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Allerhand Geister – Zum schönen Brunnen – Teil 3

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Zum schönen Brunnen
Eine Kneip- und Spukgeschichte

3.

Von dem bekannten Unbekannten

Wir wissen es nicht, ob es wirklich besagte traurige Erfahrung und die Gedanken über dieselbe waren, welche die scharfen Züge des Oberstleutnants noch schärfer, die Augen noch dunkler erscheinen ließen und seinem ganzen Gesicht einen beinahe finsteren Ausdruck verliehen. Aber jedenfalls fühlte der alte Herr sich durch irgendetwas auf das Ernstlichste berührt und ergriffen. Denn auch seine übrige Erscheinung war nicht die gewöhnliche. Es prägte sich darin ein gewisses Nachlassen aus. Sein Schritt war langsam und schwer, und als er die Treppe hinaufstieg, war es, als ob er die Stufen zählte, ja die Rechte hatte das Geländer gefasst und zog anscheinend den Körper schier mühsam aufwärts. Oben, auf der letzten Stufe blieb er sogar stehen und ließ, einen kleinen Rauchwirbel nach dem anderen aus dem rechten Mundwinkel sendend, die Augen auf dem Boden haften.

Als er den Fuß wieder aufhob, wandte er sich nicht geradeaus seiner Tür zu, sondern – weiß es Gott – rechts, wo er doch selbst am hellen Tag ganz und gar nichts zu suchen hatte.

Diese unwillkürliche oder richtiger gesagt, völlig unmotivierte Bewegung brachte ihn indessen auch sogleich wieder zur Besinnung. Er warf den Kopf mit einer von seinen gewöhnlichen raschen Bewegungen auf und aus seinem Auge brach ein heller, gleichsam über ihn selber spottender Blick; ja seine Lippen murmelten etwas wie »sei doch kein alter Narr, Rudolf!« Aber es war nur ein Moment, denn schon im nächsten rückten die Brauen wieder hart zusammen und drückten tief auf die zugleich finster und scharf hinausblickenden Augen. Als müsste er ihnen zu Hilfe kommen, so hob er den Arm und streckte ihn mit dem Licht gegen den schmalen Gang aus, welcher hier von dem geräumigen Vorplatz abzweigte und zwischen dem Treppengeländer und den seitwärts liegenden Gemächern gegen die Hinterfront des alten Hauses und zu einem dort angebauten weiteren Fremdenzimmer führte. Dort, ganz hinten, hatte es ein flüchtiges und dennoch höchst auffälliges Geräusch gegeben, als ob irgendein nicht ganz leichter Gegenstand weitergerückt würde oder allenfalls eine Tür, die sich gesenkt hatte, beim Öffnen hart auf dem Boden streifte.

Nun wohnte aber augenblicklich in jenen Räumen niemand – der erwähnte Gast hauste hier vorn in Nr. 3 – und hatte, zumal zu dieser Stunde, auch unmöglich jemand etwas zu tun. Der Oberstleutnant hatte daher völlig recht, nicht nur überrascht durch das Vernommene zu werden, sondern sich auch über eine solche Verletzung der Hausordnung zu entrüsten. Indem er das Licht noch höher hob und einen Schritt weiter in den Gang selbst hineintrat, sprach er mit nichts weniger als freundlicher, aber doch gedämpfter Stimme – der rücksichtsvolle alte Herr dachte an den vermutlich schon längst schlafenden Gast – gegen den Hintergrund zu: »Wer ist da? Gibt’s Ruhe oder soll ich helfen?«

Es blieb alles still. Wie sehr der Oberstleutnant auch seine Augen anstrengte, konnte er doch nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. So zuckte er denn endlich die Achseln – mochte es gewesen sein, wer und was es wollte, an irgendeine Gefahr war natürlich nicht zu denken – und wandte sich mit einer ziemlich lauten, merkwürdig geschmackvollen Gähnkadenz ab und seinem Zimmer zu. Als er die Tür hinter sich ins Schloss drückte, blieb er wieder stehen, nickte vor sich hin und murmelte: »Die Alte will es ja nicht glauben, aber es sind natürlich nur die verdammten Ratten! Na, wartet, will dem Apotheker eine Visite machen.«

Er stellte den Leuchter auf den Tisch und putzte das Licht. Da sich in der Pfeife noch immer ein Rest brennenden Tabaks zeigte, so trat er zum Fenster und warf durch die eisfreie Ecke einer Scheibe den Blick in die wunderbar helle Nacht hinaus.

