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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Der blinde Brahmane – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Der blinde Brahmane

4. Kapitel

Mein verwünschter Ehrgeiz

Ich hatte Harst zu Bett gebracht, war auch selbst in meinen Schlafanzug geschlüpft und im Nebenzimmer unter mein Moskitonetz gekrochen. Erst um halb zwölf sollten wir aufbrechen. So hatte Harst jetzt bestimmt. In unseren Zimmern war es dunkel. Die engmaschigen Drahtgeflechte vor den oberen Scheiben der Fenster ließen vom Garten her mancherlei Geräusche herein. Die Dienerschaft (jeder bessere Europäer in Indien hat mindestens seine fünf eingeborenen Diener, die jeder ihre ganz bestimmten Pflichten haben und auch nur gerade das tun, was ihre Aufgabe ist) war noch munter, eilte auf der Veranda leise hin und her, hängte feuchte Tücher vor den Fenstern der Schlafgemächer auf, da die Hitze hoch schlimmer war, als ich sie in Aden kennen gelernt hatte. Erst gegen elf wurde es still.

An Einschlafen wäre auch dann nicht zu denken gewesen, wenn ich nicht gewusst hätte, was mir noch bevorstand. Ich lag in Schweiß gebadet da und wartete. Meine Uhr hatte ich in der Hand. Auch sie hatte Leuchtziffern. Endlich halb zwölf. Harst wollte zu mir kommen. Die Anzüge lagen hier in meinem Zimmer, ebenso die Turbane. Abermals fünf Minuten weiter – Harst erschien nicht. Da erhob ich mich und schlich durch die nur angelehnte Tür hinüber, fand ihn fest schlafend, weckte ihn. Er meinte, er habe gewusst, dass ich munter bleiben würde; er wolle recht frisch sein für diese Nacht.

Im Dunkeln zogen wir die Dienerkittel an. Dann ging es durch ein Fenster auf die Veranda hinaus, nachdem ich aus meinem Koffer die Flasche mit der Farbflüssigkeit zu mir gesteckt hatte. Wir stiegen die Gartenterrasse empor, stets im Schatten der Büsche uns haltend, kletterten über einen Zaun und gelangten auf eine Serpentinenstraße, die zur Höhe der Berge sich hochwand. Abseits der Straße färbten wir mit einem Wattebausch oberflächlich unsere ohnedies sonnengebräunten Gesichter noch dunkler.

Ich fragte Harst nun genau dasselbe, was auch Kapitän Anderson so gern hatte wissen wollen. Aber mein Brotherr machte es wie stets: Er wich mir aus, meinte, genau könne er selbst noch nicht sagen, was Warbatty plane.

Erst gegen ein Uhr morgens langten wir an dem Eingang zu den Ruinen der Tempelstadt Matahu an. Inspektor Greaper hatte uns während der Fahrt nach der Polizeidirektion erzählt, dass die Ruinen nur von Süden, von der Richtung des Rennplatzes aus, zu betreten seien, da überall anderswo in den Steintrümmern der Außengebäude die Tempelwächter mit Zustimmung der Regierung vergiftete Fußangeln und andere lebensgefährliche Hindernisse angebracht hätten, um die vor einigen Jahren durch europäische Gauner ausgeplünderte Schatzkammer der Tempelstadt besser zu schützen. Hierbei hatte der Inspektor uns noch so allerlei über die Reichtümer indischer Tempel berichtet. Seiner Ansicht nach lägen Milliarden an Edelsteinen und goldenen Gerätschaften in den berühmten Hindutempeln verborgen. Diese Verstecke kennen, so behauptete er, immer nur drei der Priester, die das betreffende Heiligtum bewachen. Im Matahu vermute er nun kaum noch besondere Kostbarkeiten, nachdem den weißen Spitzbuben damals Millionenwerte in die Hände gefallen seien.

Hieran dachte ich wieder, als wir uns der Ruinenstadt näherten. Ich hatte geglaubt, wir würden in diese nun eindringen. Ein großer Irrtum. Harst kroch mir auf allen vieren voran zu einem Gebüsch, das etwa zehn Meter seitwärts vor dem Eingang stand. Nachdem er hier nun mit einem Baumast leise den Boden abgeklopft hatte, um vielleicht vorhandene Schlangen zu verscheuchen (Greaper hatte uns vor diesem giftigen Gewürm gewarnt, von dem im Bezirk Bombay im Vorjahr allein 972 Menschen getötet worden seien, während man gegen 300.000 Giftschlangen erlegt hätte. 1890 fielen im Bezirk Bombay zum Beispiel den Schlangen und Tigern 1122 Personen zum Opfer bei einer Gesamtbevölkerung von 25 Millionen; erlegt wurden 406.072 Schlangen!) setzten wir uns nieder und warteten schweigend und fast unbeweglich über eine Stunde. Wir hatten Moskitoschleier mitgenommen, in die wir das Gesicht einhüllten. Dies war auch sehr nötig. Ohne die Schleier hätten wir am Morgen uns selbst nicht vor Schwellungen wiedererkannt.

