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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 45

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Burg Quästenberg

Dort, wo die goldene Aue, ein Landstrich, der sich schon vor vielen hundert Jahren durch seine Fruchtbarkeit und durch den Wohlstand seiner Städte auszeichnete, den Harz streift und der Kyffhäuser die Grenze derselben bildet, erheben sich einige Berge, zwischen denen hindurch eine enge Schlucht weiter ins Gebirge führt. Folgt man diese, so erblickt man bald eine einsam gelegene Anhöhe, die von den übrigen Bergen fast verdeckt ist.

Auf dieser Anhöhe erhob sich vor langen Jahren eine Burg, deren Äußeres schon das Räubernest verriet und deren Benennung Finsterberg dem Zweck, dem sie diente, entsprach. Hohe Mauern umschlossen das finstere Gebäude und düstere Türme ragten empor, aus deren kleinen Maueröffnungen die ganze Landstraße zu übersehen war. Hier hauste ein wilder Ritter, dessen Vorfahren, so wie er selbst, von allen Kaufleuten gefürchtet und gehasst wurden. Denn unter der Raubgier der Finsterberger hatte das Land unendlich viel Leid erdulden müssen. Oft hatten die Städter versucht, die Burg zu stürmen, aber sowohl die Lage derselben als auch ihre gewaltigen, schier uneinnehmbaren Mauern schützten sie vor jedem Überfall.

Waren derartige Racheversuche abgeschlagen, so hausten dann die Ritter von Finsterberg nur um so ärger, sodass die armen Kaufleute bald jeden Widerstand aufgaben. Der Letzte nun dieses berüchtigten Geschlechtes, Kurt von Finsterberg, hatte sich aus der Ferne eine sanfte, fromme Frau geholt, welche ihm wohl nie in seine Burg gefolgt wäre, hätte sie eine Ahnung von dem Leben gehabt, das der Ritter führte.

Gar bald erkannte sie es indessen und sah mit Entsetzen, wie ehrenwerten Bürgern ihre Waren genommen, sie selbst aber ins Burgverließ geschleppt wurden, wo sie elend verschmachten mussten, wenn kein hohes Lösegeld für sie erlegt wurde. Die Burgfrau flehte ihren Gemahl an, dies wüste Treiben einzustellen; aber vergebens. Obwohl er trotz seiner rohen Natur der holden Maria innig zugetan war, so verbat er sich dennoch die Wiederholung solcher Bitten in heftigster Weise.

Bald sah auch die bedauernswerte Frau das Unnütze ihrer Bemühungen ein. Sie schwieg, denn durch ihre Worte reizte sie nur den Zorn des Ritters, unter dem die armen Gefangenen dann umso mehr zu leiden hatten.

Kurt bemerkte nicht, dass seine geliebte Gemahlin täglich bleicher und schwächer wurde, dass sie nur selten noch mit ihrem Töchterchen Maria ins Freie ging, ihrer sonstigen Gewohnheit gemäß Kränze zu winden und die Kleine damit zu schmücken.

Da ließ eines Tages Maria den Ritter rufen, um ihm mitzuteilen, sie fühle, dass der Tod ihr nahe. Sie könne nicht aus diesem Leben scheiden, ohne den Gemahl noch einmal flehentlich gebeten zu haben, seinem rohen und wüsten Leben zu entsagen. Es sei ihr ein so schrecklicher Gedanke, ihre kleine, unschuldige Maria seinen rohen Händen anzuvertrauen. Unendlich schwer erscheine ihr der Tod, dem sie der Gram über das sündhafte Treiben ihres Gatten zuführe. Noch einmal blickte sie flehend auf den tiefgebeugten Kurt. Als er ihr versprach, ein anderer zu werden, legte sie des Töchterchens Hand in die seine und verschied.

Kurt war außer sich vor Schmerz über den Tod seiner Gattin, den er verschuldet hatte. Das Gewissen erwachte in ihm und ließ ihn weder Rast noch Ruhe finden. Die Raubzüge wurden eingestellt; er lebte nur seinem Kinde. Als der Sommer kam, ließ er seinem Töchterchen zuliebe einen Burggarten anlegen und die schönsten Blumen dort pflanzen, damit Maria Kränze winden konnte, wie sie es von der Mutter gelernt hatte. Kurt selbst, dessen rasche Hand sonst nur das Schwert geführt, half geduldig der Kleinen bei ihrer Arbeit. Manche Träne der Erinnerung und der Reue rann von der gebräunten Wange nieder auf die Blumen.

