Archive

John Sinclair Classics Band 46

Jason Dark (Helmut Rellergerd)
John Sinclair Classics
Band 46
Das Todeskarussell

Grusel, Heftroman, Bastei, Köln, 04.06.2019, 66 Seiten, 1,90 Euro, Titelbild: Ballestar
Dieser Roman erschien erstmals am 12.07.1977 als Gespenster-Krimi Band 200.

Kurzinhalt:
Die Glocke bimmelt, dann beginnt sich das alte Karussell mit den holzgeschnitzten Figuren, den Pferden und kleinen Gondeln zu drehen. Gelächter erklingt. Musik.

Dann verstummt das Lachen abrupt. Stattdessen hört man furchtbare Schreie. Wer jetzt in einer der Gondeln sitzt, für den gibt es kein Entkommen. Denn nicht alle Mitfahrer sind menschliche Wesen …

Leseprobe

Die Flasche zerplatzte mit einem satten Knall an der Mauer. Scherben regneten zu Boden, blieben im Schlamm stecken. Der Betrunkene schielte auf die Über­reste der vor wenigen Minuten noch vollen Ginflasche.

Nichts mehr. Ende.

Er hatte sie mit drei Schlucken ge­leert.

Ken Kovac rülpste. Die Mauer vor ihm geriet in Bewegung, schaukelte nach links und rechts, um dann zu zerfließen.

»Bin ich breit!«, stöhnte Kovac. Er lehnte sich vor und stützte den rechten Arm gegen die Mauer. »Durchatmen!«, ächzte er. »Nur durchatmen.«

Kovac hatte schon ein gewisses Trai­ning erlangt. Er war nicht zum ersten Mal randvoll und wusste genau, wie er sich zu verhalten hatte.

Ken Kovac war Gelegenheitsarbei­ter. Er war tschechischer Abstam­mung, hatte aber in England nie richtig Fuß fassen können. Mehr schlecht als recht schlug er sich durchs Leben. Bis vor einem Tag noch hatte er auf einer Tankstelle gearbeitet, doch dann war wieder der große Durst gekommen, und Gin vertrug sich nun mal nicht mit Arbeit.

Kovac war rausgeflogen. Ein Grund für ihn, sich wieder zu besaufen. Und jetzt war die letzte Ginflasche leer, und auch in Kovacs Taschen klimperte nicht ein Shilling.

Scheißleben!, dachte er.

Ken Kovac stellte sich wieder auf­recht hin. Langsam ging es ihm besser. Er war ein geübter Schlucker, und eine Flasche Gin warf ihn nicht um.

Nur die Gegend, in der er gelandet war, die gefiel ihm gar nicht. Es war irgendein Platz, auf dem mit Planen ab­gedeckte Wagen standen, auch Buden und Stände.

Ja, so etwas gab es eigentlich nur auf einem Jahrmarkt.

Und dann das Karussell!

Es stand in der Mitte des Platzes. Ein altes verrostetes Ding. Ein Kinderkarus­sell, mit holzgeschnitzten Figuren, Pfer­den, kleinen Gondeln und Schaukeln auf der runden Plattform. Holzpfosten, vom Rand der Plattform in die Höhe ragend, trugen das Dach. Die Farbe an den Pfosten war abgeblättert, das Holz hatte Fäulnis angesetzt. Eine verrostete Glocke schaukelte im Nachtwind. Der Klöppel fehlte.

Ken Kovac hustete, rülpste und wischte sich über den Mund. Ein dümm­liches Grinsen überzog plötzlich sein breites Gesicht. Schwankend steuerte er das Karussell an. Seine Füße zogen breite Schleifspuren in den Schlamm.

Erst vor einer Viertelstunde hatte der Regen auf gehört. Regen und ein warmer Westwind machten aus dem Winter einen Vorfrühling. Schnee fiel kaum noch.

Kovac hatte das Karussell erreicht. Er stützte sich an einem Pfosten ab.

