten niemanden gehabt, der Ihnen hilft.«

»Wer sind DIE?«

Dorkas schnaufte ungeduldig. »Ich weiß es nicht. Wir wissen es nicht. Keiner weiß es. Es ist wie ein physikalisches Experiment: Alle Berechnungen deuten darauf hin, dass da etwas ist, aber noch fehlt die Versuchsanordnung, um dessen Existenz zweifelsfrei zu belegen.«

»Und ich bin ein Teil dieser Versuchsanordnung?«

»Vielleicht. Vielleicht sind Sie auch nur ein Teil der Berechnung.«

»Das ist krank. Bin ich hier bei Versteckte Kamera oder ist das eine psychologische Untersuchung irgendeines durchgeknallten Soziologen?«

»Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber leider sind wir mit dem Schlimmsten konfrontiert, das es gibt. Der Realität.«

»Und diese Realität heißt, dass möglicherweise kleine außerirdische Männchen mit großen dunklen Insektenaugen versuchen, mir das Fell über die Ohren zu ziehen?«

»Durchaus möglich«, antwortete Dorkas ernsthaft. »Die Außerirdischen haben wir auf unserer Liste. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wir haben auch walisische Elfen und kontinentaleuropäische Zwerge auf der Verdächtigenliste – bevor Sie jetzt anfangen, zu lachen, das ist kein Witz.«

»Und diesen Zwergen soll ich mit dieser Peitsche eins auf den Buckel geben?«

»Woher wissen Sie denn, dass es eine Peitsche ist? Es sieht doch aus wie ein Schmuckknoten aus Schlangenleder?«

Diesem Einwurf konnte Tony allerdings wenig entgegensetzen. Aber das machte ihn nur noch wütender. »Ich weiß es eben, meine genialische innere Stimme hat gesprochen. Nichtsdestotrotz, vergessen Sie’s. Ich mache diese Spielchen nicht mit. Ich habe mir Blasenentzündungen im Dutzend geholt, weil ich bei Nässe und Kälte vor den Flugbasen der Amis gesessen und gegen Atomwaffen demonstriert habe. Und das habe ich, werter Herr, nicht nur deswegen getan, weil so viele Mädels mit Knackärschen unter den Demonstranten waren. Sondern aus Überzeugung. Im Übrigen, soll ich rumlaufen wie Zorro?«

Dorkas entwickelte jetzt einen Eifer wie ein Verkäufer, der einem Kunden einen Anzug der letzten Saison als hochmodisch andrehen will. »Nehmen Sie es als Gürtel oder als Armband oder …«

»Huh huh«, Tony ließ sein höhnischstes Lachen ertönen. »Und im Verteidigungsfall fummele ich mir das Ding aus dem Gürtel, die Hose rutscht und ich stehe da wie ein Exhibitionist. Klasse Verteidigungsstrategie. Der Gegner ist paralysiert, weil er sich schlapplacht. Wissen Sie was. Machen Sie sich ein Zäpfchen draus und …«

Die letzten Worte sprach Tony Tanner schon auf der Straße. Hinter ihm bimmelte gedämpft die Ladenglocke. Er rechnete damit, dass Dorkas hinter ihm herlaufen würde und legte sich schon einige weitere Bosheiten zurecht. Um so enttäuschender war, dass Dorkas sich keinen Zentimeter aus seinem antiquarischen Kramladen fortbewegte.

Gut, die Sache war gegessen. Für einen Moment lebte er in der wundervollen Illusion der Normalität. Er hatte sich von diesem seltsamen Mann getrennt, er hatte den Reden dieses seltsamen Mannes keine Beachtung geschenkt und damit hatte er sich befreit. Tabula rasa. Zurück in den Alltag. Neustart des Programms. Gleich würde er Francine anrufen. Und spätestens morgen früh würde er sich ihren heftigen Versöhnungsversuchen nicht weiter verschließen und alles würde gut werden und er würde mit ihr zusammenleben und sie würden Kinder haben und aufs Land ziehen und sich einen Hund anschaffen und …

Was war das für ein Auto? Das Motorengeräusch weckte in ihm eine unklare Erinnerung. Und der Fahrer – weißhaarig oder trug er eine Mütze? Tony kniete sich unter dem Vorwand, ein Schuhband knoten zu müssen, hinter einen parkenden Wagen.

Das Motorengeräusch schwoll langsam an, schien neben seinem Versteck eine Weile zu verharren und wurde dann langsam leiser. Mit klopfendem Herzen erhob sich Tony. Vielleicht war er nur Opfer seiner eigenen Fantasie geworden. Vielleicht war er von der Wirklichkeit eingeholt worden. Er fühlte sich seltsam schwerelos, als er seinen Weg fortsetzte. Er war in einem Schwebezustand, irgendwo gebannt zwischen seinem Alltag, dem normalen Leben, das ihm mehr und mehr entglitt und einer Wirklichkeit, die ihm von seltsamen Männern in verstaubten Antiquitätengeschäften eingeredet wurde.

Ganz von Ferne vernahm er in seinem Inneren das Aufbrüllen einer Panik, die hinter ihm wie eine Brandungswelle in den Himmel wuchs. Tony Tanner überlegte kurz und fasste einen Entschluss. Er hatte keine Wahl mehr, die Richtung wurde ihm vorgegeben. Er führte in kurzes Telefonat und nahm sich dann ein Taxi. Vielleicht würde diese Welle bald über ihm zusammenschlagen und ihm den Verstand rauben. Aber solange er noch klar denken konnte, würde er sich wie ein Wellenreiter von ihr weitertreiben lassen, würde die Energie seiner Angst nutzen und – vielleicht würde er den rettenden Strand doch noch erreichen.

***

Der Fußboden war mit glänzenden Kunststoffplatten belegt, die Wände schimmerten in sanftem Lindgrün. Der Flur des Institutes machte einen hellen und freundlichen Eindruck und hätte, mit einigen krakeligen Zeichnungen bereichert, auch zu einem Kindergarten gehören können. Aber jeder Atemzug machte Tony deutlich, dass hinter diesen Türen keine fröhlichen Spiele eingeübt wurden. Ein leiser, aber merklicher beißender Geruch lag in der Luft, eine deutliche Erinnerung an den Chemiesaal von Tonys ehemaliger Schule.

Hinten auf dem Gang öffnete sich eine Tür. Ein Mann steckte den Kopf heraus und winkte zu Tony hinüber.

»Ich komme gleich. Ich muss nur eben noch lüften … » Der Rest des Satzes erstickte in Husten.

Nach einer Weile tauchte der Mann wieder auf. Sein Kittel, der vor langer Zeit einmal weiß gewesen sein musste, war nur noch ein Demonstrationsobjekt für eine Waschmittelreklamesendung, und auch seine Krawatte zeigte Gebrauchsspuren. Sie existierte nur noch zur Hälfte, weil der Rest samt darunterliegendem Hemd weggeätzt worden war.

Tony musste lächeln, als der Mann plattfüßig auf ihn zulatschte und aufgeregt einen Zettel schwenkte. Es war immer wieder unheimlich, wie wenig sich manche Menschen veränderten.

Benjamin Blofield war sich gleich geblieben, seit sie zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Seine Figur hatte inzwischen zwar etwas Birnenförmiges an sich, und die Haare hatten sich zugunsten der Stirn zurückgezogen. Aber die Reste waren ungekämmt wie ehedem, und die dicke Hornbrille saß immer noch schief. Blofield war das Chemiegenie der Schule gewesen.

Vielleicht ist Genie das falsche Wort, er war eher derjenige Schüler, der sich am meisten für Chemie interessierte. Das brachte ihm bald den Namen »Ben the Bang«, denn den mehr oder minder erfolgreichen Abschluss eines Experimentes konnte die Umgebung in den meisten Fällen durch akustische Signale von der Lautstärke einer Bombenexplosion erkennen. Ben the Bang war ein Außenseiter und in dieser Hinsicht ein Seelenverwandter von Tony Tanner.

So kam es, dass die beiden ansonsten sehr verschiedenen Schüler eine Art von Symbiose eingingen, deren eindrucksvollstes Ergebnis noch heute in den Annalen der Schule verzeichnet ist. Es handelte sich um die Herstellung eines ganz passablen Sprengstoffes aus einem Pflanzendünger. Während Benjamin Blofield mit dem Erfolg an sich zufrieden gewesen wäre, hatte Tony ihn zu einem Beweis des praktischen Nutzens seiner Erfindung angestachelt. Der wurde dann in schönster Weise erbracht, als die Müllcontainer der Lehranstalt, von verschwörerischer Hand auf das Rugbyfeld gerollt, explodierten und ihren Inhalt vulkanartig auf die Schlammfläche verteilten, auf der bald das Seelen erhebende Spektakel eines der männlichsten Spiele, das die starke Nation der Briten sich und der Welt zum Geschenk machte, stattfinden sollte. Es bedarf keiner gesonderten Erwähnung, dass ein Schüler, dessen Namen nie ans Licht gebracht werden konnte, den nachfolgenden Spielausfall als großen Vorteil empfand.

Die Untersuchungen, in denen sich sowohl Tanner als auch Blofield als begabte Lügner entpuppten, verliefen im Sande, zumal auch der Schulleitung der Vorfall derart peinlich war, dass er schnellstmöglich unter den Teppich gekehrt werden sollte.

Das Bewusstsein ihres gemeinsamen Verbrechens schweißte Tony Tanner und Benjamin Blofield einerseits enger zusammen. Andererseits war der Kumpel eine stets lebendige Erinnerung an die schändliche Tat, und man begann, sich aus dem Weg zu gehen. Schließlich verloren sie sich aus den Augen und das Letzte, was Tony vor Jahren von Blofield gehört hatte, war dessen Mitarbeit an diesem chemischen Institut. Er war der festen Überzeugung, dass Blofield seinen Arbeitsplatz bald in einen rauchenden Krater verwandeln würde, aber als er sich am Vormittag telefonisch gemeldet hatte, verband ihn eine Sekretärin mit dem »wissenschaftlichen Direktor Benjamin Blofield«.

»Hallo Tony, lang ist’s her, hast dich aber prachtvoll gehalten.« Blofields ausgestreckte Hand wurde ruckartig wieder zurückgezogen, und ihr Besitzer versuchte, eine klebrige Schicht aus der Handfläche abzupulen. Das gelang nur teilweise, weil der Zettel, der an der anderen Hand festklebte, die Aktion behinderte.

Schließlich griff Tony zu und zog Blofield den Zettel aus der Hand.

»Ja also, der Zettel, richtig – mmm, ich habe leider nicht viel Zeit, ich muss den Reinigungsdienst und den Anstreicher benachrichtigen. Aber jedenfalls ist diese Formel ein richtig dicker Hund.«

Blofield vergaß seine Eile und setzte sich auf die Bank, auf der Tony gewartet hatte. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, den Zettel auseinanderzufalten.

»Ein Gas, richtig?« fragte Tony.

»Stimmt genau.«

»Ein Giftgas?«

»Öhh nöö, kein Giftgas im militärischen Sinne. Ein giftiges Gas auf jeden Fall, aber nicht militärisch anwendbar. Um das herzustellen, braucht es einen Aufwand, der für ein Dutzend Atombomben reichen würde.« Blofield tippte mit dem Zeigefinger auf die verschiedenen Teile der Formel, während Tony sich um einen verständnisvollen Gesichtsausdruck bemühte.

