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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 44

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Die Rosenkirche Elende

Hoch auf steilem Berg, nicht weit von Bleicherode, auf der Grenze zwischen Thüringen und dem Harz, liegt die alte Burg Lohra. Zu ihren Füßen dehnen sich zwischen Feldern und Gehölzen die Dörfer Friedrichslohra, Mönchslohra und Elende.

In grauer Vorzeit war diese Gegend mit einem dichten, schaurigen Wald bedeckt, welcher Lohra, der von den alten Sachsen hochverehrten Göttin der Liebe, geheiligt war. Wo nun die Reste der Bergfeste Lohra sich erheben, soll unter tempelartiger Bedachung ein Bild der Göttin gestanden haben, und dort, wo das Dörfchen Elende liegt, ein ihr geweihter Altar. Hier opferten die Jünglinge im Herbst die Erstlinge der Jagd, indessen die Jungfrauen im Frühling unter frohen Gesängen der Göttin Blumengewinde darbrachten.

Zu diesem weit verehrten Ort pilgerten solche, denen tiefes Leid das Herz beschwerte. Hier flehten die Frauen für das Leben des im wilden Kampf begriffenen Gatten oder Geliebten. Hatte der Tod denselben ereilt, so fanden sie wiederum hier Linderung in ihren Schmerzen. Denn ein der Göttin geweihter Quell gab jedem, der aus seinem klaren Wasser trank, das Höchste, die Vergessenheit. So hatte auch eine edle Jungfrau der Sachsen, deren Verlobter im Kampf gegen die Franken gefallen war, hier Trost in ihrem Schmerz gefunden und neue Liebe war an diesem Ort in ihr entflammt. Zum Dank erbaute sie der Göttin eine Burg, die Ruhensburg genannt. Noch heute trägt das Gehölz, wo dieselbe gestanden hat, diesen Namen.

Furchtbar aber strafte Lohra die Ungetreuen. Betraten sie ihren Hain, so erbebte der Berg, die Erde spie Flammen und verschlang die Frevler. Als nun Winfried, der Heidenbekehrer, auf seinem Zug durch Deutschland auch in diese Gegend kam, stürzte er das Bild der Göttin und ihren Altar, ließ an Stelle des Letzteren eine Kapelle errichten und weihte sie fortan dem Dienst des einzig wahren Gottes. Das Bild der Mutter des Heilands nahm den Platz der Heidengöttin ein. Aber schwer fand die neue Lehre Eingang in die Herzen der wilden Sachsen. Grollend zogen sie sich in ihre Wälder zurück. Die Kapelle wurde selten besucht und geriet fast in Vergessenheit. Da entriss sie derselben ein seltsames Ereignis.

Es war um die Weihnachtszeit. Der Sturm heulte mit den Wölfen um die Wette und fegte den Schnee bergehoch zusammen. Da kam noch spät am Abend ein Fuhrmann mit seinem Gefährt des Weges. Er musste den Wein, den er aufgeladen hatte, noch zum heiligen Fest in ein nahegelegenes Kloster bringen. Mühsam keuchten die Pferde vorwärts, bis sie endlich an einen Hohlweg kamen, wo sie mit ihrem Wagen in dem tiefen Schnee versanken. Kein Peitschenschlag, kein und Hott half. Die abgehetzten Tiere rührten sich nicht von der Stelle. Ratlos spähte der Fuhrmann umher. Er sah nichts als das Wirbeln der weißen Flocken und hörte nur das Brausen und Heulen des Sturmes. Weiter und weiter wurde sein Gefährt vom Schnee begraben. Da packte ihn die Angst, er wusste nicht, was er beginnen sollte. Er rang die Hände und schrie: »O Elend, o Elend!«

Plötzlich wurde es hell, der Schnee glitzerte in goldigem Licht und eine liebliche Jungfrau näherte sich dem erstaunten Mann und sprach mit sanfter Stimme, sie sei gekommen, ihm zu helfen. Sie ergriff die Zügel der Pferde und ohne Mühe zogen die Tiere den Wagen aus dem tiefen Schnee und fuhren mit Leichtigkeit weiter. Der Fuhrmann blickte verwirrt ob dieses Wunders auf seine Helferin, er wollte ihr danken; doch schien es ihm, dass karge Worte für solche Tat zu wenig seien.

»O hätte ich ein Gefäß, von meinem edelsten Wein würde ich Euch zum Danke spenden!«, rief er und blickte suchend umher.

Da wandte sich die Jungfrau zur Seite und berührte einen Rosenstrauch, der seine dürren Zweige sehnsüchtig aus der weißen Hülle hervorreckte. Im selben Augenblick prangte der Strauch im schönsten Blumenschmuck. Die holde Gestalt aber brach die duftenden Blüten, formte einen Kelch daraus und reichte ihn dem Fuhrmann. Wie dieser denselben jedoch mit Wein gefüllt ihr überreichen wollte, war sie verschwunden.

Den Kelch in der Hand schritt er nun neben seinem Gefährt wacker vorwärts; denn die Pferde zogen ihre Last mit Leichtigkeit, bis sie plötzlich, ohne dass ein Hindernis zu gewahren war, aufs Neue stehen blieben und auch keinen Schritt weiter zu bringen waren. Der Fuhrmann wollte wettern und fluchen, als sein Blick auf die kleine Marienkapelle fiel, die seitwärts vom Wege aus der weißen Schneehülle hervorlugte. Nun begriff er, warum die Pferde nicht weiter wollten. Hier sollte er für die ihm gewordene Hilfe danken. Er betrat den kleinen Raum, warft sich auf die Knie und blickte dankend empor zum Marienbild. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er in der Madonna seine geheimnisvolle Helferin erkannte. Voller Inbrunst sprach er sein Gebet und legte den Rosenkelch als Weihgeschenk auf den Altar.