»Los, fahr doch«, sagte er. »Komm, ich will einsteigen. Setz dich in Bewegung!« Er begann zu kichern und vollführte mit der linken Hand eine weitausholende Bewegung. »Ihr – ihr könnt alle umsonst fahren. Los, aufsteigen.«

Er selbst machte den Anfang. Schwer­fällig hob er das rechte Bein und stieg auf die Plattform. Vor sich sah er ein altes Holzpferd. Der Lack war zum größ­ten Teil abgesplittert, jemand hatte mit einem harten Gegenstand ein Stück Holz aus der Flanke geschlagen.

Kovac lachte. »Jetzt werde ich euch zeigen, wie ich reiten kann«, murmelte er. Er umklammerte den Hals des Holz­pferdes und wollte sich auf den Rücken schwingen.

Kovac landete neben dem Pferd.

»Mist!«, fluchte er. Aus glasigen Au­gen peilte er zwischen den Beinen des Pferdes hindurch. Dicht neben sich sah er eine kleine Gondel. Daran zog er sich hoch, blieb einen Augenblick lang ste­hen – und plötzlich wurden seine Augen groß.

Er stand so, dass er auf den Turm des Karussells sehen konnte. Und dieser Turm veränderte sich. Ein seltsames Leuchten hüllte ihn ein. Er stand in einer gleißenden Helle, die Ken Kovac blendete.

Kovac schüttelte den Kopf, hielt seine Hand schützend vor die Augen. Er merkte kaum, dass sich das Karussell anfing zu drehen. Plötzlich bimmelte die Glocke.

Gelächter erklang. Kindergeschrei, Musik. Menschen waren da.

Und das Karussell drehte sich immer schneller. Kovac verlor den Halt, wurde zur Seite geschleudert, konnte sich im letzten Augenblick aber noch festhal­ten – und fuhr mit.

Aber er war nicht allein auf der Platt­form. Kovac hatte Mitfahrer. Schreck­liche, grauenhafte Gestalten.

Monster, Fabelwesen, Skelette! Sie alle hatten sich zu dem Höllenreigen vereint.

In einer Gondel saßen zwei Vampire. Ihre weiten Umhänge flatterten im Wind. Blut tropfte von ihren Zähnen. Sie hatten die Krallen nach einem Mädchen ausgestreckt, das sich mit angstverzerr­tem Gesicht an einen Pfosten klammerte.

Zwei Werwölfe waren dabei, sich gegenseitig zu zerfleischen.

Skelette schwangen blitzende Säbel.

Zwei Henker mit roten Kapuzen über den Köpfen hatten einen Galgen errich­tet und hängten eine alte Frau auf. Die Frau hatte kein Gesicht mehr, sondern einen hässlichen Krötenschädel.

Es waren schreckliche Szenen, die sich Ken Kovacs Augen boten. Es war die Apokalypse des Grauens. All die menschlichen Albträume wurden auf diesem Karussell Wirklichkeit.

Grüner Nebel wallte plötzlich auf. Kovac bekam Gestalten zu sehen, die so schrecklich waren, dass sie jeder Be­schreibung spotteten. Er sah in eine Re­gion, die es wohl gab, die aber normalen Menschen verschlossen war.

Es war das Reich der Dämonen.

Kovac sah ein riesiges Rad mit sehr breiten und dicken Speichen. Menschen waren darauf geschnallt. Das Rad drehte sich, tauchte ein in eine wabernde Flüs­sigkeit. Kovac sah, wie die Menschen die Lippen aufrissen, um zu schreien, doch kein Ton drang aus ihren Kehlen.

Wenigstens keiner, der von Kovac gehört werden konnte.

Und dann tauchte ein Mann auf. Er kam aus dem Turm des Karussells he­rausgestiegen und war eine Ausgeburt der Hölle.