»Also, grundsätzlich – grundsätzlich ist die Formel unvollständig. Leider. Die ist nämlich Gold wert. Ja, also ein Gas, teure Ausgangsstoffe, schwer herzustellen, enormer Energieaufwand, große Mengen an gefährlichen Abfallprodukten. Eine absolut exotische Substanz. Wirtschaftlich völlig unbrauchbar. Dabei von höchstem wissenschaftlichem Wert. Ich habe nämlich noch nie davon gehört, dass es überhaupt gelungen ist, einige der Bestandteile zusammenzubringen, ohne dass die miteinander reagieren. Siehst du, dass hier ist der geniale Trick, dieses dreiwertige Oxid verhindert die Reaktion, ohne selbst eine Änderung herbeizuführen. Aber auf so was muss man kommen. Ja, ich würde mir diese köstliche Formel gerne noch einige Wochen in aller Ruhe reinziehen, da steckt Könnerschaft drin. Ähm, hast du sie zusammengestellt? Oder hast du wirtschaftliche Interessen daran?«

»Nein, was ist mit dem Faktor Druck?«

»Druck? Na ja, du brauchst schon enorme Drücke um dieses Gas herzustellen. Aber zu viel darf es auch wieder nicht sein, denn dann müsstest du kühlen wie ein Eismann, denn sonst gibt es eine Reaktion und dann – puuuaaaah.« Blofield erhob sich und wedelte mit den Armen in Richtung Decke. Seiner Pantomime einer riesigen Explosion merkte man die persönliche Erfahrung deutlich an.

»Tja«, auch Tony erhob sich wieder. Er war enttäuscht, obwohl er wenig Hoffnung gehabt hatte, mithilfe der Formel etwas … aber was sollte das gewesen sein … in Erfahrung zu bringen. »Ich schenke dir die Formel, mach was draus«, sagte er, als Blofield ihm den klebrigen Zettel in die Hand drücken wollte.

Er war den Gang schon halb heruntergegangen, als Blofield hinter ihm herrief. »Noch etwas, Tony. Teile dieses Gases erinnern mich an das, was man Ursuppe getauft hat. Die Atmosphäre der Erde zu der Zeit, als sich die ersten Aminosäuren bildeten. Und besuch mich doch mal. Ich habe einen ausgezeichneten selbst gemachten Erbsenwein, den können wir dann trinken.«

Tonys Antwort fiel höflich, aber mit einem merklichen Mangel an Enthusiasmus aus. Er suchte sich eine Telefonzelle, rief an und fuhr mit einem Taxi zum Nationalmuseum.

Im Nationalmuseum absolvierte Tony eine Odyssee durch lange Flure und über Treppenaufgänge, bis er schließlich, direkt unter dem Dach, an die richtige Tür klopfen konnte.

»Herr von Puttkammer ist gerade nicht da«, sagte die Sekretärin. »Aber Sie können so lange in seinem Büro warten. Ein Herr Heathercroft hat das Treffen ja schon arrangiert.« Die Sekretärin lächelte ihn an und Tony verfluchte die Museumsleitung, die die wertvollsten Ausstellungstücke in Vorzimmer unter dem Dach verbannte. Diese kleine Blondine hätte die Auflage jedes Herrenmagazins vervierfacht, selbst wenn sie im Astronautenanzug auf dem Titelbild erschienen wäre. Aber diese Schonung seines Hormonspiegels wurde Tony Tanner nicht zuteil. Sie stand mit hochhackigen Stiefeletten, eng sitzender Jeans und einem Pullover, unter dem sich ihre Brüste mit der Aggressivität zweier gezogener Colts eines Revolverhelden abzeichneten, vor ihm. Sie hatte helle blaue Augen, eine niedliche Stupsnase und einen großen Mund, der wie eine süße, frisch aufgeschnittene einladende Frucht, ausgebreitet auf der Seide ihrer Haut, wirkte.

Tony fixierte eine Fliege an der gegenüberliegenden Wand und bemühte sich, an Hundedreck, Autounfälle und Beinamputationen zu denken. »Ich möchte Ihnen auf gar keinen Fall Umstände machen”, brachte er heraus, wobei seine Stimme wieder in ein ärgerliches, weil unattraktives, Krächzen umschlug. »Ich kann gerne an einem anderen Termin wiederkommen …«

»Nein, nein, der Professor wird bald hier sein.« Sie schwebte zu einer Tür, öffnete und lud Tony mit einer Handbewegung zum Eintritt.

 

Von Puttkammers Büro war klein und mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen, einem Schrank und einem Bücherregal spartanisch eingerichtet.

Tony schaute aus dem Fenster. Außer der Dachschräge und einigen schläfrigen Tauben auf der Regenrinne war nichts zu sehen, was ihm die Wartezeit verkürzt hätte. Aus dem Vorzimmer erklang das Hämmern einer Schreibmaschine, dann wurde telefoniert.

Ein Buch auf dem Schreibtisch erregte seine Aufmerksamkeit. »Autorenverzeichnis / Altertumskunde« stand auf dem Einband. Tony nahm das Buch zur Hand, blätterte und suchte schließlich das Stichwort »von Puttkammer«. »von Puttkammer, Jesus Wilhelm Ludwig«, las er und dahinter die Eintragungen »Theorien zur 1. Zwischenzeit«, »Einige Anmerkungen zu einem Pharao der 7. Dynastie« und »Ausgrabungsberichte 1977 – 1996«. Und Leute, die solche Bücher schrieben, hatten solche Sekretärinnen! Angesichts der Ungerechtigkeit dieser Welt ließ Tony missgelaunt den Daumen über die Seiten gleiten. Dann stockte er, schlug zurück und fand nach kurzer Suche den Namen, der ihm aufgefallen war. »Dorkas, Sir Edmond: Beitrag zur Festschrift für Alwin Bates-Hennopy; Zur Entwicklung der assyrischen Rechtsformeln; Zur Rechtfertigung des Krieges in den Tafeln Assurnarsipals II.; Kampf, Jagd und Elitetheorie im Alten Assyrien; mit Weis, Fritz: Die Geschichte hinter der Geschichte – Priesterschulen, Kriegerbünde und hermetische Zirkel im AO.«

Der Name Fritz Weis hatte in dem Buch keine Eintragung. Bates-Hennopy war dagegen ertragreicher, obwohl Tony aus den Titeln nicht schlau wurde: »Arkanum Magnum sive Opus Hermeticum; Die Symbolik afrikanischer Geheimgesellschaften und ihre Beziehung zum Vorderen Orient; Wanderbewegungen symbolischer Inhalte; Vermutungen zur Wirkungsgeschichte von Gehei …«

Ein Schrei aus dem Vorzimmer schreckte Tony auf. Er riss die Tür auf. Die Sekretärin wälzte sich auf dem Boden, schrie und zog sich die langen Fingernägel durch das Gesicht, auf dem schon blutenden Striemen glänzten.

Der Anblick eines solchen hysterischen Anfalls machte Tony völlig hilflos. Seine Beruhigungsversuche kamen ihm selbst lächerlich vor, nutzlos waren sie allemal, denn die Sekretärin wälzte sich weiter auf dem Boden, schrie weiter und zerkratzte sich, wie von einem bösen Dämon besessen, weiterhin das Gesicht. Tony kniete neben ihr, versuchte ihre Arme festzuhalten, um ihre Selbstverstümmelung zu verhindern und hatte plötzlich selbst die Fingernägel im Gesicht. In einer Mischung aus Schrecken und Empörung packte er fester zu, die Frau zog, und er lag halb auf ihr, als die Flurtür aufflog und zwei Männer in den Uniformen des Wachdienstes hereinstürzten. »Helfen Sie mir«, schrie die Frau und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, »er hat versucht, mich zu vergewaltigen!«

Bevor er überhaupt wusste, was geschah, wurde Tony am Kragen von der Frau heruntergerissen und in einen schmerzhaften Polizeigriff genommen. Die Sekretärin zeigte keinerlei Anzeichen von Hysterie mehr, sondern bot nur noch ein Bild hilfloser Verzweiflung, als sie sich einem der Wachmänner schluchzend an die Schulter warf.

»Lassen Sie mich los, was soll das?« Tony protestierte krächzend und stieß gleich darauf einen lauten Schmerzensschrei aus, denn der Wachmann hatte den Griff nur noch fester gemacht.

»Dir werd ich zeigen, was das soll, du Schwein«, brüllte er in Tonys Ohr.

Tonys rechter Fuß landete einen Treffer in die Kniekehle der Sekretärin.

Die brach mit einem kreischenden Aufschrei zusammen und riss ihren Beschützer halb mit sich.

Für eine Sekunde wurde der Griff um Tonys Arm lockerer, ausreichend, um ihm eine halbe Drehung zu ermöglichen. Sein Knie rammte in den Schritt des Wachmannes.

Als der stöhnend vornüber klappte, warf ihn Tony mit einem kräftigen Stoß in von Puttkammers Büro. Dann riss Tony das Telefonkabel aus der Wand, schmetterte dem anderen Wachmann, der immer noch von der Blondine umklammert halb auf dem Boden lag, das Telefonbuch der City of London über den Schädel, versperrte die Vorzimmertür von außen und rannte. Er dachte nicht nach, sondern wollte nur fort; er warf sich vorwärts in die Flucht, die Bewegung, in das Wegrennen, als läge darin allein schon die Rettung. Dann erst fragte er sich, ob er die richtige Richtung gewählt hatte. Aber für eine Umkehr war es zu spät.

Hinter ihm ließen wütende Faustschläge das Milchglas der Tür scheppern. Er erreichte eine schmale eiserne Wendeltreppe. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er die Tür unter den Schultern der Wachmänner zerbersten hörte. Hastige Schritte polterten über den Gang, Bürotüren wurden aufgerissen, Stimmen erklangen.

Tony hielt sich mit beiden Händen am Treppengeländer fest und sprang mehrere Stufen gleichzeitig hinunter. Seine Schritte hämmerten ein hektisches Stakkato, während er sich mehr stürzend als laufend die Spiralen der Treppe abwärts wand. Wie kam er zu einem Ausgang? Und würde es ihm überhaupt noch nützen oder war es nicht wahrscheinlicher, dass inzwischen schon das Aufsichtspersonal alarmiert war und jeden Ausgang scharf bewachte?

Überall waren jetzt Stimme, Rufe, Befehle zu hören. Eine Alarmglocke schrillte in der Ferne, leise, aber eindringlich und bedrohlich.

Ein Treppenabsatz, ein schmaler Gang, an seinem Ende ein Fenster. Tony hielt an. Was war das? Da hinten am Fenster? Eine Leiter. Und eine Leiter bedeutete ein Gerüst. Und ein

Gerüst war seine Chance.

Es war tatsächlich ein Gerüst, auf dem ein Bottich mit Mörtel stand. Aber das Fenster hatte keinen Griff. Da, wo der Griff zum Öffnen sein sollte, der rettende Griff, der Griff, den Tony brauchte, waren nur leere Schraubenlöcher und ein Umriss aus rohem Holz, von weißer Farbe umgeben. Es war mehr die Wut über die verfluchten Zufälle in dieser widerwärtigen Welt als der Vorsatz, seine Flucht weiterzuführen, die Tony in diesem Moment antrieb. Noch niemals in seine Leben hatte Tony Tanner eine Glasscheibe zerbrochen. Und so war der Ellbogenstoß, der einen Regen von Scherben über das Gerüst niedergehen ließ, ein weiterer Abschied unter den vielen, die er in diesen Tagen nehmen musste.

Hektisch schlug er die größten Splitter, die wie Reißzähne in dem Rahmen steckten, weg. Seine Jacke zerfetzte, ein Schnitt in den Ellenbogen ließ ihn aufschreien. Aber jetzt war die Öffnung groß genug. Er zwängte sich hindurch, machte einige unsichere Schritte auf dem schwankenden Gerüstbrett und war bei der Leiter. Über ihm flog ein Fenster auf, jemand beugte sich hinaus, verschwand wieder, und dann hörte Tony erregte Stimmen. Er hastete die Leiter hinab, kam ins Stolpern, seine Hände packten das rissige Holz der Holme und brachten ihn wieder ins Gleichgewicht, Splitter bohrten sich in seine Handflächen. Er war in einem Lichthof.