Der Mond tauchte nur zuweilen auf, da dichtes, zerfetztes Gewölk am Firmament dahinsegelte. Es wurde jedoch nie so dunkel, dass wir den Eingang nicht hätten im Auge behalten können. Ich fand diese Nachtwache sehr bald reichlich eintönig, zumal ich mir auch nicht im Entferntesten klarmachen konnte, welchen Zweck sie haben sollte. Harst saß mit eherner Ruhe da. Und er hätte dies zwölf Stunden ausgehalten, wenn es nötig gewesen wäre. Mich dünkte die eine Stunde bereits eine Ewigkeit, die verging, bevor Harst meinen Arm berührte und zum Eingang deutete.

Endlich doch eine Abwechselung! Ich bemerkte vier Männer, die wie die ärmeren Bewohner von Black Town gekleidet waren und die sehr eilig auf den Palmenwald zuschritten. Sie kamen aus der Tempelstadt, trugen aber nicht das Geringste bei sich und verschwanden mit schlenkernden Armen lautlos wie Schatten zwischen den Bäumen.

»Aha doch!«, meinte Harst leise.

»Was denn? Hat etwa Warbatty …?« Ich konnte die geflüsterte Frage nicht zu Ende bringen. Abermals hob Harst den Arm.

Abermals verließen zwei Gestalten die Ruinengasse; abermals tat der Mond uns den Gefallen, für Sekunden die Umgebung in halbe Tageshelle zu tauchen. Und da erkannte ich nun in den beiden Menschen dort vor uns den Schmutzfink von Brahmanen und das kleine Mädchen. Dieses führte den Inder in einer Weise, die deutlich zeigte, dass er blind sein müsse.

Langsam ging das Paar an uns vorüber; langsam und schweigend. Und wir schlichen hinterdrein mit allergrößter Vorsicht. So kamen wir an die Umzäunung des Rennplatzes. Die hohen Zuschauertribünen wurden sichtbar, das Restaurationsgebäude, die Stallungen. Dann ereignete sich etwas recht Merkwürdiges. Der Brahmane bewegte sich allein weiter, indem er am Zaun sich entlangtastete. Bald entzog eine Ecke der Bretterumfriedung ihn unseren Blicken.

»Warte hier!«, murmelte Harst und war im Nu von meiner Seite verschwunden.

Das Hindumädchen hatte sich an den Zaun gelehnt und wand aus einer weißblühenden Ranke einen kleinen, dicken Kranz, drückte ihn sich auf das straffe, schwarze Haar und schien dann irgendeinen Tanz einzuüben.

Eine Viertelstunde verstrich. Dann tauchte der blinde Brahmane wieder auf. Das Mädchen lief ihm entgegen und nahm ihn wieder bei der Hand. Sie hatten gleich darauf den vom Rennplatz zum Eingeborenenviertel führenden Weg erreicht. Ich war hinter ihnen geblieben. Ich wandte alle List an, die ich nur kannte, um unbemerkt zu bleiben und um die beiden anderseits auch nicht aus den Augen zu verlieren. In der ersten Gasse, in die wir einbogen, lagen zumeist Gärtnereien, deren farbige Besitzer mit ihren Gehilfen bereits an der Arbeit waren, Früchte pflückten und ganz wie daheim mit langen Spritzenschläuchen die Beete sprengten. Hier konnte ich mich freier bewegen. Auf der Straße herrschte einiger Verkehr und hier gesellte sich nun auch der etwas atemlose Harst zu mir, raunte mir geradezu triumphierend zu: »Also doch!«

Zum zweiten Mal hörte ich dieses Also doch! Und nun wiederholte ich meine Frage von vorhin: »Was ist denn nun eigentlich geschehen?«

»Alles, Schraut, alles! Mithin übergenug! Wir wollen zur Sicherheit uns jedoch trennen. Geh auf die andere Straßenseite hinüber …«

Die Verfolgung des Blinden und des Kindes hatte erst in dem Castle genannten Europäerviertel ein Ende und zwar am Meeresstrand in einer der älteren Gassen, wo es ein bescheiden aussehendes Gasthaus für Seeleute mit Namen Steamer Store gab. In diesem billigen Hotel, dessen im Erdgeschoss gelegene Kneipe die ganze Nacht geöffnet blieb, verschwand der Brahmane, nachdem er dem Kind eine Geldmünze in die Hand gedrückt und ihm etwas zugeflüstert hatte.