Das Bild, das er hier, gerade aus diesem Fenster, überschauen konnte, war wirklich ein betrachtenswertes und der Oberstleutnant ganz der Mann dazu, dasselbe zu würdigen und sich seiner zu erfreuen. Der volle Mond stand hoch über dem Markt und breitete sein Licht mit einem ganz einzigen Glanz über die Schneedecke unten und die wie kandiert schimmernden Lindenzweige hier oben; über die glitzernden Schaufenster des Materialisten und die anstoßenden Häuser, von der Schwelle hinauf bis zur First mit den langen Reihen der hier zusammengeschmiegt hockenden Krähen, während

gegenüber und drüben beim Rathaus alles in, man könnte sagen, lichtem Schatten ruhte. Der schöne Brunnen stand auf der Grenze: Ein paar Tritonen zeigten sich in fantastischer Beleuchtung, während die anderen in der Dämmerung beinah verschwanden und die Leichtgeschürzte sogar in höchst bedauerlicher Weise in eine helle und eine dunkle Hälfte geteilt war. Das Zweiggewirre der Lindenkronen hob sich mit überraschender Schärfe vom leuchtenden Hintergrund ab. Der Kirchturm reckte sich wie eine Nadel höher und höher, bis mitten zwischen die funkelnden Sterne hinauf.

Der alte Herr stand, schaute und rauchte schweigend vor sich hin. Auf seiner Stirn zeigten sich ein paar leichte Falten, und sein Augen blickten fast träumerisch. Man merkt es wohl, die Gedanken waren von Neuem über ihn gekommen, nur freilich nicht die früheren düsteren oder mürrischen, sondern eher fast ein wenig melancholische. So geht es wohl einmal einem alten Menschen, der plötzlich in seinem Inneren eine Sorge, eine Gefahr, einen Verlust sich regen und erheben sieht, die im Stillen dort vielleicht schon seit Langem geruht und möglicherweise sogar einmal um die Ecke geblickt haben mögen, deren er aber bisher noch niemals recht inne geworden ist. Nun freilich fehlt es an Letzterem nicht mehr. Denn nun stehen sie da und treten heran, erschreckend deutlich und drohend nahe. Da hilft kein Unglaube, kein Zürnen und kein sich Wehren mehr – die Augen lassen nicht von ihnen und die Gedanken kommen nicht von ihnen los. Und der Mensch fängt an, sich in seiner Schwäche zu fühlen und in seiner Not. Und mit der Ergebung kommt die Schwermut und die traurige Frage ringt sich los: Wie soll es werden? Was den Alten zuerst verdüstert hatte und nun wehmütig stimmte? Selbstgespräche führte Rudolf Kreishaupt nicht, aber, so ein einzelnes Wort oder auch ein paar entschlüpften ihm bei Gelegenheit dennoch wohl einmal. So murmelte er auch nun: »Ja, wenn sie wirklich fort ist, es wird toll, es wird ganz toll. Ich verstehe es nicht!«

Da war es! Er hatte Christine vor sich aufwachsen und erblühen sehen, vom wilden, lustigen Kind bis zum frischen und fröhlichen Mädchen. Er hatte sie schier vom ersten Tag an in sein Herz geschlossen und sie darin behalten, sie gehegt und gepflegt bis auf den heutigen Tag, unverbrüchlich treu und warm, voll Zärtlichkeit und Stolz, fast wie ein rechter Vater. Und er fühlte und wusste es so gut, wo nicht besser als alle Übrigen, dass sie die Seele dieses Hauses war und das Leben desselben. Wenn sie aus ihm schied, so musste das, wie das Haus und die Menschen darin und ihr Leben nun einmal waren, eine Lücke geben, die niemals und durch nichts wieder auszufüllen war. Dass ein solches Scheiden kommen müsste und kommen würde, hatten weder der Oberstleutnant noch die Übrigen sich verborgen. Es war vielmehr bekanntlich im engsten Familienrat sogar zuweilen schon davon geredet worden. Allein das Ding pressierte niemand, wie man zu sagen pflegt, und am wenigsten Christine selber. So schob man es stets wieder auf die Seite und dachte nicht mehr daran. Aber nun war es da oder doch verzweifelt nahe.