Nun fuhr er weiter, kam ungefährdet an seinem Bestimmungsort an und erzählte dort von der wunderbaren Hilfe, die ihm geworden war. Die Sache sprach sich weiter und weiter herum, und von nah und fern eilte alles in die Kapelle, um den Rosenkelch zu sehen, der sich bald darauf in Gold verwandelt hatte. So wurde mit einem Mal die kleine, fast vergessene Kapelle weit und breit bekannt. Viele Kranke und Leidende kamen hierher, um zu gesunden, und es entstand, da dieselben ein Unterkommen haben mussten, das Hospital Zum Elende. Denn Elende wurde der Ort genannt, seitdem die Jungfrau hier dem Fuhrmann aus seinem Elend geholfen; nach anderen aber deshalb, weil hier so viele Kranke und Elende zusammenkamen. Dass die Besuche und Geschenke, welche die Gebrechlichen und Kranken der Maria zum Elende machten, nicht vergeblich waren, verkündete die große Menge von Krücken und Wanderstäben, welche die Gesundeten dort aufgehangen hatten und die bald alle Wände der Kapelle bedeckten.

Die reichlichen Gaben der herbeiströmenden Menge ermöglichten es bald, dass eine große, prachtvolle Kirche erbaut werden konnte, welche im Jahr 1400 fertig wurde. Zur Erinnerung an das Marienwunder wurde die Kirche unter dem Dach mit einhundertviersiebzig in Stein gehauenen Rosen geschmückt und erhielt außerdem den Namen Rosenkirche.

Die meisten der schönen Heiligenbilder und andere wertvolle Kirchengeräte, welche das Innere der Kirche zierten, kamen aber schon im Bauernkrieg fort; denn auch die Lohraischen griffen zu den Waffen und zerstörten die umliegenden Klöster. Die Rosenkirche jedoch schien ihnen zu viel Ehrfurcht eingeflößt zu haben, denn sie wagten nicht, Hand daran zu legen, sondern begnügten sich damit, sie auszuplündern. An dem daneben liegenden Pfarrhaus ließen sie aber ihre Wut aus. Johlend und tobend zog die wilde Rotte dorthin. Der Pfarrer sah sie nahen. Ihm mag wohl angst geworden sein, aber seine Geistesgegenwart rettete ihn. Im Hinterhaus standen viele Bienenkörbe, die holte er herbei und stellte sie mit der Vorderseite vor Tür und Fenster. Als nun die lärmende Horde eindringen wollte, schlug er mit voller Kraft auf die Körbe. Die Bienen, dadurch in Wut gebracht, fuhren unter die Bauern und stachen, wohin sie kamen, bis der wilde Haufen, der sich weder vor Gott noch Menschen fürchtete, vor den winzigen Tieren Reißaus nehmen musste.

Später, als das evangelische Bekenntnis in der ganzen Grafschaft Hohenstein, zu der auch Elende gehörte, förmlich und feierlich eingeführt ward, wurde die Kirche sehr vernachlässigt und dem Marienbild keine Beachtung mehr geschenkt. Obwohl die Jungfrau viele Wunder tat, um die Wankenden zurückzuführen zu ihrem Dienst, wurde sie doch von dem Platz, wo sie Jahrhunderte gestanden hatte, entfernt und in die Sakristei gebracht. Dies empörte sie aber dermaßen, dass sie an einem frischen, tauigen Morgen Elende verließ und nach Heiligenstadt im Eichsfeld wanderte. Dort wurde das gnadenreiche Bild noch lange in Ehren gehalten. Man zeigte das Kleid, dessen Saum stets nass vom Tau blieb.

Die schöne Rosenkirche ist aber nach und nach verfallen und musste, weil ihr Einsturz drohte, abgetragen werden. Nur noch ein kleiner Teil, der früher wahrscheinlich eine Seitenkapelle war, steht noch aufrecht. Darin wird auch heute der Gottesdienst gehalten. Die unter dem Dach befindlichen Rosen sind das Einzige, was an die glänzende Vergangenheit der Kirche erinnert. Die über die Straße hinüber sich erstreckenden Mauerreste lassen die ehemalige Größe ahnen. Die Reliquien und Heiligenbilder, welche noch vorhanden waren, kamen nach Friedrichslohra in die katholische Kirche, wo noch einige wertvolle Merkwürdigkeiten gezeigt werden. Die alte Bergfeste Lohra ist nun eine Domäne und unter neuen Gebäuden blicken nur Reste der alten Burg hervor. Das Sehenswerteste von dem Erhaltenen ist die Kapelle, eine Doppelkapelle, wie man sie im 11. und 12. Jahrhundert des beschränkten Platzes halber häufig – aber nur in Deutschland – baute, und welche es gestattete, dass das im unteren Raum anwesende Burggesinde an dem Gottesdienst teilnehmen konnte. Der obere Teil der Doppelkapelle in Lohra, welcher von der Gutsherrschaft zur kirchlichen Andacht benutzt wird, ist renoviert und bietet daher nichts besonders Sehenswertes mehr. Der untere Raum aber blieb unberührt, und die kunstvoll gearbeiteten Säulen zeugen von einstiger Pracht der Burg.

Auch der Garten, der durch seine Lieblichkeit den Beschauer überrascht, gibt mit seinen Ringmauern und den darin befindlichen lauschigen Lauben das getreue Bild eines alten Burggartens. Von hier aus führt ein unterirdischer Gang nach Elende. Man erzählt, dass Templer an dieser Stelle eine Kapelle gehabt und den Gang benutzt haben, um in ihr unten liegendes Kloster zu gelangen.