Der Kleinlaster einer Baufirma stand verlassen neben dem Gerüst. Ein Torbogen bedeutete den Weg nach draußen, aber als er keuchend unter dem hallenden Gewölbe stand, versperrte ein eisernes Doppeltor den Weg.

Überklettern? Unmöglich. Die eisernen Spitzen waren mehr als bloße Verzierung. Für einen Augenblick hatte er nur den Wunsch, sich vor das Tor zu setzen und einfach zu warten, bis sie ihn endlich packen würden. Dann schüttelte er dieses Gefühl ab und rannte zurück in den Hof.

Noch war kein Mensch zu sehen. Aber der Wagen war da. Und der Wagen war offen. Der Zündschlüssel steckte.

Tony verfluchte sein mangelndes Interesse am Autofahren, als er den Anlasser aufheulen ließ. Der Motor spuckte, sprang an und brüllte unter den Tritten von Tonys Gasfuß auf. Der Rückwärtsgang! Wo war der gottver… Rückwärtsgang? Auf dem Aschenbecher mitten im Armaturenbrett war ein Schaltschema abgebildet, aber Tony schaffte es nicht, den Gang einzulegen.

Der Wagen machte einen Sprung vorwärts, rammte eine Gerüststange, worauf das gesamte Gerüst in gefährliche Schwankung geriet. Eisen schepperte gegen Eisen, Schrauben fielen von Brettern herunter und knallten wie Geschosse auf das Hofpflaster. Staub rieselte. Noch ein Versuch, das Motorheulen überdeckte Tonys gleichfalls heulende Flüche, als er versuchte, den störrischen Schalthebel in die richtige Position zu drücken.

Wieder hüpfte der Wagen nach vorne und sprang wie ein wütender Kampfhund gegen eine Gerüststütze. Dann versuchte Tony es mit Anheben des Schaltknaufs. Er ließ die Kupplung kommen und der Wagen schoss nach hinten, während Tony noch auf das schwankende Gerüst blickte, von dem mehr und mehr Teile herunterprasselten.

Der Außenspiegel kratzte an der Mauerecke, aber Tony schaffte es, den Wagen in die Toreinfahrt zu lenken. Er presste das Gaspedal auf das Bodenblech herunter. Der Motor heulte auf, und dann krachte die Ladefläche des Kleinlasters genau in die Mitte des Tores. Die beiden Flügel wurden zur Seite geschmettert, dahinter lag eine schmale Straße. Zwischen zwei parkenden Autos war eine Lücke, breit genug, so glaubte Tony, wurde aber durch das Geräusch weggeschleuderter Stoßstangen eines Besseren belehrt. Er fegte durch ein Gebüsch und bremste auf einer kleinen Grünfläche, wobei er zwei tiefe Narben in den Rasen pflügte. Dann enträtselte er unter weiteren Flüchen den Mechanismus, der die Tür von innen öffnete.

Zwei junge Männer saßen auf einer Bank, der eine gegen den anderen gelehnt, saugten andächtig an einem Joint und stierten auf den Wagen und den Mann, der heraussprang.

»Äh, ich hab einen voll megageilen Trip«, murmelte der eine, »ich seh hier Typen mit ‘m Auto rumbrettern.«

Tony mischte sich unter die Menschen und glaubte sich hier in größerer Sicherheit, bis er die Blicke der Passanten bemerkte. Ein Blick in das spiegelnde Glas einer Schaufensters zeigte ihm, das er wirklich nicht stadtfein war. Ein aufgerissener Zementsack auf der Ladefläche hatte sein Gesicht überpudert. Durch die weiße Schicht schimmerte die Blutspur, die die Fingernägel der Sekretärin hinterlassen hatten. Seine Jacke war zerrissen und alles andere als gentlemanlike.

In der öffentlichen Toilette einer U-Bahn-Station wusch er sich, so gut es ging. Dann wollte er zu seiner Wohnung, war schon in der Straße, bis ihm klar wurde, dass er jetzt so etwas wie ein gesuchter Verbrecher war. Wohin? Er streifte durch die Stadt, immer auf der Hut vor der Polizei. Schließlich war es dunkel und er stand vor dem Geschäft von Dorkas.

Tony klopfte gegen die Tür, hämmerte schließlich, obwohl ihm klar war, dass er jeden Nachbarn im weiten Umkreis neugierig machen würde. Endlich hörte er über sich Fensterläden quietschen.

Dorkas kapierte schneller, als Tony es gehofft hatte. »Ich komme, seien Sie etwas leiser, Sie alarmieren ja cat and cows.«

Gleich darauf wurde eine Kellertür geöffnet, und Dorkas’ Kopf erschien in einem Treppenabgang. »Was, um Himmels willen, haben Sie verbrochen,« fragte Dorkas, als er Tony durch einen muffig riechenden Keller und dann hinauf in seine Wohnung führte.

»Ich habe einer Blondine in die Kniekehle getreten.«

»Eine etwas aparte Liebestechnik. Und als Beweis zarter Zuneigung geradezu unbrauchbar.«

Dorkas brauchte einige Minuten, um die Sicherungsketten einzuhaken und alle Schlösser an der Wohnungstür zu verschließen.

Tony saß zusammengesunken in einem Sessel, der zusammen mit seinem Gegenstück, einer Lampe und einem kleinen Tisch das darstellte, was für Dorkas wohl ein Wohnzimmer war. Er erzählte Dorkas die Geschichte seines Besuches und schaute sich gleichzeitig unauffällig um.

Die Wohnung wirkte uneinheitlich, ein Bastard aus einer Bibliothek, einem Flohmarkt und einer Junggesellenbude. Dazu kam ein guter Schuss plüschiger, spießigster Gemütlichkeit, der sich in Häkeldeckchen über den Sessellehnen und einer ebenso exotischen wie scheußlichen Schreibtischlampe ausdrückte, die Tony in einem Nebenraum sehen konnte.

Dorkas saß ihm gegenüber. Er trug eine überdimensionierte Cordhose mit abgewetzten Knien, ein groß kariertes Hemd, darüber eine Hausjacke, wie sie Tony zuletzt am Darsteller des Professor Higgins in »My Fair Lady« bewundert hatte, und genau die Sorte von Filzlatschen, die für Tony den Albtraum an kleinbürgerlichem Feierabend darstellten.

»Nun,« sagte Dorkas, als Tony schließlich schwieg, »dass Sie eine Blondine vergewaltigen wollten, mag ja noch hingenommen werden. Aber dass Sie einen Rasen zerstört haben, macht Sie in England zum Volksfeind Nummer Eins.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Art von Humor in diesem Moment richtig zu schätzen weiß, Sir!«

Dorkas erhob sich kichernd. »Grämen Sie sich nicht allzu sehr, das Problem ist mir nicht neu.« Er schlurfte in die Küche und hantierte mit Kesseln und Kannen. »Wir wollen uns an das gute alte Prinzip halten: Keine Rettung der Welt, ohne vorher eine gute Tasse Tee zu trinken. Bevorzugen Sie Earl Grey oder Orange Pecoe? Oder trinken sie lieber einen Grünen?«

»Von Puttkammer ist seit mehreren Wochen nicht mehr in seinem Büro gewesen,« erklärte Dorkas, nachdem er geräuschvoll und unter ständiger Gefahr lebensgefährlicher Verbrühungen einen ausgesprochen schmackhaften Tee zubereitet hatte.

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Junger Mann!« Dorkas zog ironisch die Augenbrauen in die Höhe. »Man bekommt solche Informationen aus der Zeitung. Sunday Times, nur um ein Beispiel zu nennen. Aber man muss natürlich auch die kleinen Meldungen lesen und darf nicht beim Sportteil hängen bleiben. Im Übrigen hat von Puttkammer eine Sekretärin, die seine Affinität zu Mumien in schauderhafter Weise belegt. Eine ausgetrocknete Ziege, die sich mit Hilfe von Kosmetik, Mode und Friseur in die unteren Randbereiche der Attraktivität aufschrillt.«

»Die Kleine in seinem Vorzimmer kann das nicht gewesen sein, Mr. Dorkas. Sie sind ja wahrhaftig ein Kenner des weiblichen Geschlechts! Oder schimmert auch hier Ihre Liebe zu Antiquitäten durch?« Tony kicherte innerlich, als er bei Dorkas eine deutliche Veränderung der Hautfarbe zu einem tiefen Rot registrierte. Es gab doch nichts Schöneres, als die Schwächen seiner Mitmenschen zu entdecken. »Was treibt von Puttkammer eigentlich in der Wüste – und was ist er für ein Mensch?«

Dorkas griff die Frage geradezu begierig auf. »Vor allem ist er unbeliebt. Na ja, er ist Deutscher, eine absolute Ursünde auf unserer Seite des Ärmelkanals. Er hat zwar seit langer Zeit einen britischen Pass, spricht aber das th immer noch so aus, dass sich jedem Cockney die Zehennägel kräuseln. Aber das ist nur der Hintergrund. Er wäre auch verhasst, wenn er ein veritabler Lord Leckmichdoch mit ellenlangem Stammbaum wäre, denn er benimmt sich in der Ägyptologie so, als würde einer mit dem Flammenwerfer in den Wiener Opernball kommen. »

»Wenn ich Ihre poetische Metapher einmal in meine normale Denkweise umsetze, dann hat er in wichtigen Dingen eine fundamental andere Meinung als die Mehrheit?«

»Richtig, als so ziemlich alle anderen maßgeblichen Wissenschaftler, von einigen Pseudokennern und dilettierenden Spinnern mal abgesehen. Das Problem bei von Puttkammer ist, dass er nicht einfach als Anfänger oder Großmaul weggeputzt werden kann. Er hat profunde Kenntnisse, er hat wichtige, auch anerkannte Veröffentlichungen, und er hat archäologische Erfolge vorzuweisen.«

»Und wo liegt der Streitpunkt?«

Dorkas kratzte sich geräuschvoll den Schädel, wobei ein kleiner Schneefall von Hautschuppen auf seine Schultern herunterrieselte. »Also,« setzte er dann zögernd an, »es geht ganz allgemein um Fragen der Datierung. Um ehrlich zu sein, ist mir die Materie auch nicht vollständig vertraut. Vor allem geht es um die Entwicklung der ägyptischen Kultur, ihre Herkunft und Ähnliches. Von Puttkammer ist – na ja, er sieht viele Dinge anders.«

Dorkas stützte das Kinn in eine Handfläche und blickte versonnen in seinen Tee. Er schwieg, lange und beharrlich, und Tony begann schon zu befürchten, er könnte mit offenen Augen eingeschlafen sein. Schließlich sprach Dorkas weiter, aber jetzt wirkte seine Stimme wie die eines einsamen Mannes, der ein Selbstgespräch führt. »Es ist schon seltsam, da gehen ganze Industriezweige verloren, Fabriken verrotten, es werden Kriege geführt, die Jugend steht arbeitslos auf der Straße und manche Menschen haben nichts anderes zu tun, als sich um die Interpretation des Osirismythos zu streiten und die Frage zu diskutieren, ob Seth schon immer der Bösewicht war und ob Osiris nicht ursprünglich ein Schlaffsack ohne cojones war, der erst später mithilfe der Muttergöttin Isis wenigstens ein hölzernes Begattungszäpfchen bekam.«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht so ganz …«