Und eben darum war der Georg wirklich der Richtige oder hatte der Apotheker mit seinem pfiffigen Blick noch etwas anderes, besonderes im Kopf gehabt?

»Der Teufel hol’s!«, sagte der Oberstleutnant grämlich, trat ins Zimmer zurück, klopfte die Pfeife aus und hängte sie an den ihr bestimmten Nagel neben der Schlafzimmertür. Als er dann das Licht putzte und den Leuchter aufnahm, stand er noch einen Augenblick still und horchte auf die Uhr, welche gerade mit wunderbarer Deutlichkeit durch die reine Luft und die stille Nacht vom Kirchturm herüber zwölf schlug.

»Mitternacht, na, das gesteh ich! Marsch, ins Bett«, sagte der Oberstleutnant, öffnete sofort die Tür und trat ins Schlafzimmer – bekanntermaßen ursprünglich Nr. 1 – und stand bestürzt auf der Schwelle. Denn einmal war es im Zimmer, das sonst das wärmste des Hauses, ganz unvernünftig kalt; zweitens flogen die beiden Dompfaffen in ihrem Käsig am Fenster wie wahnsinnig umher und gegen die Gitterstäbe; und drittens endlich war die Tür zu dem dunklen Kabinett, welches sich auch hier an das Gemach hauseinwärts anschloss, sperrangelweit geöffnet und erklärte zum wenigsten also gleich den ersten Punkt.

»Kinder, was habt ihr denn?«, rief der Oberstleutnant, voll Zärtlichkeit und Bedauern zum Käsig eilend, um durch seine Erscheinung und das helle Licht die armen kleinen Geschöpfe nur erst zu beruhigen und wieder einen festen Sitzplatz finden zu lassen. Der ganze Käsig lag voll Federn und die Tierchen zitterten und ließen, als sie ihren Gebieter erkannten, ein paar jammervolle Pfeiftöne laut werden.

»Arme Kerle … sind die Kanaillen von Ratten auch hier hereingekommen … durch die Tür? … Ja beim Kuckuck und seinem Küster, was ist denn eigentlich mit der Tür?«, grollte der alte Herr, drehte sich bei seinen Worten um und hob das Licht, um in besagte Richtung zu leuchten und … »Donnerwetter!«, sagte er völlig konsterniert und stand selber so starr und steif wie eine Acht. Denn die Tür war nun zu.

»Donnerwetter!«, sagte er noch einmal so recht tief aus der Brust heraus und schritt, nein, lief auf die Tür zu, riss sie auf und stand von Neuem wie Lots Weib. Denn aus der Mitte des ziemlich großen, von dem einzelnen Licht kaum erhellten Raumes glitt eben eine dunkle Gestalt rückwärts, gegen eine andere, in der Rückwand befindliche Tür – sie führte in das Zimmer Nr. 5 – und verschwand dort, noch bevor der Zuschauer seiner Sinne und Glieder wieder mächtig wurde.

Nun aber tat es durch ihn einen ordentlichen Ruck. Er sprang vorwärts mit einem grimmigen Laut und rüttelte an der Tür – umsonst. Ja, Gott der Herr weiß es, sie war fest verschlossen, so fest, wie sie es seit den dreizehn oder mehr Jahren, dass der Pensionär hier vorn hauste, stets gewesen! Fest verschlossen und nur eben noch offen! Fest verschlossen, ohne dass sie geknarrt, ohne dass das Schloss eingeschnappt, ohne dass ein Schlüssel sich gedreht oder ein Riegel sich vorgeschoben hätte!

Als der Oberstleutnant sich beinahe stöhnend umdrehte, wurde ihm eine neue Überraschung zuteil.