Der Mann trug einen flammendroten Umhang, hatte eine feuerrote Gesichts­haut, und anstelle der Haare züngelten Flammen über seinen breiten froschartig wirkenden Schädel.

In der rechten Hand trug er einen Dreizack mit flammenden Spitzen.

Der Mann öffnete seinen Mund, und gellendes Gelächter hallte über den Rummelplatz.

»Der – der Teufel!«, stammelte Ken Kovac.

Er hatte grässliche Angst. Irgendeine unbekannte Macht schien sein Herz zu­sammenzupressen. Kovac konnte kaum atmen. Er sah sich von Horrorgestalten umringt, doch sie nahmen gar keine No­tiz von ihm, taten so, als wäre er nicht vorhanden.

Da spürte er den Blick des Flammen­mannes. Die Augen loderten, wurden immer größer, und in den Pupillen tanz­ten feurige Ringe.

Der Arm mit dem Dreizack fuhr hoch. Weit holte der Flammenmann aus, und dann zuckte die Waffe mit den feurigen Spitzen auf Ken Kovac zu.

Kovac wollte ausweichen, doch er klebte auf der Plattform fest. Keinen Millimeter konnte er sich bewegen.

Eine Handbreit von seinem Kopf entfernt, zischte der Dreizack an ihm vorbei und bohrte sich in das Holz des Pferdes. Der linke Zacken fuhr wie ein Pfeil durch den Ärmel seiner Lederjacke, ohne auch nur die Haut zu ritzen.

Er nagelte Ken Kovac an das Pferd.

Kovac wollte fliehen, sich herum­werfen, dieser Hölle entrinnen, doch die Dämonen hatten ihn schon in ihrer Gewalt.

Kovac fühlte sich in einen gewaltigen Strudel gerissen, in einen Strudel von Grauen, Angst und Entsetzen.

Plötzlich kam das Karussell zum Stehen. Nichts rührte sich mehr. Alles war ruhig.

Wie erstarrt saßen die Horror-Gestal­ten auf ihren Plätzen, die Köpfe gedreht und die Blicke auf Ken Kovac gerichtet.

Der Flammenmann stand vor dem Turm des Karussells.

Sein Mund öffnete sich. Eine feurige Lohe schoss daraus hervor. Dann schrie er etwas in einer kehligen, für Kovac völlig unverständlichen Sprache.

Augenblicklich setzten sich die bei­den Henker mit den roten Kapuzen in Bewegung.

Sie steuerten auf Ken Kovac zu. Er sollte das neue Opfer für den Höllen­reigen werden.

Die Henker verursachten keinen Laut, als sie auf Ken Kovac zuschritten. Es war ein unheimliches Bild. Der Wind hatte den Nachthimmel freigefegt. Der fahl leuchtende Halbmond streute sein Licht über das Land und umwob das Karussell mit einem silbrigen Schleier.

Es war Mitternacht.

Geisterstunde.

Und für Ken Kovac die Minute seines Todes.

Aber noch war es nicht so weit. Noch hatte er eine Galgenfrist und konnte das dämonische Ritual in allen Einzelheiten verfolgen.

Die Henker hatten sich ihm jetzt so weit genähert, dass sie seine Arme pa­cken konnten.

Ihre Hände waren wie Klammem. Hart, brutal.

Von der anderen Seite des Karussells her tauchte eine Frau auf. Ein schwarz­haariges Weib mit dem Gesicht eines Engels und dem Körper einer Schlange.

Grün, schuppig und in dauernder Bewegung.

Sie hatte normale menschliche Hände, hielt eine Flöte zwischen den schlanken Fingern, führte das Instrument zum Mund und begann, eine schaurig klin­gende Melodie zu spielen.

Ken Kovacs Todesmelodie!

Die Töne hallten in seinen Ohren wider, marterten sein Gehirn und be­reiteten ihm bald körperliche Pein.

Die beiden Henker zerrten ihn weiter.

