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Allerhand Geister – Zum schönen Brunnen – Teil 2

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Zum schönen Brunnen
Eine Kneip- und Spukgeschichte

2.

In der Weinstube

Das Haus Zum schönen Brunnen war ein merkwürdig gesundes, und hätte der alte Sanitätsrat dasselbe nicht so ziemlich jeden Abend um seines Abendtrunkes willen besucht, so würde er jahrelang keinen Fuß über die Schwelle zu setzen gehabt haben. Da war von Krankheiten weit und breit keine Rede und, abgesehen von einem gelegentlichen Rheumatismus, der den Oberstleutnant dann aufs Äußerste verstimmte, auch nicht von irgendeinem Unwohlsein. Aber damit nicht genug, konservierten sich diese Menschen auch auf das Wunderbarste und wurden zwar runder und behaglicher, aber eigentlich nicht älter. Denn der Oberstleutnant war doch nun gleich seinen Wirten schon in den Sechzigern, allein er so wenig wie sie zeigten irgendeine Spur des Verfalls. Er war – darin machte er allerdings eine Ausnahme – noch ganz der gleiche hagere und stramme Geselle mit dem kleinen Kopf, dem kurz geschnittenen grauen Haar und Bart, den ein wenig scharfen Zügen und den hellen, klugen Augen, der vor dreizehn Jahren bei den alten Freunden wieder aufgetreten war.

So stand es auch mit allen und allem Übrigen, man könnte sagen, mit dem gesamten lebenden und toten Inventarium. Überall begegneten einem die alten Gestalten und Gesichter, überall sah man die alten Möbel und fand man die alte Ordnung, die alte Weise, die alten Gewohnheiten und die alte Zufriedenheit. Christine war aus dem lustigen und derben Kind freilich zur Jungfrau erwachsen; aber man darf dabei um Gotteswillen nicht an das Zarte, Duftige, Schwermütig-Sentimentale denken, das man in Gedanken mit dieser hochpoetischen Bezeichnung zu verbinden pflegt. Sie war ein schlankes und festes, schmuckes und lustiges Mädchen, das mit Singen und Tanzen durch das Leben wie durch das Haus dahinfuhr, an dem jedermann seine Freude hatte, so reich an Frische und Jugend, dass dieselben ihre ganze Umgebung überstrahlten und alle Welt mit sich fortrissen. Ja, man durfte schon glauben, dass sie es war, die auch das Haus und die Menschen, trotz aller Stille und Ordnung, trotz ihrer Jahre und ihrer Gewohnheiten, so behaglich, so frisch und rüstig erhielt.

Sie wussten das auch alle recht gut. Als sie eben dem Postmeister noch einen frischen Schoppen gebracht hatte und nun mit leichtem Fuß und lachendem Blick in dem dunklen Kabinett verschwand, welches in dem tiefen Haus rückwärts an die Weinstube stieß, da schauten ihr alle Augen freundlich nach.

Der eine sagte: »’ist ein Herz!« Und der andere tat einen tiefen Zug, wie auf ihr Wohl.

Der Sanitätsrat aber, welcher grade aufstand und sich den Rock zuknöpfte, meinte launig: »Sie, Postmeister, sind Sie denn ganz des Teufels, dass Sie sich noch einen neuen Schoppen geben lassen, und die Uhr ist bald elf?« Da der Genannte und noch ein paar andere erschreckt die Uhren herauszogen, fügte er scherzend hinzu: »Oder sind Sie am Ende gar Christines? Ja, das Mädel verführt uns alle! Und wenn sie einmal nicht mehr da ist, wird es uns nicht halb so gut mehr schmecken. Gute Nacht, schöner Brunnenwirt und ihr Herren alle! Wer kommt mit?«

Zur Erklärung dieser auch früher schon erwähnten, abendlichen Weinstubensessionen und zur Beruhigung solid denkender und lebender Staatsbürger müssen wir hier die Bemerkung einschieben, dass die Stadt an der Grenze eines echten und rechten Weinlandes liegt und ihre Bewohner daher über den Genuss des edlen Rebenblutes anders denken, als es zum Exempel in der norddeutschen Ebene der Fall zu fein pflegt. Hierzulande sind oder waren vielmehr die diversen Tages- und Abendschoppen nicht etwa eine bedenkliche Liebhaberei einzelner überdurstiger Seelen, sondern ein Naturbedürfnis und ein Bürgerrecht. Es wäre kein rechter Mann und Mensch gewesen, der nicht zur bestimmten Stunde, am bestimmten Tisch seine bestimmte Anzahl von Schoppen versorgt hätte und zur schicklichen Zeit, d. h. um die Polizeistunde, nach Hause gegangen wäre.

So war es denn auch an diesem Tag geschehen. Der Diskurs war ein ungewöhnlich belebter und der Gesprächsstoff ein schier endloser gewesen. Hübsches Kneipwetter, um diesen Ausdruck zu wählen, war es auch, dass die Wagenräder auf dem Schnee knarrten und die Fensterscheiben trotz der schützenden Laden sich mit glitzernden Eisblumen bedeckt zeigten. Und endlich hatte man Christine noch extra lustig gefunden und den Wein süffiger als je – item, man hatte sich’s wohl fein lassen und die Zeit war vergangen, man wusste nicht wie, und – da, da rief weiß Gott der Nachtwächter richtig schon die elfte Stunde ab!

So fand die Aufforderung des Sanitätsrats denn auch rasche und allgemeine Zustimmung; die Gläser wurden geleert – der Postmeister tat es ersichtlich mit einer Art von Bitterkeit: Ein solches Hinunterstürzen stand dem Mann, seinem Geschmack und dem Stoff gleich schlecht an, aber lieber Gott, es war wirklich und unbegreiflicherweise elf Uhr, und die Frau daheim nahm in diesem Punkt durchaus keine Raison an!