Plötzlich erwachte Dorkas wieder. »Der Zusammenhang? Kurz gesagt, wenn Seth, der in der ägyptischen Mythologie den Bösewicht par excellence spielt, ursprünglich der strahlende Sieger und Herrscher war, dann könnte man daran eine ganz andere Sicht der ägyptischen Kultur anknüpfen. Verstehen Sie, jeder Mythos spiegelt auch Veränderungen des menschlichen Zusammenlebens wider, der Gesellschaft, wenn Sie so wollen. Machtverhältnisse, die Definition von Oben und Unten, von Gut und Böse, von Himmel und Hölle, das wofür der Mensch lebt. In jedem Lehrbuch über Ägypten lesen wir vom Ka, dem überirdischen Gesetz, der Ordnung, die durch die Kultur dargestellt wird. Seth war Herrscher der Wüste, somit Gegner des Ka, so eine Art Punker, der in den sandigen Dünen hauste und die üppigen Gärten am Nil plündern wollte. Und das war auch das Ägypten, das die Griechen bewunderten und das ihr Lehrmeister war. Und dann kommt von Puttkammer daher und spricht von einer ursprünglichen Kultur in der Wüste, von einer Spaltung dieser Kultur, die durch den Streit zwischen Seth und Osiris ausgedrückt wird und so weiter und so fort. Langer Rede, kurzer Sinn, von Puttkammer wühlt seit Jahrzehnten im Sand, um archäologische Belege für seine Theorie zu finden.«

»Erfolgreich?«

»Lange Zeit ohne Erfolge, oder zumindest ohne den erhofften Erfolg. Er fand alte Grabstätten, verlassene Tempel und Städte, und ließ seine Funde wutschnaubend anderen Wissenschaftlern zur weiteren Auswertung, weil sie nicht in sein Weltbild passten. Er ist halt ein unbeugsamer Charakter, starrsinnig, zielstrebig, rücksichtslos gegen sich und andere. Aber in den letzten zwei Jahren arbeitete er mit einem neuartigen Bodenradar. Natürlich in einer Gegend, in der sich sonst kein Altertumsforscher herumtreiben würde, weil da höchstens die verdorrten Überreste verirrter Karawanen zu finden sind. Aber von Puttkammer hat etwas gefunden, und das buddelt er seit vielen Monaten aus.«

»Ist er allein?«

»Er hat selbstverständlich einheimische Helfer und einen jungen britischen Assistenten. Wie hieß der noch …? … Burns, Bruns, Braddock … ich komme nicht drauf. Jedenfalls ein junger Mann mit beachtlicher Selbstverleugnung. Sonst hätte er es, wie die anderen Assis, nicht lange bei seinem Herrn und Meister ausgehalten. Entweder hat von Puttkammer ihn überzeugt oder dieser Bruce, jetzt hab ich’s, Herbert Bruce heißt er, also dieser Bruce ist einer dieser lästigen Universitätsparasiten, die sich wie ein Korkenzieher in den Khyber Pass (Cockney: Arse = Arsch) der Professoren eindrehen, um an diesem eigentlich eher schattigen Plätzchen etwas vom inneren Licht der großen Männer abzukriegen.«

Tony stellte die Frage, die ihm schon seit einiger Zeit auf der Zunge lag. »Was hat dieser von Puttkammer mit Matanka zu tun?«

Dorkas zuckte die Schultern. »Vermutlich nichts, aber wenn dieser Herr Matanka ein Kunstsammler ist, dann ist es für ihn natürlich von größerem Interesse, seine Männer hinter von Puttkammer herzuscheuchen, denn der ist immer gut für eine überraschende Entdeckung an einem unerwarteten Ort. Will sagen, bevor die ägyptische Altertumsverwaltung überhaupt in Gang kommt, kann man einige hübsche Stücke altägyptischer Kunst ohne großes Aufsehen zur Seite schaffen und außer Landes bringen. Machen Sie das einmal bei den größeren Ausgrabungsstätten, wenn Ihnen dabei ein ägyptischer Beamter über die Schulter schaut.«

»Bakschisch«, warf Tony ein.

»Nicht jeder ägyptische Beamte ist bestechlich. Und wenn Sie ein Relief von zehn mal zehn Metern ablösen und transportieren wollen, geht das nicht ohne Zeit und Aufsehen. Nein, das Stichwort Bakschisch greift in diesem Fall nicht. Mich wundert nur, was dieser Herr Matanka an solchen Werken findet. Aber mich wundert sonst noch einiges.«

»Was, zum Beispiel?«

»Dieses Gas, von dem Sie vorhin erzählten. Es gibt keinen Sinn. Wenn es VX gewesen wäre oder ein anderes Nervengas – vielleicht dient es zur Anreicherung eines radioaktiven Stoffes? Oder für die Härtung eines Materials, aus dem man Werkzeuge herstellt. Oder es gibt ein Medium ab, in dem man bestimmte Reaktionen ablaufen lassen kann. Verdammt.«

Dorkas sprang mit unerwarteter Plötzlichkeit auf und ging im Zimmer auf und ab. Das schlurfende Geräusch seiner Filzpantinen nahm der Bewegung allerdings viel von ihrer Dynamik.

»Da studierst du ein halbes Leben lang und es gibt immer noch Dinge, die du nicht verstehst. Aber soll ich deshalb jetzt ein paar Semester Atomphysik oder Chemie dranhängen?«

»Was für ein herrlicher Tag«, stöhnte Tony. »Wir haben also einen spinnerten Deutschen mit britischem Pass, der etwas gefunden hat, ein Gas, das zu nichts nutzt, aber eine größere Bedeutung zu haben scheint, geklaute Kunst und eine Vergewaltigung, die man mir anhängen will.«

»Sie vergessen den von Ihnen vandalisierten Rasen!« Dorkas hatte sich wieder beruhigt. Er schaute auf die Uhr. »Zeit für die Nachtruhe. Sie bleiben selbstverständlich hier. Ich werde morgen einen Bekannten anrufen. Er ist Rechtsanwalt. Spezialist für aussichtslose Fälle. Der paukt Sie irgendwie wieder raus. Im Notfall plädiert er auf momentane, hormonell bedingte mentale Insuffizienz, das macht er nämlich gerne.«

»Und was heißt das?«

»Mmmh, es heißt, dass Sie sich wie ein normaler Mann benommen haben, nur etwas zu viel. Sexuell bedingte Blödheit. Hähähä, das Phänomen ist täglich auf Standesämtern zu beobachten. Dann kommen Sie mit einer Bewährungsstrafe davon. Sie können hier auf dem Sofa schlafen. Ich lege Ihnen eine neue Zahnbürste ins Badezimmer. Daneben stelle ich eine Creme für Ihr Boat Race (Cockney: Face = Gesicht). Ich hoffe sehr, Sie schnarchen nicht?«

 

Tony fuhr aus dem Schlaf hoch.

Er hatte auf dem ungewohnten Sofa falsch gelegen. Sein Nacken schmerzte, sein rechter Arm hing steif und wie ein totes Stück Fleisch von der Schulter herab, seine Kleidung war durchgeschwitzt und klebte auf der Haut. Ein schwerer Dunst von Schweiß stieg von ihr auf und ließ Tony schaudernd an den Geruch von Panik und Blut denken, der um einen Schlachthof wabern mochte wie rötlicher Dunst.

Aber alles das hatte ihn nicht aus dem Schlaf gerissen. Es war dieser Traum. Aber nein, es war eben nicht dieser Traum. Er selbst war es, oder vielmehr irgendetwas in ihm, das sich mit aller Kraft aus diesem Traum herausgewunden hatte, strampelnd wie ein Tier, das in ein Sumpfloch gestürzt ist. Und nun versuchte Tony Tanner, seinen rasenden Puls zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen.

Eine Uhr tickte lautstark, in einem Nebenzimmer lag Dorkas, atmete hörbar und setzte immer wieder an, um die Stille der Nacht in kleine handliche Scheiben zu zersägen. Das alles wirkte in seiner Banalität unendlich beruhigend.

Aber Tony gehörte nicht mehr dazu. Nicht in diesem Moment jedenfalls, da hinter seinen Augen noch die Bilder des – oder sollte es wirklich heißen »seines« – Traumes lebten und mit dem grausamen Gewicht eines Götzenbildes gegen seinen Schädel drückten. Er betrachtete diese inneren Bilder, ungläubig wie jemand, der gerade Zeuge eines katastrophalen Unfalls geworden ist und nun, Sekunde für Sekunde, versucht, die Wirklichkeit dieser rauchenden Trümmer auszublenden, sie um Gottes willen nicht an sich heranzulassen, sie nicht wahr werden zu lassen, weil ein Schrei schon würgend in der Kehle steckt wie ein versehentlich verschlucktes stacheliges Insekt.

Vor sich hatte er eine Frau gesehen. Eine nackte Frau – eigentlich war es nur ein nackter Leib, denn ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Sie lag vor ihm, warm und lebendig, dennoch reglos und abwartend, bis auf die Ebbe und Flut ihres Atmens, der die sanfte Wölbung ihres Bauches leise schwellen und sinken ließ. Seine Fingerspitzen strichen über die glatte Rundung ihres Schenkels, registrierten die Weichheit der Haut, spürten die zarten blonden Härchen, glitten über die Hüfte mit ihrer unerwarteten knochigen Härte unter der Hülle der Haut, retteten sich zurück auf das sanfte Gefälle ihres Bauches, strichen an den ersten dunkleren, festeren Haaren entlang, stiegen hoch und umkreisten ihren ovalen Nabel. Er bemerkte den leisen Schatten, dort, wo sich ihre Haut unter dem Gewicht seiner Finger einwölbte, seine Berührung aufnahm wie eine Schale, die geformt wurde, um klares Wasser aufzufangen und festzuhalten.

Seine Finger verharrten; einen Herzschlag lang genoss er das Spiel zwischen dem Druck seiner Finger und dem Gegendruck ihres atmenden Leibes, empfand eine taumelnde Beglückung auf der unmessbaren Stufenleiter zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, Liebe, Lust und Begierde. Aber dieser Moment schmolz oder gefror in einer Kälte, die von irgendwo herein wehte. Jetzt war es, als säße er wie ein Beobachter in seinem Schädel und müsste durch seine Augen starren, ein hilfloser Pilot in der Kanzel eines Flugzeuges, das sich aller Kontrolle entzogen hat.

Seine linke Hand geriet erneut in Bewegung, strich um den Nabel und wanderte tiefer.

Aber nun geriet etwas anderes in sein Blickfeld, und hier glaubte Tony, sich an sein eigenes Stöhnen erinnern zu können, das durch die pelzigen Schichten des Schlafes bis an sein Bewusstsein gedrungen war. Dieses Andere, dieses Fremde und Bedrohliche, dieses so Schreckenerregende war sein rechter Arm. Sein eigener Arm, an dessen unterem Ende sich eine Hand befand, seine Hand, an der Finger waren, seine Finger, und diese Finger umklammerten den tibetanischen Dolch.

Tony, sein Ich, sein Ego – oder was mag es gewesen sein? – begann zu zucken, sich winselnd zu winden, schließlich wie ein wild gewordener Affe im Käfig seines eigenen Kopfes zu toben. Sein Arm schwenkte über den nackten Frauenkörper, senkte sich. Die Spitze des Dolches, die allein schon durch ihre metallische Feinheit und Härte schauern ließ, dem Auge des Betrachters ähnlich der Medusa schon beim bloßen Anblick Verletzungen zuzufügen schien, senkte sich. Senkte sich und senkte sich mit der urteilslosen Entschiedenheit eines Stachels, durch den das Mückenweibchen fremdes Blut in sich aufsaugt. Blieb vibrierend über der linken Hand stehen, bis sich diese zurückzog und aus dem Blick verschwand. Tony – oder wer auch immer – war über das Stadium des Widerstandes hinaus. Starr und hilflos ließ er die Bilder in sich eindringen, wie ein halb betäubter Zuschauer in einem Kino, auf dessen Leinwand sein eigener Untergang zur Vorführung kommt.