Aber der Sommer entfloh, der Winter hielt seinen Einzug. Er vernichtete unbarmherzig die lieblichen Blumen und zwang den Ritter, mit seinem zarten Kind in der einsamen Burg zu weilen. Nach und nach machte sich die plagende Langeweile bei Kurt fühlbar. Er konnte dieses einsame Leben, bei dem er weder mit Freund noch Feind zusammentraf, nicht lange ertragen. Freunde konnte er sich nicht mehr erwerben, dazu war sein Ruf zu schlecht. Keiner hätte an eine wahre Besserung geglaubt und jeder hielt sich scheu von ihm zurück. Da mussten die Feinde denn herhalten, ihm die Langeweile zu vertreiben. Der erste, heftigste Schmerz war überwunden, sein Versprechen vergessen, und das alte Räuberleben begann wieder auf Finsterberg; ja, Kurt hauste ärger denn zuvor, gleichsam, als wolle er für das lange, still verlebte Jahr sich entschädigen. So beabsichtigte er einst einen Raubzug auszuführen, der einen besonders guten Fang versprach und ihn den ganzen Tag von seiner Burg fernhielt. Der Ritter befahl daher dem Schlossvogt sowie der Kindermagd, strenge Obacht auf das ihnen anvertraute Kind zu geben, da sie vor Anbruch der Nacht ihn nicht zurück erwarten könnten.

Die Magd aber war eine gewissenlose Person. Sie führte das kleine, dreijährige Mädchen nur in den Garten, wohin die warme Frühlingssonne lockte, überließ es dann aber sich selbst und eilte zu den übrigen Dienstboten hinab, um mit diesen die Zeit zu vertändeln.

Wie groß war der Schreck der Wärterin, als sie nach langer Zeit zurückkehrte, die Gartenpforte offen fand und Maria verschwunden war. Schreiend und händeringend durchlief sie das Haus und flehte, man möchte das verlorene Kind doch suchen helfen, damit die Strafe des Gebieters sie nicht fürchterlich treffe. Ihre Bitte wurde erfüllt. Man durchsuchte Feld und Wald, aber vergeblich: Maria war und blieb verschwunden. Da brach die Nacht herein, Waffengeklirr und lautes Rufen erschallte auf dem Burghof – der Gefürchtete war heimgekehrt.

Seine erste Frage galt dem Töchterchen. Als er das Vorgefallene erfuhr, kannte sein Zorn und sein Schmerz keine Grenzen. Die Magd entkam mit genauer Not und entfloh, da der Wütende ihr Leben bedrohte. Kurt forschte nicht nach ihrem Verbleib, denn rastlos trieb es ihn fort, sein Kind zu suchen. Tagelang durchsuchte er mit seinen Gesellen die Nachbarschaft, aber ohne Erfolg. Die Angst, dass durchziehende Zigeuner seine Tochter geraubt hatten, wurde ihm zur furchtbaren Gewissheit. Als er endlich seine Nachforschungen eingestellt hatte, saß er, den ganzen Tag stumm vor sich hin starrend, in seinem Gemach, denn nun empfand er erst, was Maria ihm in seinem rüden Leben gewesen war. Er erkannte es als eine Strafe des Himmels, die über ihn verhängt worden war, weil er das Gelöbnis, welches er der sterbenden Gemahlin gegeben, gebrochen hatte. Dass nur er allein das Unglück verschuldete, machte ihn fast wahnsinnig vor Schmerz.

Da weckte ihn eines Morgens das Geläute der Festglocken aus seinem Sinnen. Wie er über den Grund desselben grübelte, fiel ihm ein, dass es zu Ehren des heiligen Pfingstfestes sei. Der zur Andacht rufende Glockenton erweckte auch in Kurt eine fromme Regung. Er ließ einen Mönch kommen, dem er seine Sünden beichtete und hoch und heilig Besserung gelobte; ja, er wollte alle Gefangenen ohne Lösegeld entlasten und nie wieder sich an Raubzügen beteiligen, wenn Gott ihm seine Maria wiedergäbe.

Die Vermisste aber hatte an dem Tag, an welchem die gewissenlose Magd sie allein gelassen hatte, sich wie immer Blumen zu Kränzen gepflückt, war dabei bis zur Pforte gelangt und hatte freudig das zufällige Offenstehen derselben bemerkt. Mit neugierigen Augen blickte das Kind hinaus auf die Wiese, die unter dem Burgberg lag. Mit großem Entzücken gewahrte es die schimmernden farbigen Blüten dort unten. Es schien der kleinen Maria, als nickten die Blumen ihr freundlich zu. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es sie hinab zur blumigen Aue.