Einer hatte den Dreispitz gelöst. Kovacs Jacke war dabei in Fetzen ge­gangen. Dort, wo das glühende Metall sie berührt hatte, prangte ein Brandloch.

Ken Kovac wurde weitergeschleift.

Bis hin zum Galgen.

Die Frau, die in der Schlinge hing, hatte ihr zahnloses Maul geöffnet und lachte kichernd.

»Der nächste«, geiferte sie, »der nächste. Du bist dran, Söhnchen!« Wie­der kicherte sie, zog den Kopf aus der Schlinge und lief davon.

Kovacs Augen wurden fast tellergroß. Die fachmännisch geknüpfte Schlinge berührte seine Stirn. Verflogen war die Wirkung des Alkohols. Kovac war längst nüchtern. Er bekam seinen schreckli­chen Tod bei vollem Bewusstsein mit.

Die Henker packten ihn unter den Achseln und hoben ihn hoch. Ein rascher Griff, und die Schlinge lag um seinen Hals.

Kovac gurgelte auf.

Jemand stellte ihm einen Holzklotz unter die Füße. Ein Vampir kam heran und drehte ihm die Hände auf den Rü­cken. Ein Zweiter bleckte sein Gebiss.

»Blut!«, keuchte er. »Blut!«

Aus seinem Hals drang ein schreck­liches Fauchen. Er verdrehte die Augen, das Weiße war zu sehen, und er tanzte um das Opfer herum wie ein Irrwisch.

Der Vampir führte den Reigen an. Immer mehr Horror-Gestalten kamen, tanzten und kreischten, angeheizt durch das dämonische Spiel der Flöte. Immer wilder und ekstatischer wurde der Tanz. Die grässlichen Gesichter verschwammen vor Kovacs Augen. Er bekam gar nicht mehr mit, wie sich das Karussell wieder zu drehen begann.

Wieder schlug die Glocke an.

Das Zeichen des Todes.

Jemand trat den Holzklotz unter Ko­vacs Füßen weg.

Ken verspürte einen mörderischen Schmerz, zuckte noch einmal zusammen und hing dann schlaff in der Schlinge.

Ken Kovac war tot!

Und das Karussell drehte sich immer schneller. Gleichzeitig steigerte sich auch die Musik. Schrille nervenzer­fetzende Töne jagten durch die Nacht, begleitet von Heulen, Wehklagen und grässlichem Geschrei.

Und dann war alles vorbei.

Schlagartig um ein Uhr.

Der Spuk war verschwunden, war zurückgekehrt in die Dimension des Schreckens.

Ruhig und still stand das Karussell auf dem Abstellplatz. Nichts war mehr von dem Dämonenreigen zu sehen.

Doch etwas war anders.

In einer Henkerschlinge baumelte ein Toter …

Personen

  • Ken Kovac, Tscheche, Gelegenheitsarbeiter
  • Flammenmann Chandra, Zigeuner
  • Frank Spiro, Tankwart
  • Konstabler Bradburry
  • Inspektor Fenton, Leiter der Mordkommission
  • Pfarrer von Brickaville
  • Sam Winter, Arzt
  • John Sinclair, Oberinspektor bei Scotland Yard
  • Glenda Perkins, Sekretärin im Yard
  • Sir James Powell, Superintendent
  • Doug Mc Mahon, Tankstellenbesitzer
  • Diana Spiro, Franks Frau
  • Junge Zigeuner Bela und Marco
  • Tatum Wilson, Bürgermeister
  • Fred Wilson, Tatums Onkel
  • Sita, Herrscherin über die Schlangen

Orte:

  • Dorf Brickaville

Quellen:

  • Jason Dark: John Sinclair Classics. Geisterjäger John Sinclair. Band 46. Bastei Verlag. Köln. 04.06.2019
  • Thomas König: Geisterwaldkatalog. Band 1. BoD. Norderstedt. Mai 2000