Die Spitze des Dolches senkte sich, berührte die Haut, verstärkte den Druck, bis ein einzelner Blutstropfen aufsprang, der rot und wunderschön anzusehen über das weiße Schneefeld der Haut glitt – und dann war es noch ein Tropfen und noch einer und schließlich wand sich eine kleine rote Schlange abwärts …

 

An diesem Punkt war Tony erwacht. Er packte seinen gefühllosen rechten Arm und hob ihn in eine andere Stellung. Mit vielen kleinen Stichen kehrte das Blut zurück in die Adern.

Er wollte aufstehen, stolperte aber über eine Teppichkante und ließ sich zurück auf das Sofa fallen. Seine Schläfen pochten, er fühlte sich unendlich müde und wagte dennoch nicht, die Augen zu schließen, aus Furcht, die Bilder könnten zurückkehren und ihn wieder bedrängen.

So schaute er in die fahle Dunkelheit, in das Gemenge aus Nacht und den nie verlöschenden Lichtern einer Großstadt und lauschte den Geräuschen aus der Wohnung, dem Haus und der Straße. Er bejubelte insgeheim jedes vorbeiknatternde Moped und jedes Rauschen in einer Wasserleitung, eigentlich Geräusche, die ihm sonst lästig waren. Aber nun hielt er sie hoch wie einen Passierschein, der ihn zurück in die Normalität führen konnte, fort von seiner Angst, er würde aus der Stille der Nacht heraus die Wölfe des Wahnsinns heulen hören. Ihn fröstelte. Er zog eine Decke um die Schultern und saß dann lange im Dämmer. Ein Mann kann alles verlieren, sein Haus, sein Gut, selbst seine Heimat und dennoch gelassen leben, weil er in seinem Inneren einen festen Halt findet. Aber was hat ein Mann, in dessen eigenem Inneren ihm nur die Fratzen des Wahnsinns angrinsen? Was hat dieser Mann außer einer Decke, die seinen schweißnassen Körper wärmt, und die wenigen Momente, in denen sich die grauenhaften Bilder nicht vor seine offenen Augen drängen.

 

Schließlich schlief Tony Tanner wieder ein, aber vielleicht war es auch nur eine lange Ohnmacht der Erschöpfung.

Die Stimme von Dorkas drang in Tonys Halbschlaf des Erwachens. Dorkas hatte sein Telefon in einem engen schallenden Flur aufgestellt, zudem drückte er sein Misstrauen gegen moderne Kommunikationstechniken durch eine Lautstärke aus, die seinen Gesprächspartner vermutlich auch ohne das Hilfsmittel des Telefons erreicht hätte.

» … die Sache mit den Uniformen ist gut. Ich werde mich umhören. Da gibt es sicherlich einiges, das man denen anhängen kann. – Und mit der anderen Sache. Nein … ich habe keine Möglichkeit, an einen Autopsiebericht heranzukommen. Aber ich zweifele auch, ob der von Interesse wäre … Natürlich sind die zurückhaltend, das ist doch eine Sache, von der jeder Boulevardjournalist träumt – nein, nicht mal ein Foto, aber der Bericht stammt aus erster Hand und sollte authentisch sein …!«

Sir Edmond Dorkas beendete sein Gespräch und ging zu Tony.

Der stellte sich auf seinem Sofa schlafend – eine kindische Reaktion, wie er sich selbst eingestand, aber er hatte keine Lust auf Dorkas, keine Lust auf den Tag. Er wollte nur noch schlafen und träumen – doch bei diesem Stichwort riss Tony Tanner die Augen auf. Die Erinnerung an den Traum dieser Nacht überfiel ihn. Geblendet von der Helligkeit des Vormittages schloss er die Lider gleich wieder, aber nicht schnell genug, um den Anblick von Dorkas, der sich mit dem Gesichtsausdruck einer selbstsicheren Katze zu ihm herunterbeugte, zu vermeiden.

»Wenn Sie ein Gebrauchtwagen wären«, klang es in Tonys Ohren, »würde ich Sie nicht kaufen. Schlechte Nacht gehabt?«

Tony nickte.

»Naja,« fuhr Dorkas aufgeräumt fort, »wollen mal sehen, ob ein Frühstück Ihrem Äußeren zu mehr Glanz verhelfen kann. Eigentlich ist es kein Frühstück, eher Mittagessen. Sie haben vielleicht nicht gut geschlafen, aber jedenfalls lange.«

Der Küchentisch legte Zeugnis für Dorkas’ barbarischen Lebenswandel ab. Tony registrierte eine geleerte Dose Sardellen, die Zellophanverpackung eines Kuchens aus einem Supermarktregal, eine Schachtel mit Trockenpflaumen und eine riesige Tasse mit Kakaoresten.

»Ich glaube, ich kann nichts essen«, behauptete Tony aus einem gesunden Überlebenswillen heraus.

»Auf die Gefahr hin, wie meine Mutter zu klingen, aber ein Tag ohne Frühstück ist wie ein zweibeiniges Pferd – und das fällt garantiert auf die Schnauze.«

Auf dem kleinen Küchentisch stapelten sich, sorgsam getrennt von den Krümeln und Sardellensoßenklecksern, einige schmale Zeitschriften. Während Dorkas Tee eingoss und aus einer Abstellkammer einen zweiten Stuhl herbeischaffte – anscheinend war seine Wohnung wirklich nur für eine einzelne Person eingerichtet – versuchte Tony, die Titel der Zeitschriften zu erkennen. Trotz eines lautstark knackenden Nackens misslang ihm das.

Schlimmer noch, Dorkas bemerkte sein Interesse und schnappte sich sofort die oberste Zeitschrift. Er hielt Tony die Titelseite hin. »The Welsch Wiccan Way« lautete der Titel des Heftes. Die Titelzeile war in verschnörkelten Buchstaben geschrieben und mit Motiven verziert, die eindeutig keltische Kunst nachahmten. Darunter war eine Frau gezeichnet, ein Mittelding zwischen Waldfee und Domina in engem Mieder, wallendem Rock und mit Kelch und Dolch in den erhobenen Händen. Alles das machte den Eindruck einer liebevollen, nicht ungeschickten, aber wenig professionellen und zeitgemäßen Gestaltung. Ein Computer jedenfalls war bei diesem Titel nicht eingesetzt worden.

Tonys fragender Blick erübrigte jedes Wort.

»Hübsch, nicht wahr?«, sagte Dorkas. »Das ist das Mitteilungsblatt eines – mmmmh, nennen wir es Hexenzirkels aus dem sangesfreudigen Wales. Wicca ist das angelsächsische Wort für das, was man später Hexe nannte. In den Kreisen dieser sogenannten Neu-Heiden eine gängige Selbstbezeichnung. Solche Mitteilungsblättchen bekommt man übrigens in vielen esoterischen Buchläden. Natürlich treiben sich die Wicca-Anhänger inzwischen auch im Internet herum, aber die Form der Mitteilung über solche Hefte, die meistens zu keltischen Festen erscheinen, ist immer noch beliebt.«

»Und was findet der eifrige Leser in diesen Heften?«

»Oh, einen Kessel Buntes sozusagen – Neuheidentum mit einem großen Schuss Ökologie, Psychologie, Betrachtungen über die Alte Religion, wie es genannt wird, natürlich kommt man an Feminismus und Matriarchatsforschung nicht vorbei, diese Damen haben inzwischen unsere gute alte History zur Herstory umgepolt. Dann gibt es noch viele Briefe und Beiträge von Neuheiden, die ihre persönlichen Erlebnisse und religiösen Visionen schildern – teilweise geradezu peinlich kindisch, teilweise aber auch mit beeindruckendem Ernst.«

»Ich halte das alles für eine Spielerei frustrierter Ex-Kirchgänger.«

Dorkas wiegte den Kopf bedächtig hin und her. »Das war früher auch meine Meinung«, gestand er dann. »Ich dachte, dass sich hier frustrierte Ex-Hippies ihr esoterisches Kuscheleckchen geschaffen haben. Und zum Teil trifft das auch zu. Aber eben nur zum Teil.« Dorkas schlug eine Seite auf, die mit einem abgerissenen Kalenderblatt markiert war. Dann stellte er einen Fuß auf den Küchenstuhl und warf sich in die Positur eines Schauspielers, der einen klassischen Text zum Besten gibt.

»Zwölf prasselnde Feuer umgrenzen den Ort. Zwölf Männer stehen im Rund. Auf ihren Schultern ruhen die Masken des Widders, des Stieres und der anderen Himmelszeichen.

Schatten und Feuerschein umspielen ihre nackten Körper. Rot wie Blut leuchtet ihre bemalte Haut. Aus dem Dunkel der Nacht erscheint die große Priesterin, begleitet von ihren zwölf Fackelträgerinnen. Weiß schimmert das Gewand der Priesterin, mit Gold bepudert glänzen die nackten Leiber ihrer Dienerinnen. Die Priesterin nimmt Platz am Altar und spricht das Gebet zu der Großen Göttin, dann spricht sie die Worte Wir wollen den Acker pflügen für des Jahres Fruchtbarkeit und öffnet ihr Gewand. Sie liegt auf dem Altar, und das erste Zeichen des Jahres nähert sich ihr. Es küsst ihre Brüste und verehrt ihre Scham um dann …«

»Schluss«, schrie Tony. »Das ist ja widerlich.«

»Tatsächlich? Ich dachte, Sie hätten einen Sinn für derartige Unterleibsprosa,« konterte Dorkas trocken.

»Es ist abstoßend, ein wüstes Mittelding aus Selbsterfahrungsgruppe, Sexualtherapie, neu-modischem Bühnenstück und Barbarenritual.«

»Sie haben die feuchten Träume pubertierender Primaner vergessen. Aber ansonsten ist Ihre Analyse sehr stimmig.«

»Um meine Resistenz gegenüber schlechtem Geschmack zu testen, haben Sie mir diesen Schmodder vermutlich nicht vorgetragen?«

Dorkas warf das Heft zurück auf den Stapel und goss sich eine weitere Tasse Tee ein.

Tony hatte die Anzahl der Tassen nicht mitgezählt, war aber sicher, dass Dorkas’ Körperzellen inzwischen vollständig mit schwarzem Tee gefüllt sein mussten.

»Die Dame, der die literarische Welt diesen Höhepunkt verdankt, heißt Sarah Hammond, und sie veröffentlichte diesen Text vor genau einer Woche unter der Überschrift Eine Vision

»Auch das ist noch keine hinreichende Entschuldigung, mich mit dieser Vision zu quälen.«

»Sachte. Sarah Hammond wurde ermordet.«

»Vermutlich von einem letzten verzweifelten Verteidiger des guten Geschmacks.«

»Möglich. Aber würde ein solcher Verteidiger des guten Geschmacks sich die Mühe machen, unsere Autorin mit fünf Messerstichen umzubringen und dabei jeden Stich exakt in die Hochachse des Körpers zu setzen?«

»Das kann Zufall sein.«

»Auch das kann ich Ihnen noch zugestehen. Aber ist es Zufall, dass die Einstiche genau in denjenigen Körperregionen sitzen, in denen eine ganze Reihe esoterischer Schulen, angefangen vom Yoga, die Chakren, die Energiezentren des Menschen sehen? Und kann es Zufall sein, dass sich der Mörder oder die Mörderin die Mühe gemacht hat, die Schädeldecke des Opfers zu durchbohren? Übrigens genau an der Stelle, von der tibetanischen Mönche behaupten, sie diene der Seele als Ausgang, um den sterblichen Körper zu verlassen? Und noch eines – würde sich ein Mörder der Aufgabe unterziehen, seinem Opfer die Augen auszustechen?«

»Das klingt nach einem Perversen aus einem dieser Wicca-Zirkel.«

»Ein Perverser macht sich nicht so viel Mühe. Er schnappt sich irgendein Schulmädchen und praktiziert in Daddys Garage einen selbst gebastelten Satanskult. Oder schubst Grabsteine um und kommt sich dabei gewaltig vor. Oder er pinkelt in die Ecke seiner Gummizelle. Aber er nimmt sich keine Autorin vor, die in esoterischen Zirkeln schon Berühmtheit erlangt hat. Vor allem nicht, wenn sie nur unter Pseudonym veröffentlicht – in diesem Heft nennt sich Sarah Hammond Isadora, Anbeterin der Isis. Und dann der Zeitpunkt der Ermordung. Eine Woche nach der Veröffentlichung ihrer Vision. Warum eine Woche Wartezeit? Und die Antwort: Weil wir erst in der vergangenen Nacht Vollmond hatten!«

»Sie wurde also in der vergangenen Nacht getötet?« Über Tonys Rücken schienen Tropfen von Eiswasser zu rieseln. Der Traum der letzten Nacht drängte sich in seine Erinnerung und krachte in seine Gedanken wie eine Lokomotive, die einen Holzschuppen rammt.