Das Hindumädchen schritt ohne Argwohn an uns vorüber. Harst schickte mich hinter der Kleinen drein. Ich sollte feststellen, wo sie wohnte. Wir verabredeten uns am Viktoria-Bahnhof zu treffen. Dies ist der Hauptbahnhof der Stadt zugleich wohl – und das haben Architekten aller Länder anerkannt – der schönste und prächtigste der Welt.

Das Kind betrat ein sehr ärmliches Bambushäuschen in einer der engen Gassen von Black Town. Die Hütte stand inmitten einer Gärtnerei, die jedoch einen recht verwahrlosten Eindruck machte. Von der Straße war das Grundstück durch einen brüchigen Bretterzaun getrennt. Ich ging zweimal langsam daran vorüber. Ich gewahrte keine Seele dort, obwohl doch in den anderen Gärtnereien bereits vorhin rege Tätigkeit geherrscht hatte. Ich habe nun schon häufiger Anwandlungen eines Ehrgeizes gehabt, die stets nur peinliche oder gefährliche Folgen hatten. Ich hätte mich daher durch diese Erinnerungen warnen lassen sollen.

Aber ich wollte Harst beweisen, dass auch ich ein ganzer Kerl sei, und hoffte ihn durch eine recht eingehende Auskunft über das Kind überraschen zu können. Ich bemerkte ein paar lose Bretter am Zaun, hinter denen sich dichtere Büsche befanden. Ich kroch hindurch, schlich dann auf das Häuschen zu. Da erschien das Mädchen plötzlich vor der Tür mit einem Eimer in der Hand und begab sich nach einem Ziehbrunnen im hinteren Teil des Gartens. Ich wagte mich bis an das eine, nur mit Gaze überspannte Fenster heran und versuchte, einen Blick in das Innere zu werfen, sah auch ein offenes Herdfeuer, darüber auf einem Dreibein einen Tiegel und neben dem Herd auf dem Fußboden auf Matten liegend vier Eingeborene. Das machte mich stutzig: gerade vier! Vielleicht waren es dieselben Leute, die uns auf Warbattys Befehl hatten ersäufen sollen! Vielleicht!

Meine Gedankenkette riss jäh ab.

Von hinten legten sich zwei Hände um meinen Hals, pressten mir die Kehle zu. Aber Widerstand war nutzlos. Ich kam aus den Eisenklammern dieser nervigen Finger nicht wieder frei, verlor das Bewusstsein und erwachte dann in einer Art Keller, dessen Wände aus halb verfaulten Brettern bestanden, zwischen denen die Erde herausgerieselt war. Um mich herum befanden sich Kisten und Tonnen. An der Balkendecke hing eine brennende Petroleumlaterne. Mein Lager bestand aus Maisstroh. Rechts von mir führte eine Holztreppe zu einer Falltür empor.

Obwohl mein Hals sehr schmerzte, fühlte ich doch wütenden Hunger. Ich musste also wohl viele Stunden ohne Besinnung gewesen sein. Die Fesseln meiner Hand- und Fußgelenke waren nicht Stricke, sondern heller, verzinkter Draht. Diese Schlingen loszuwerden, war unmöglich.

Meine Lage erschien verzweifelt. Harst und auch sonst niemand, der mir hätte helfen wollen und können, wusste, wo ich geblieben. Trotzdem – und das ist keine bloße Redensart – erwartete ich meine Befreiung ganz bestimmt, da Harst schon Mittel und Wege finden würde, mich auch hier aufzustöbern. Ich hatte ja als Harsts Gehilfe schon so zahllose Beweise seiner seltenen Fähigkeiten erhalten, dass ich mir bei ruhiger Überlegung sagte, gerade hier würde es ihm kaum schwer fallen, mir zu Hilfe zu eilen, zumal er ja hinter dem blinden Brahmanen her war, der doch zweifellos mit den Leuten, die in diesem Gärtnerhäuschen ihren Schlupfwinkel hatten, in nahen Beziehungen stand.

Der blinde Brahmane! Soeben hatte ich an diesen düngerbeschmierten Heiligen gedacht! Da sank urplötzlich die Binde von meinen Augen! Nein – war ich nur kurzsichtig und begriffsstutzig gewesen! Mir hätte doch sofort auffallen müssen, dass dieser Schmutzfink für einen Inder zwergenhaft klein war und dass nur der Turban ihn hatte größer erscheinen lassen!