Welche Pracht umfing sie hier, wie lieblich dufteten die Blumen, wie farbenschimmernd waren die Falter, die sie umgaukelten! Freudig lief die Kleine einem der schönen Schmetterlinge nach, um ihn zu fangen. Aber neckisch schwebte der Falter von Blume zu Blume. Sowie sie im Begriff war, ihn zu erhaschen, entwischte er wieder, flog eine Weile fort, um sich dann abermals niederzulassen. Dies Spiel trieb Maria weiter und weiter in den Wald. So vertieft war sie in der Freude desselben, dass sie nicht merkte, wie weit sie sich von der Burg entfernte. Als sie dann schließlich gewahr wurde, dass sie fern von ihrem Gärtchen sei, wollte sie heimkehren, schlug aber eine falsche Richtung ein und entfernte sich nur immer mehr. Dichter wurde der Wald, aber das Kind empfand keine Furcht. Zu viel Neues, zu viel Schönes bot sich seinen Augen und Ohren dar. Wie lieblich klang hier der Gesang der zahllosen Vögel, wie neugierig blickten die Augen der reizenden Eichhörnchen die kleine Verirrte an. Freudig staunend sah sie auf die schlanken Rehe, die furchtlos in ihre Nähe kamen. Doch bald versagten die kleinen Füße den Dienst. Maria ließ sich auf den weichen Rasen nieder und begann aus den Blumen, die sie gepflückt hatte, Kränze zu winden. Ein glückliches Lächeln überflog ihre reinen Züge, da sie der Freude gedachte, welche der Vater bei Überreichung des schönsten Kranzes haben werde. Bald indes schloss die Müdigkeit die kleinen Augen und von süßen Träumen umgaukelt schlief Maria ein.

So fand sie ein Köhler, der des Weges kam und, gerührt von dem lieblichen Anblick, das Kind aufhob und in seine Hütte trug. Als die Kleine dort erwachte, blickte sie entsetzt auf den schwarzen Mann. Aber als dieser ihr freundlich zusprach und ihr süße Milch und Brot reichte, entschwand bald alle Furcht.

Die Frau des Köhlers nahm Maria auf den Arm und fragte, wie ihr Vater hieße. Darauf aber wusste das Kind keine Antwort zu geben. Es konnte nur sagen, dass man es Maria genannt habe. Dem Köhler, der nie aus seinem Wald kam und der nichts von der Welt hörte, war es unter diesen Umständen unmöglich, die Heimat des Kindes zu erforschen, und Maria musste deshalb in seiner Hütte bleiben.

Anfangs sehnte die Kleine sich zwar sehr nach ihrem Vater, aber die Kinder des Köhlers waren so gut und freundlich zu ihr, dass sie, die nie Gespielinnen gehabt hatte, über das Glück, gemeinsam mit anderen kleinen Mädchen sich beschäftigen zu können, bald den Verlust des Vaters verschmerzte.

Am dritten Pfingsttag saß Maria wieder vor der Köhlerhütte auf einer Wiese und wand Kränze aus den Blumen, die ihr die kleinen Freundinnen zutrugen, als mehrere Männer und Frauen an ihr vorübergingen.

»O, lieben Leute«, rief Maria, ihnen den Kranz hinhaltend, »nehmt doch diese Quäste (Kränze) meinem guten Vater mit, der wohnt so weit von hier!«

Die Leute blickten erstaunt auf das reich gekleidete Kind, welches auffallend von den armen Köhlermädchen abstach, forschten näher nach und erfuhren bald, dass es die verschwundene Tochter des Ritters Kurt von Finsterberg sei. Es waren Bauern aus Rota, einem Dorf, in dessen Nähe der Finsterberg lag, und die von dem verlorenen Kind und von der hohen Summe gehört hatten, die dem Wiederbringer desselben ausgesetzt war.

Jubelnd nahmen sie daher Maria zu sich, um sie dem Vater zuzuführen. Auch der Köhler folgte dem Zug, damit er Zeuge der Freude des Wiedersehens sei.

Kurt saß wie immer untätig in seinem Gemach. Wie abwesend starrte er zuerst auf sein Kind, das nun durch die Pforte trat. Er wollte es nicht glauben, nicht fassen, dass es wirklich seine Maria sei, die ihm entgegeneilte und ihn umarmte. War denn Gottes Güte wirklich so groß, dass er ihm verziehen hatte und das Glück seines Lebens ihm zurückgab? Überwältigt sank Kurt in die Knie und sandte ein heißes Dankgebet zum Himmel. Dann belohnte er den Köhler, der sich seiner Maria angenommen hatte, königlich, und die Leute, die sie ihm zurückbrachten, erhielten zum Dank die Wiese, auf der sie das Kind gefunden hatten.

Seines Gelöbnisses eingedenk, nahm er nun seine Maria an die Hand und öffnete eigenhändig die Gewölbe, um alle dort Schmachtenden zu entlassen.

Von diesem Tag an hörte man von keinem Unrecht, von keiner Grausamkeit mehr, wie sie Kurts Namen früher gebrandmarkt hatten. Ruhig blieb er daheim und lebte nur seinem Kinde. Seine Burg deuchte ihm jetzt zu finster. Er ließ sie freundlich umgestalten. Selbst der Name derselben, der ihn stets an seine früheren Frevel erinnerte, musste einem anderen weichen. Er nannte sie zur Erinnerung an die Kränze, welche zur Auffindung Marias geführt hatten, Burg Quästenberg.

Alljährlich gab er zum Andenken an diesen Tag ein großes Volksfest und dieses wird noch heute am dritten Pfingsttag im Dorf Quästenberg gefeiert. Riesige Laubgewinde werden alsdann auf einen gefällten, hoch aufgerichteten Baumstamm gehängt, an die Kränze Marias erinnernd.