Dorkas brauchte sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen, nach dem Anlass für Tonys Erschrecken zu forschen.

Tony erzählte alles. Er ließ seine Erlebnisse der letzten Tage aus sich heraussprudeln, erbrach förmlich wie ein Kranker alle Abenteuer und Gefahren, die sein ansonsten so braves Leben umgebaggert hatten. Als er geendet hatte, fühlte er sich besser. Er schämte sich und nannte sich selbst einen Schwätzer, aber er fühlte sich besser.

Die beiden Männer saßen eine Weile schweigend in der Küche, zwischen einem Spülstein, in dem sich das verkrustete Geschirr einer ganzen Woche stapelte, und einem Fenster, das den Blick auf einen tristen Hinterhof geboten hätte, wenn sich irgendein Mensch die vergebliche Mühe eines Blickes gemacht hätte. Die Uhr tickte und markierte unverdrossen ihren Weg durch die Zeit.

»Schlimmer als ich dachte«, sagte Dorkas nach einer Weile.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich etwas mit der Sache zu tun …?«

»Doch, das glaube ich. Jedenfalls auch einer bestimmten Ebene, die ich weder höher noch tiefer nennen will, haben Sie eine Verbindung zu der Tat. Stichwort Tat – ich bin sicher, dass es sich um einen Ritualmord handelt. Und warum? Weil diese Frau etwas ausgeplaudert hat, was die Öffentlichkeit nicht erfahren durfte. Und sei es auch nur jener Teil der Öffentlichkeit, der in seltsamen Buchläden stöbert.«

»Also war diese sogenannte Vision etwas, das wirklich stattfindet?«

»Zumindest muss eine Nähe zur Wirklichkeit vorhanden sein. Eine allzu große Nähe wohlgemerkt.«

Tony sprang auf und lief durch die Küche. Seine Ellbogen rempelten scheppernd den Berg von schmutzigem Geschirr. »Wenn es eine Verbindung, welcher Art auch immer, zwischen mir und diesem Mord gegeben hat, dann gibt es auch eine Verbindung zwischen Sarah Hammond und Matanka und allen möglichen Vorgängen. Zumindest ist das naheliegend genug, um sich die Sache näher anzusehen. Und das werden Sie machen.«

»WER, ICH?« Dorkas schaute sich mit leichten Anzeichen von Panik nach einem imaginären Dritten um, der gemeint sein könnte. Erwartungsgemäß fand er niemanden, und so begann er sein Rückzugsgefecht. »Warum ich?«

»Weil Sie der Experte sind, Sir Edmond Dorkas, und weil ich etwas anderes vorhabe – ich kann jetzt doch nicht einfach durch dieses Land reisen, mit der Anklage einer Vergewaltigung im Nacken.«

»Lassen Sie den Sir weg, ich lege nicht viel Wert auf Titel. Aber die Anklage …« Dorkas ergriff begierig die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Anklage, tatsächlich, es gibt eine solche. Jemand hat Interesse daran, die ganze Angelegenheit möglichst hoch zu hängen. Sie sollten also demnächst in keiner Fernsehshow auftreten. Vergewaltigung, Körperverletzung, Beschädigung öffentlichen Eigentums, Sachbeschädigung – für Sie müsste ein neuer Henker eingestellt werden. Aber der Anwalt arbeitet daran. Sie haben in Panik gehandelt, die Frau ist eine Hysterikerin, die Wachleute brutale Wichtigtuer und so weiter. Wie gesagt, er ist ein Experte für aussichtslose Fälle.«

»Nun, dann ist es doch angebracht, wenn ich mich für eine Weile aus dem englischen Klima entferne.«

»Und wohin?«

»Ich dachte an Ägypten.«

»Ägypten!« Dorkas faltete seine Hände.

 

Man konnte das Krachen, mit dem Heathercrofts Unterkiefer auf die Schreibtischplatte aufschlug, förmlich hören. Da Heathercroft keine Durchwahlnummer besaß, hatte Dorkas in der Zentrale angerufen und, nachdem die Verbindung geschaltet war, Tony den Hörer in die Hand gedrückt.

»Tanner, du, ich glaub’, ich hab’ Visionen. Weißt du eigentlich, was hier los war, gestern tauchten plötzlich einige Typen von der Polizei auf und erkundigten sich nach dir und ich …«

»Halt’s Maul«, sagte Tony und war damit auf dem obersten Niveau an Höflichkeit, die er Heathercroft gegenüber aufzubringen vermochte, angelangt. »Ich rufe dich nicht an, damit du mir die Ohren vollquatschst, sondern damit du einige Sachen für mich erledigst.«

»Jetzt habe ich wirklich eine Vision. Bin ich dein Laufbursche? Bist du in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt und willst mich hineinziehen, was?«

»Pass auf, Heathercroft, ich sage es dir nur einmal. Erstens würde sich die mieseste Mafiabande davor ekeln, dich auch nur als Leiche vor der Tür zu engagieren. Zweitens wirst DU morgen schon Laufbursche sein, wenn du mein Gehör auch nur noch eine Sekunde mit deinem Geseire belästigst und nicht genau tust, was ich dir sage. Zur Erinnerung: unautorisierte Informationsabgabe über Büroangestellte an dritte Personen. Das bedeutet den Sekundenrausschmiss, wie sicherlich selbst dir bekannt sein dürfte. Soviel zum Geschäft. Und nun sage ich dir, was du machst.«

Heathercroft wimmerte noch ein wenig, gab aber dann angesichts der Entschiedenheit in Tony Tanners Stimme jeden weiteren Widerstand auf. »Ich brauche einen Flug nach Kairo, schnellstmöglich, Diplomatenstatus, Empfehlungsbrief – die ganze Palette rauf und runter.«

»Wie soll ich das machen, das kriege ich nie durch und außerdem …«

»Wie du das machen sollst, du Pfeife? Zuallererst schickst du die Blondine, die gerade unter deinem Schreibtisch hockt, weg und machst deinen stinkigen Hosenstall zu. Dann beginnst du nachzudenken und …«

Ein tiefes Stöhnen drang durch das Telefon, gefolgt von hektischen Geräuschen, die mit einem Türenknallen ihr abruptes Ende fanden.

»Oh Mann, wo hast du die verdammte Videokamera«, jaulte Heathercroft. »Und auch noch in Farbe, das …«

»Das sollte dich zu der Überzeugung bringen, dass ich meine Augen und Ohren überall habe. Ich weiß viel mehr, als du armes Würstchen jemals auch nur ahnen wirst. Also, ich brauche den Kram bis zum frühen Nachmittag. Noch Fragen?«

»Wie zum Teufel soll ich das machen?«

»Heathercroft, woher diese jungfräuliche Bescheidenheit? Du bist doch auch sonst in der Lage, dich für acht Wochen beruflich nach Hawaii zu schicken, glaube bloß nicht, deine linken Touren wären mir entgangen. Aber um dein armes Gehirn nicht allzu sehr zu martern, gibst du an, dass irgendeine Herzogin, ein Name wird dir schon einfallen, und irgendeine höhere Charge der Kirche irgendwann in der nächsten Zeit ein koptisches Waisenhaus in Kairo besichtigen möchte. Ich brauche drei Wochen – und denk’ dran, dass ich auch eine Kreditkarte der Firma brauche. Off Limits, versteht sich.«

»Ja, ja, ich werde mich bemühen. Und außerdem wollte ich dir noch was sagen, Tanner, es fällt mir zwar schwer, aber …«

»Dass einem Neandertaler wie dir jede Form sprachlicher Äußerung jenseits von Hunger, Durst, Liebe machen schwerfällt, war mir schon immer klar. Also konzentriere dich auf deinen Job und merke dir jetzt, wie du mir die Sachen zukommen lassen wirst. Sonst bringe ich dir nichts Schönes mit!«

Dorkas lehnte im Türrahmen und grinste Tony an, als der den Hörer aufgehängt hatte. »Sie lassen ein bewundernswertes Talent zum Kotzbrocken erkennen.«

Tony zuckte ungerührt die Schultern. »Betrachten Sie es als meine persönliche evolutionäre Anpassung an die Umwelt. Wenn meine Umwelt ein Interesse daran hat, mies zu mir zu sein, dann ändere ich mein Verhalten entsprechend.«

»Wann wollen Sie aufbrechen?«

»Schnellstmöglich. Ich schätze, dass ich am späten Nachmittag fliegen kann.«

Dorkas räusperte sich. »Und Sie sind wirklich der festen Überzeugung, dass sich nicht vorher eine kleine Reise nach Wales einschieben ließe, kleine vierundzwanzig Stunden, darauf kommst es wohl nicht an – und dann könnten Sie sofort ab nach Kairo …«

»Keine Diskussion. Wales ist Ihre Aufgabe, Dorkas. Schließlich haben Sie die Angelegenheit ja auch aufs Tapet gebracht.«

Brummelnd zog Dorkas ab und begann, aus diversen Schränken und Kommoden jene Dinge herauszuziehen und auf sein Bett zu werfen, die er für ein Überleben in Wales für dringend notwendig hielt.

Tony betrachtete eine Weile, wie sich alles stapelte, und fragte erst, als Dorkas Bettlaken und Kissenbezüge neben eine Sammlung von Insektenpulver und Desinfektionsspray legte, ob die Absicht bestünde, eine komplette Eselskarawane zu organisieren.

Auf diese Bemerkung, die – wie Tony sich selbst eingestehen musste – noch ein wenig vom Stil seines Gespräches mit Heathercroft geprägt war, ließ Dorkas das Federbett, das er gerade in der Hand hielt, fallen und murmelte etwas von ‘zu wenig Erfahrung mit Reisen’. Als Dorkas dieses sagte, machte er sich einer Lüge schuldig. Denn der einzigen und wirklichen Wahrheit entsprach, dass Dorkas nicht die allergeringste Erfahrung mit Reisen hatte, weil er noch nie im Leben verreist war. Die Geografie von Dorkas’ Welt wurde durch die Londoner U-Bahn- und Buslinien bestimmt. Jenseits dieser Grenze begann eine unbekannte Welt, die keinerlei Verlockung bot, aber mit größeren Gefahren verbunden war, als sie je ein mittelalterlicher Seemann bei der Fahrt in unbekannte Weite erwartet hätte. Rein theoretisch war sich Dorkas darüber im Klaren, dass die Welt keinen Rand hatte, über den hinaus der unglückselige Wanderer in eine endlose Tiefe stürzen könnte. Aber psychologisch war er zutiefst von dieser Möglichkeit überzeugt, ja, er hätte bei der Frage Besteht die Gefahr, zehn Meilen jenseits der Grenzen von Greater London über den Rand der bewohnten Erde in das Nichts abzustürzen?‹ mit einem schmerzlichen Ja geantwortet und dabei jeden Lügendetektortest mit Bravour bestanden.