Natürlich: der Brahmane war unser Freund Cecil – kein anderer!

Ich kam nicht dazu, diese Gedanken noch weiter auszuspinnen. Die Falltür öffnete sich. Zu mir herab stieg Master Thomas Simpson, der harmlose Kaufmann aus Colombo! Das war wirklich eine ungeahnte Überraschung.

Er trug denselben Anzug wie am Tage vorher, grinste mich nun höhnisch an, setzte sich auf eine Kiste, zog einen Revolver aus der Tasche – meinen Revolver –, spannte ihn und sagte mit ironischer Höflichkeit: »Master Schraut, ich habe verschiedene Fragen an Sie zu richten. Bei der ersten Lüge schieße ich Ihnen eine Kugel ins Hirn. Es sollte mir leid tun, wenn Sie mich dazu zwängen, Ihrem Leben so kurzerhand ein Ende zu bereiten. Die erste Frage: Wie sind Sie hier auf dieses Grundstück gelangt?«

»Zu Fuß, Master Simpson. Harst hatte mir befohlen, da er selbst leider an einer Sehnenzerreißung …«

»Das weiß ich …«

»Nun gut. Ich sollte also den Ausgang der Tempelstadt diese Nacht bewachen. Ich bin dem Brahmanen gefolgt, dann dem Kind. Das ist alles.«

»Wie konnten Sie beide sich aus dem Kasten befreien?«

»Harst zerschoss das Holz um die Krampe und …«

»Ah, genial! Meine Hochachtung! Deshalb also die Knallerei in der Kiste! Wir dachten, die Kugeln sollten die Leute vertreiben, die den Karren schoben. Weiß Harst Genaueres über den Brahmanen?«

»Nein. Wenigstens hat er mich nicht eingeweiht. Er tut dies in den seltensten Fällen. Ich vermute jedoch, dass er in dem Brahmanen einen Helfershelfer Warbattys erkannt hat. Wir verirrten uns in den Gängen des unterirdischen Tempelteiles und nur durch Zufall gelangten wir auf den Affenhof …«

»Danke, das weiß ich alles«, unterbrach er mich wieder. »Die Stücke des Mützenfutters waren die Verräter und sagten dem Heiligen, dass Europäer sich in den Irrgängen befanden. Wann wird Harst wiederhergestellt sein?«

»Der Arzt meinte, in vierzehn Tagen.«

»Kennt Harst Warbattys hiesige Pläne?«

»Bisher nicht. Das heißt: Er hat mir über diesen Punkt …«

»Danke.« Eine längere Pause. Dann: »Master Schraut, Sie sind Harsts Freund. Harst wird morgen eine Radiodepesche aus Berlin erhalten, dass seine Mutter schwer krank ist und er sofort heimkehren soll. Wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, ihm zuzureden, dieser Depesche Folge zu leisten, sind Sie frei. Außerdem erhalten Sie auch noch 50.000 Mark. Es wäre dies Ihrerseits kein Verrat an Harst. Sie würden ihm nur das Leben retten, denn so große Hochachtung wir auch vor seinem Genie als Detektiv haben, wir müssen ihn beseitigen! Sie hören, ich spreche ganz offen mit Ihnen. Wollen Sie Harst zureden – ja oder nein? Selbstverständlich dürfen Sie diese Ihre Gefangenschaft nicht erwähnen. Ich werde Ihnen, falls Sie auf meinen Vorschlag eingehen, noch genauere Verhaltensmaßregeln geben. Bis morgen früh müssten Sie ohnedies hierbleiben.«

Bis morgen früh? Also noch 24 Stunden?! Dann war ich fraglos auf andere Weise bereits frei!

»Gut – ich gebe mein Wort, Master Simpson.«

»Das genügt mir vorläufig. Sie sollen jetzt Essen und Trinken erhalten. Wir haben hier in Bombay ein so glänzendes Geschäft gemacht«, er grinste triumphierend, »dass wir großmütig sein und Ihnen beiden nicht an den Kragen wollen, falls Sie eben schleunigst nach Deutschland abreisen. Warbattys Plan ist nämlich bereits gelungen. Diesmal kommt Harst zu spät!«

»Schade!«, meinte ich ehrlich. »Was haben Sie denn ergaunert, Master Simpson?«

Er lachte. »Ergaunert? Haben Sie eine Ahnung! Die Sache war ein Meisterstück. Wir schätzen den Gewinn auf etwa vier Millionen …«

Gleich darauf war ich allein.

Wenn ich nun hier Harsts Erlebnisse so einflechte, als hätte ich sie miterlebt, wird dies für den Leser nur interessanter werden.