An der Wand des Kabinetts, welche gegen das Nachbarhaus stieß, erhob sich ein gewaltiger alter Schrank von fast schwarzem Eichenholz, ein ehrwürdiges und anscheinend völlig unverrückbares Möbel, das vermutlich noch von den frühesten Bewohnern des Hauses her stammte. Es gehörte zu dieser Wohnung wie ein viertes Gemach und der Oberstleutnant hatte in einem Teil desselben seine, beiläufig gesagt, sehr mäßige Garderobe untergebracht und im übrigen Raum allerhand aufgestaut, was sich allmählich um einen sammelt, nach einer Weile überflüssig wird und doch nicht geradezu weggeworfen werden soll. Geöffnet wurde der alte Kasten für gewöhnlich im Laufe des Jahres nur zweimal, im Frühling und Herbst, wenn eine andere Garderobe an die Reihe kam. Dieser Fall war heuer vor so und so viel Wochen eingetreten und stand erst in so und so viel anderen wieder in Aussicht. Trotzdem stand nun die eine der beiden schweren Türen weit auf. Als indessen der alte Herr nun auch die andere öffnete und mit flüchtigem, aber scharfen Blick das Innere misstrauisch durchmusterte, konnte er keine Spur von Unordnung entdecken, geschweige denn irgendein lebendiges Geschöpf.

»Rudolf Kreishaupt«, sagte der Oberstleutnant und trat auf die Schwelle des Schlafzimmers zurück, schaute mit einem Auge auf die verdächtige Tür Nr. 5, und mit dem anderen zu seinen nun ruhigen Vögeln hinüber und legte langsam und schwer die Hand an die Stirn. »Rudolf Kreishaupt, mein Sohn, bist du vielleicht ein wenig betrunken oder hast du deinen Verstand verloren? Treibt man nur sein verruchtes Spiel mit dir armen alten Mann oder haben die Waschweiber und Prinz Hamlet recht und es spukt vor deinen sehenden Augen? Da soll doch ein Donnerwetter darein schlagen!« Nach einem furchtbaren Kopfschütteln schritt er zum Spiegel am Fensterpfeiler, hob das Licht und unterwarf seine Erscheinung der allersorgfältigsten und gründlichsten Inspektion. »Ja was,« sagte er endlich mit neuem Kopfschütteln, »da ist ja alles in Ordnung. Ich bin hellwach und sehe ganz nüchtern und vernünftig aus! So sage mir nur in des Teufels Namen ein Mensch auf der Welt, was dies alles für neumodische, millionenverwünschte, hirnverrückte Geschichten sind?«

Zur Vermeidung jedes Missverständnisses müssen wir hierbei ausdrücklich versichern, dass Oberstleutnant Rudolf Kreishaupt für gewöhnlich sehr selten und dann nur in einer Weise zu fluchen pflegte, welche man jedem, nicht phlegmatischen Menschen unter Umständen wohl zugestehen und an ihm für natürlich erklären muss. Man kann daher schon aus dem gegenwärtigen Gebaren des alten Herrn auf seine extreme Aufregung schließen – eine Aufregung, die in Anbetracht des Geschehenen und Erschauten allerdings eine sehr erklärliche, ja völlig berechtigte war.

Nach einer Pause machte er sich von Neuem auf den Weg durch sein Gebiet, untersuchte noch einmal die rätselhafte Tür, den alten Schrank, den Käfig der Vögel, horchte gegen das Nachbargemach Nr. 3, wo der Gast hauste, schaute auf den Vorplatz hinaus und lauschte angestrengt. Alles umsonst. Es war überall still, soweit er darüber urteilen konnte, alles in schicklicher, gewöhnlicher Ordnung: Die Gespenster und die Ratten schienen sich vernünftigerweise zur Ruhe begeben zu haben. Da meinte der Alte, dass dieselbe nun auch wohl für ihn kommen dürfe. Aber, was er in all den Jahren noch nicht ein einziges Mal getan hatte – er schloss die beiden Außentüren und sogar diejenige zum Kabinett mit voller Gewissenhaftigkeit zu, stocherte mit einem Stock unter seinem Bett und dem Sofa umher und legte seine alten Pistolen, mit neuen Kupferhütchen versehen, auf den Nachttisch. Dann ging er zu Bett, löschte das Licht und lag horchend. Allein es regte sich nichts.