Niemals hatte Dorkas die selbst gesteckten Grenzen seines Gebietes überschritten. Niemals hatte er auch nur das Bedürfnis dazu gehabt. Dennoch war Dorkas der Idealtyp eines Entdeckers. Er war der Typ, der kein Risiko scheute, der immer weiter ging als die anderen, der immer wissen wollte, von Neugier, Abenteuerlust und Forschungsfreude getrieben, was hinter dem nächsten Hügel lag. Das Einzige, was Dorkas von einem Henry Livingstone oder einem Ronald Amundsen unterschied, war die Ebene, auf der die Fahrten ins Ungewisse stattfanden.

 

Dorkas erlebte geistige Abenteuer. Er sattelte keine Kamele und spannte keine Schlittenhunde an, sondern er griff nach Büchern. Seine Sümpfe bestanden in den Konjunktivformen des Aramäischen, seine Dschungel in den Königslisten der Assyrer, seine Wüsten in den öden Formeln ägyptischer Grabtexte. Hier scheute er vor keiner Schlussfolgerung zurück, wagte Gedanken und Überlegungen, die dem Rest der wissenschaftlichen Welt so unmöglich erschienen wie der Gipfelsturm für einen Gelähmten.

Die muffige Luft einer Bibliothek ließ Dorkas tief durchatmen, der Mief verstaubter Folianten weckte seine Lebensgeister mehr, als es je der Duft einer Rose vermocht hätte. Im Gegenteil. Die Stadt war für Dorkas, und das konnte er wissenschaftlich belegen, die Keimzelle jedweder höheren Kultur. Jenseits der Stadt lauerte die wilde, ungezügelte Natur und sandte ihre abscheulichen Boten in Form von Bücher anknabbernden Mäusen, denkmalverschmutzenden Tauben oder mauersprengendem Gestrüpp in den umfriedeten Garten holder menschlicher Kulturtätigkeit. Eine Wiese konnte Dorkas höchstens in der Darreichungsform eines impressionistischen Gemäldes in einem Museum ertragen, ansonsten betrachtete er die Versammlung grüner Grashalme als empörend obszöne Zurschaustellung ungezügelten Wachstums und als hinterhältiges Asyl für Unmengen stechender, saugender, bohrender, nagender, knabbernder, kneifender oder Säure verspritzender Kerbtiere.

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Aussicht auf eine Fahrt nach Wales Dorkas in einen Zustand höchster Besorgnis versetzte. Vor einiger Zeit hatte er gelesen, dass Südwales, genauer, die Black Mountains und die Brecon Beacons, ein Übungsgebiet des Special Air Service, einer Eliteeinheit der britischen Armee, ist.

Und nun stand er dem erschütternden Faktum gegenüber, dass er selbst in dieses wilde Land reisen sollte, in dem seiner Überzeugung nach hinter jedem Busch ein übermotivierter Scharfschütze der Armee oder ein walisisch singender Neuheide zu erwarten war.

Tony riss Dorkas mit einem Auftrag aus seinen düsteren Zukunftsvisionen. Da Tony naheliegenderweise nicht in seine Wohnung gehen wollte, musste Dorkas dorthin, um einen Koffer zu holen.

Kofferpacken war niemals die Sache von Tony Tanner gewesen. So erleichterte er sich das Berufsleben, indem er stets eine ganze Reihe von Koffern bereitstehen hatte, die er nach einem festen Schema packte. Es gab einen Koffer für gemäßigte Zonen, einen für heiße und einen für kalte Gegenden, und da nichts auf der Welt so einfach war, als dass es durch einen Tony Tanner nicht noch etwas komplizierter werden könnte, waren die Koffer noch nach den Kategorien Grandhotel, unauffällig und Safari unterteilt, wobei Winter/Safari keine weiß gefärbte Tropenkleidung enthielt, sondern eine Auswahl von Kleidungs- und Ausrüstungsstücken, die jeden Polarforscher mit Neid erfüllt hätten. Die Wahrscheinlichkeit, diese Herrlichkeiten jemals nutzen zu können, lag bei Eins zu einer Milliarde, aber wer wusste denn, ob nicht ein Mitglied der Royals einmal von dem Wunsch übermannt würde, eine britische Antarktisstation zu besichtigen? Das Äußere der Koffer entsprach ihrem Inhalt, wobei die Auswahl von feinstem Leder über Leichtmetall bis zu grobem Leinen ging, dem man seinen horrenden Preis nicht ansah. Tony instruierte Dorkas genau, welchen Koffer er holen sollte. Allerdings war er sich selbst in diesem Moment nicht sicher, wo der erwünschte Heiß/unauffällig in der Reihe stand. Immerhin konnte er Dorkas auf den Weg geben, dass es sich um einen sandfarbenen Leichtmetallkoffer handeln musste. Auf dem Rückweg musste Dorkas an einen bestimmten Taxistand und dort, nach Austausch eines Passwortes, Tonys Reiseunterlagen in Empfang nehmen.

Dorkas hüllte sich in einen langen karierten Mantel, setzte eine Mütze mit Augenschirm und hochgebundenen Ohrenklappen auf und bewaffnete sich mit einem Schirm. »Sie können gerne das Telefon benutzen. Falls Sie Langeweile haben, spülen Sie einfach das Geschirr«, sagte er und empfahl sich.

Tony erkundigte sich telefonisch nach dem nächsten Flug nach Kairo. Es blieben ihm dreieinhalb Stunden. Genug Zeit, aber sicher nicht genug für Langeweile. Oder doch? Sein soziales Gewissen siegte und er machte sich seufzend daran, den Geschirrstapel zu reinigen.

Als er alle Teller und Tassen abgewaschen hatte, stand er mit Händen, von denen der Schaum klatschend auf den Boden tropfte, in der Küche und suchte nach einem Abtrockentuch.

Er fluchte halblaut vor sich hin. Was für eine miese Welt! Ein Butterbrot fiel immer auf die falsche Seite, die Bahnschranken waren stets geschlossen und ein Abtrockentuch war nie zur Hand, wenn man es brauchte. Er brauchte nur die Augen zu schließen, schon sah er Francine vor sich, wie sie theatralisch mit den Augen rollte und ihren Standard-Küchenspruch: Was ist die Steigerung von Volltrottel? – Mann! losließ.

Schon etwas lauter fluchend wagte Tony einen Durchbruch in das Badezimmer, wo er sich eines rosafarbenen Badelakens bemächtigte. Es war nicht leicht, das Geschirr mit dem großen Frotteetuch trocken zu reiben, aber er schaffte es ohne Verluste und stapelte hochbefriedigt Teller und Tassen zu sauber glänzenden Stapeln. Jetzt war eigentlich die Gelegenheit, Francine anzurufen.

Als er das Badetuch zurückbrachte, fiel ihm ein Bilderrahmen auf, der in dem kleinen Flur vor dem Bad hing. Jetzt, wo das Licht durch eine geöffnete Tür fiel, sah er, dass er kein Bild enthielt, sondern um eine Buchseite. Dorkas blieb also auch seinem ganz speziellen Stil treu.

Neugierig trat Tony näher. Das schützende Glas spiegelte. Er musste halb in die Hocke gehen, um die Buchstaben zu entziffern. Es handelte sich um eine Fotokopie aus einem wissenschaftlichen Werk, soviel war auf den ersten Blick zu erkennen. Frag. gnost. graec. stand oben auf der Seite. Und darunter las er:

 

»Ohne Zweifel gibt es unter den Juden Männer von ganz besonderer Weisheit, selbst wenn jeder gebildete Mensch den Glauben dieses Volkes, sie seien auserwählt und das einzige Volk ihres einziges Gottes, heftig missbilligen muss. Denn sind wir nicht alle mit den Schwächen des Fleisches geschlagen, in gleicher Weise, ob Mann und Frau, und genauso wenn wir dunkelhäutig dem wilden Nubien entstammen, wie es auf die beutelüsternen Stämme des Nordens zutrifft. So sagen die Christen … nicht nur von seinem Volk hochgelobt, sondern auch von Fremden, besaß Rauschai sowohl Klugheit als auch Wissen. Mag jeder selbst entscheiden, ob er dem Wissen oder der Klugheit den Vorzug gab, als er bei seiner Arbeit an dem, was die Juden Talmud nennen, diesen gewissen Text mit Stillschweigen überging, den er, wie manche behaupten, von einem persischen Magier … jener Männer, die in Höhlen oder Klöstern rund um das Tote Meer lebten, wie andere sicher zu wissen meinen. Die Ehrfurcht der Juden vor dem geschriebenen Wort ist bekannt und verdient Bewunderung und höchstes Lob. Daher ließ Rauschai einen silbernen Behälter anfertigen, in dem er das Stück Schriftrolle aufbewahrte. Er ließ aber den Behälter versiegeln und sicher verschließen, auf dass niemand den Text herausnehmen und lesen könne und auf diese Weise von Zweifeln übermannt würde. Den Behälter übergab er aber, wie ich sicher weiß, seinem ältesten Schüler, mit der Verpflichtung, ihn gleicherweise weiterzugeben bis auf den Tag der von ihnen erhofften Zeit des Messias. Und es heißt, dass niemand die Worte der Schriftrolle lesen dürfe, bis dass der Erhoffte den Behälter aufbricht und die Worte laut vorliest und spricht: Höret, dies sind die Worte des Lügners, denn sehet, ich bin gekommen. Ich traf aber in Alexandria einen Vorbeter der Synagoge, der behauptete, er kenne die Worte der Schriftrolle, denn sein Ahn habe den Rauschai belauscht zu dessen Zeiten in Babylon, wie dieser die Worte laut las und darauf erschrak und viele Wochen fastete und noch mehr betete, als es die Männer dieses Volkes an sich schon tun. Und die Worte der Schriftrolle gingen so: Verflucht seien die Söhne der falschen Götter, denn um ihrer Willen wurde der Himmel verschoben und die Sterne von ihrem Platz versetzt, an den sie der Herr befohlen hatte, sodass die Taube sich verirrte und der Wanderer in der Wüste fehlging und …« Hier war die Seite beendet.

»Ich sehe, Sie haben meine Wendemarke entdeckt.« Dorkas stand plötzlich hinter ihm.

Tony wollte hochfahren, aber seine Knie waren steif und gaben nur widerwillig nach.

»Hier sind Ihre Reiseunterlagen.« Dorkas hielt Tony einen dicken braunen Umschlag hin.

Tony stakte zum Küchentisch und ließ den Inhalt des Umschlags herausgleiten. Heathercroft hatte pariert. Und auch der Koffer stand in der Tür.

»Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand folgt«, sagte Dorkas. »Aber ich kann mich auch täuschen. Ich bin, glaube ich, etwas überempfindlich.«

»Nun, wenn nicht in den nächsten Minuten die Wohnung gestürmt wird, war es wohl eine Täuschung. Und wenn nicht? Dann können wir auch wenig machen, außer durch den Hinterausgang zu verschwinden. Aber … Wieso Wendemarke?«

Dorkas schaute verständnislos auf Tony. »Na, Sie nannten diese Fotokopie doch Ihre Wendemarke, wenn ich mich nicht total verhört haben sollte.«

»Haben Sie nicht. Wie viel Zeit bleibt Ihnen noch?«

Tony schaute auf die Uhr. »Mindestens zwei Stunden. Ich will auf keinen Fall auch nur eine Minute am Flughafen warten müssen.«

»Das reicht also für einen Rosy Lea (Cockney: tea = Tee). Und dann erfahren Sie die Sache mit der Wendemarke.«

Es bereitete Tony ein tiefes Unbehagen, sehen zu müssen, wie Dorkas das gespülte Geschirr wieder in Gebrauch nahm. Dennoch war die Aussicht auf so einen frischen Rosy Lea nicht schlecht.

»Der Text, den Sie vorhin gelesen haben«, erklärte Dorkas, »stammt von Diomedes Kybernes. Wie der Name schon sagt, muss es sich um einen Seemann gehandelt haben, der das gesamte Mittelmeer bereiste und vielleicht sogar die Biskaya, den Ärmelkanal und die afrikanische Westküste kannte. Aber das tut nichts zur Sache. Er lebte im 6. Jahrhundert, die genauen Daten weiß man nicht.

Also dieser Diomedes war kein selbstständiger Denker, aber ein begabter Sammler. Er verzichtete allem Anschein nach darauf, bei seinen Hafenaufenthalten die üblichen Bordellbesuche zu machen, sondern besuchte statt dessen Kirchen, Sektenhäuser, Synagogen und Philosophenschulen, in denen sich die letzten Heiden trafen. Er war besonders von den gnostischen Lehren fasziniert, obwohl die Kirche zu seiner Zeit schon den Kampf gegen diesen gefährlichen Feind gewonnen hatte.«

»Gnostik sagt mir nicht allzu viel.«

»Kurz gesagt eine Glaubenshandlung, die darauf hinausläuft, diese Welt als fundamental schlecht anzusehen, weil sie nicht von dem wirklichen Gott geschaffen wurde, sondern von einem Demiurgen, einer Art Satan, der mit unserer Welt die eigentliche Welt Gottes nur nachäffte. Aber das ist im Moment Nebensache. Diomedes Kybernes lebte relativ lange und schrieb bis zu seinem letzten Atemzug. Er schuf eine regelrechte Bibliothek der antiken Religionen. Sie existierte in Konstantinopel bis zur Eroberung durch die Kreuzritter. Bei der Plünderung ging sie verloren. Dieser Text, den ich mir als Kopie in den Flur gehängt habe, ist alles, was von seinen Schriften noch geblieben ist. Möchten Sie noch einen Rosy?«

»Gern!«

»Der Rauschai, den Diomedes dort erwähnt, ist niemand anderes als Raw Aschi, der den babylonischen Talmud zusammenstellte. Übrigens nicht zu verwechseln mit dem Raschi, der am Mittelalter in Frankreich lebte. Nun, und der Text, den Raw Aschi ganz bewusst nicht in seine Sammlung aufnahm, ist die sogenannte dritte Genesis-Variante.«

»Ich versuche, verständnisvoll zu blicken, aber ich fürchte, es misslingt mir doch …«

»Wir alle habe in der Sonntagsschule gelernt, dass es zwei verschiedene Versionen der Schöpfungsgeschichte gibt. Einmal wird der Mensch zusammen mit den anderen Geschöpfen erschaffen, ein anderes Mal aus Lehm geformt und in den ominösen Garten gesetzt. Und es muss eine weitere Variante gegeben haben, die in jüdischen Kreisen zirkulierte. Da Diomedes mit seiner Vorliebe für den Gnostizismus anscheinend alles in Bewegung gesetzt hat, um ihren Text herauszufinden und er sie ausführlich zitiert, erscheint mit sicher, dass es eine gnostische Version war. Zumal Raw Aschi über seinen Fund eher entsetzt als erfreut war. Er hätte das Papier vernichtet, wenn nicht der Name Gottes darin erschienen wäre und das Papier unantastbar gemacht hätte. So verfiel er auf die Lösung mit dem silbernen Behälter.«

»Und dieser Text, diese verlorene dritte Genesis-Variante war Ihre Wendemarke?«

»Nicht so hastig. Sie ist ja nicht verloren. Sie existiert in ihrem silbernen Behälter. Ja, irgendwann vor einigen Jahren begann ich, den Weg dieses kleinen Behälters zu verfolgen. Nicht einfach und auch eher ein Hobby neben meiner wissenschaftlichen Arbeit. Aber hochinteressant. Der Gegenstand wurde immer wieder erwähnt, obwohl es gerade in diesem Bereich nicht einfach ist, zwischen Angebern, Fantasten und ernsthaften Berichterstattern zu unterscheiden. Ich fand also heraus, dass die silberne Kostbarkeit nach Südfrankreich wanderte, dann im Zuge einer Judenvertreibung über das Elsass in das Rheinland kam. Als sich die glaubenseifrigen Kreuzzügler auf ihrem Weg in das Heilige Land zuerst einmal auf die jüdischen Gemeinden stürzten, muss sich ein französischer Ritter namens Adolphe de Vallebrun, nachdem er den Besitzer massakriert hatte, des Behälters bemächtigt haben. Er wusste nichts von dem Inhalt. Für ihn war das ein seltsamer Talisman, und er trug ihn während des Kreuzzuges, wo er ihm allen Anschein nach Glück brachte und vererbte ihn dann weiter. Das Geschlecht Vallebrun verlosch, der Besitz ging auf einen Verwandten über, der alles Mobiliar auf sein Schloss nach Südfrankreich brachte. Leider standen seine Erben während der Revolution auf der falschen Seite. Das Schloss wurde gesprengt, die Bewohner getötet oder vertrieben, und das Inventar verkauft. Ich fand eine Liste des Käufers, eines jungen Pariser Kunsthändlers namens Salomon Levi. Der Name sollte uns misstrauisch machen. Jedenfalls ist unter dem gesammelt gekauften Inventar auch ein silbernes Schmuckstück mit judäischem Dekor. Langweile ich Sie?«

»Keinesfalls. Berichten Sie weiter, bitte.«

»Es scheint, als hätte der ansonsten sehr geschäftstüchtige Monsieur Levi keine Lust, den besagten Gegenstand zu veräußern. Irgendwann bei den Unruhen 1848 wurde sein Laden geplündert, obwohl Levi Christ und respektabler Bürger war. Vielleicht hätte er den Namen wechseln sollen. Er starb 1851. Vorher erhielt er Besuch von einem Russen namens Sewkowitch, der als Kunstagent tätig war. Hier wurde für mich die Sache etwas schwierig, denn Sewkowitch war zugleich Agent des Zaren und hinterließ ungern Spuren. Aber ich erwischte ihn sozusagen durch eine Zeitungsmeldung über einen Ball in der russischen Botschaft, wo er als Gast erwähnt wird. Sewkowitch kaufte etwas, nämlich genau unseren Gegenstand, und verkaufte ihn an Jewgenij Orosin Stoljaskin. Und nun nähern wir uns der Wendemarke. Dieser Stoljaskin stammte aus einer Familie getaufter Juden. Sein Urgroßvater war schon konvertiert. Die Stoljaskins lebten in Odessa, waren reiche Kaufleute in einer weißen Villa in der besten Lage der Stadt. Das Familienoberhaupt sammelte Schriften und andere Altertümer. Und 1881 wurde die Villa verbrannt und die Familie getötet. Das war meine Wendemarke.«

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Es ist doch offensichtlich. 1881 war das Jahr, in dem in ganz Russland Pogrome gegen die Juden begannen. Anfang März 1881 brachen die Verfolgungen auch in Odessa aus. Aber, und darauf kommt es an und Sie können sicher sein, dass ich alte Stadtpläne studierte – die Läden und Wohnungen der Juden, die in Odessa daran glauben mussten, waren in einem ganz anderen Viertel. Wieso also zieht eine Menge von fanatisierten Judenhassern in ein Villenviertel, um das Haus eines Kaufmannes, dessen jüdische Herkunft nur noch in den Familienanalen verzeichnet gewesen sein kann, und äschert dieses Haus mit allen darin befindlichen Personen und Gegenständen ein?«

»Sie meinen der – Gegenstand, die Genesis-Variante?«

»Genau, irgendjemand nutzte die Gelegenheit –, wenn er nicht sogar selbst die Gelegenheit schuf, denn die 1881er-Pogrome waren oft von oben gesteuert – um diesen Text zu vernichten. Und genau das war meine Wendemarke. Ab dann fragte ich mich, wer so viel Macht, so viel Menschenverachtung und so viel Intelligenz besitzen konnte, um solche Dinge zu arrangieren. Und das vielleicht sogar über Jahrhunderte hinweg.«

Tony schluckte. Sein Lachen klang etwas gekünstelt. »Jetzt kommen die Geheimgesellschaften, nicht wahr?«

»Exakt.«

»Das ist lächerlich. Dieser Quatsch mit Verschwörungen von Reaktionären, Juden, Illuminaten, Rosenkreuzern, Kommunisten, Jesuiten, Papisten, CIA, KGB. MI 5, MI 6, Freimaurern – seit Neuestem sind die Neonazis ja stark en vogue. Das kann doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Das ist doch alles propagandistischer Mist!«

Dorkas lehnte sich zurück und schaute Tony ernst an. »Genau das soll die Öffentlichkeit ja auch glauben. Ich will es mal so erklären: Wenn der Junge Tony die Schokolade seiner Mutter geklaut hat und die Mutter das entdeckt, dann wird der Junge nicht sagen, dass die Schokolade nicht verschwunden ist, denn diese Tatsache lässt sich nicht leugnen. Er wird vielmehr sagen, dass seine Schwester die Diebin war.«

»Ich verstehe mal wieder nicht ganz.«

»Womit kann man eine Geheimgesellschaft am Besten verstecken? Hinter anderen Geheimgesellschaften. Die Taktik besteht in der Immunisierung des öffentlichen Bewusstseins: Schütte die Zeitungen zu mit wilden Geschichten von Freimaurern, esoterischen Verschwörungen, papistischen Ränkespielen. Bringe so einen Schund wie die Protokolle der Weisen von Zion in die Öffentlichkeit. Lasse den Spekulationen freien Lauf. Lasse Cagliostro seine Schiebereien machen, und lasse Dumas seinen Fantasien entwickeln, lasse die Alchemisten Mumien ausgraben und gönne den Mitgliedern der Society ihren Ordo Templis Orientalis. Und hinter dieser Nebelwand kannst du wirken, kannst du deine Fäden ziehen, kannst du das machen, was du willst.«

»Sie meinen also, es gibt diese Geheimgesellschaft, die so geheim ist, dass sie keiner kennt?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass ich seit diesem Tag, als ich von dem Ende der Familie Stoljaskin hörte, sozusagen auf der Suche bin.«

Dorkas erhob sich ächzend. »Ich bin zum Kartografen geworden. Ich versuche, Spuren zu finden, Zusammenhänge zu erkennen, Linien zu ziehen, die sich vielleicht einmal zu erkennbaren Umrissen verdichten. Und auf diese Weise habe ich die letzten Jahre verbracht, ich habe manches entdeckt und nichts verstanden. Aber ich habe zumindest Menschen gefunden, die, ohne dass sie einen Fall für den Psychiater darstellten, denselben Verdacht hegen wie ich. Die auch Spuren gefunden haben.«

»Und was ist meine Rolle in diesem Spiel?«

»Das muss sich noch zeigen. Vielleicht sind Sie eine Spur. Oder ein Teil der Lösung. Aber wenn Sie nicht aufpassen, dann geschieht Ihnen dasselbe wie den Stoljaskins. Aber weil Sie lernfähig sind, werden Sie das wohl jetzt annehmen.«

Aus dem Küchenschrank hatte Dorkas das Holzkästchen geholt, in dem die Peitsche lag.

Tony war in der Tat lernfähig. Außerdem ließ sich die Peitsche tatsächlich wie ein Armband um den linken Unterarm legen.

Dann verließen Tony Tanner und Dorkas die Wohnung, überquerten einen Hof und gelangten durch einen Keller auf eine Querstraße.

Dorkas besorgte ein Taxi.

»Wünschen wir uns Glück«, sagte er zum Abschied. »Wir können es beide brauchen.«

 

Ende des ersten Bandes