Man stellte die Pfeifen ins Brett, langte nach Überziehern, Hüten und Stöcken, und dann wünschte man dem Oberstleutnant eine geruhsame Nacht, witzelte über den Apotheker, der noch sitzen blieb, freilich aber, wie wir wissen, Haus an Haus wohnte, schüttelte Gottlieb Wengler die Hand und zog in die glitzernde und flimmernde Mondnacht hinaus.

Die drei Zurückgebliebenen waren eine Weile still. Man hörte es, das die Übrigen sich draußen vor der Tür voneinander verabschiedeten, laut und lachend – es gab zu solcher späten Stunde stets noch den einen oder anderen Witz auf Kosten des Postmeisters – und dann davonstampften in einer, für so würdige Herren fast ein wenig unziemlichen Eile. Darauf erstarb aber auch draußen alles Geräusch.

Nun sagte der Apotheker, nach einem langen Zug das Glas niedersetzend, mit einem eigentümlichen, spürenden Blick auf den Wirt: »Wenn die Christine mal nicht mehr da ist, hat der Sanitätsrat gesagt. Wie ist’s, Gevatter? Das könnte, glaube ich, schneller kommen, als wir denken, gelt? Ich habe so ein Vöglein pfeifen hören.«

»Kein Wunder!«, bemerkte der Wirt phlegmatisch und klopfte seine Pfeife in den großen blechernen Aschenbecher aus. »Hast ja von jeher das Gras wachsen hören.«

»Hm, auch!«, versetzte der andere schmunzelnd. »Diesmal ist’s aber kein so großes Kunststück, sondern ganz simpel. Denn wenn man zwei so miteinander stehen sieht, wie ich, und sich die Hände drücken, die Blicke miteinander austauschen, flüstern und lachen und, wenn sie einen Dritten in der Nähe sehen, davonlaufen, wie ein paar Diebe …«

»Von wem sprechen Sie denn eigentlich, wenn man fragen darf?«, schob hier der bisher außerordentlich schweigsame Oberstleutnant nicht ohne eine bemerkbare Schärfe ein.

»Ei, mein lieber Herr Oberstleutnant, von wem denn sonst, als von der ehrsamen Jungfrau Christine Wengler und … und … und … na von dem großen Schlagetot, Gemeinderat Georg …«

»Oho!«, sagte Gottlieb Wengler.

»So, so!« machte der Oberstleutnant.

»Aha!«, meinte der Apotheker, von einem zum anderen blickend und sich die Hände reibend, »so scheine ich besagten Vogel also demnach nicht falsch verstanden zu haben und werde am Ende schon gratulieren dürfen, Gevatter?«

Aber der Wirt zuckte die Achseln und in seiner sonst stets so zufriedenen Miene ließ sich etwas wie ein flüchtiger Verdruss bemerken. »Ja, was«, entgegnete er, leerte langsam sein letztes Glas und erhob sich ein wenig schwerfällig, was in Anbetracht seiner Leibesbeschaffenheit und der ungewöhnlich langen Session grade kein Wunder, aber nun ein Zeichen war, das es Aufbruchs- und Schlafenszeit sei. »Ja was, uns Alten hier und drüben war’s schon lange recht, und dass es dem Georg ernst ist, glaube ich auch. Aber die Kleine? Na, wenn du sie wirklich so gesehen hast, Gevatter, und sie endlich vernünftig wird, so schicke ich dir zwölf Flaschen vom Mutterfass. Aber ich glaub es nicht. Und nun, Kinder, lasst uns zu Bett gehen. Du kannst sonst morgen vor Mittag wieder kein Rezept lesen, Apotheker!«

Der Apotheker lachte. »Ja, der Sanitätsrat verschreibt sich und behauptet dann, ich habe mich verlesen! Reine Injurien, ihr Herren, aber was will man machen? Doch es ist Zeit für mich, und so nur noch auf ein Wort«, fügte er wieder mit einem spürenden Blick hinzu. »Sag einmal, Gevatter, was will und treibt hier eigentlich der Mensch, der da fast schon seit acht Tagen bei dir logiert? Laub heißt er wohl? Kennt, scheint’s, keinen Menschen, hat keine Geschäfte, treibt sich umher mitten im Winter! Wer ist er und was will er?«

Gottlieb Wengler schaute den Frager kopfschüttelnd an. »Was fällt dir denn ein?« fragte er. »Ein Fremder ist’s, Laub heißt er und Forstkandidat, glaube ich, nennt er sich. Will hier, glaube ich, auf irgendjemand oder irgendetwas warten. Wen geht denn das etwas an?«

»So? Na, und was will er bei mir oder mit mir? War vorgestern Morgen da und schien Lust zu Diskursen zu haben. Habe ihn aber kurz abfahren lassen. Liebe solche Herumtreiber nicht, und dann erinnert mich sein Name auch an jenen schlechten Kerl, den Bankrotteur und an die Dummheiten mit meinem Mädel …«

»Gevatter, du bist im Ganzen ein guter Kerl, aber dass du das Kind immer mit dem Bade ausschüttest …«

»So? Na, an deiner Stelle würde ich mich mit ihm vorsehen. Man hört so viel von Industrierittern …«

»Dummes Zeug, Gevatter! Mach, dass du in die Federn kommst!«

»Schon recht. Der Herr Oberstleutnant denkt wie ich, sehe es ihm an. Angenehme Ruhe, meine Herren!«

Als Gottlieb Wengler wie gewöhnlich den letzten Abendgast selber hinausbegleitet hatte, um eigenhändig hinter demselben die Haustür zu verschließen und in die Weinstube zurückkehrte, hatte der Oberstleutnant die beiden Lampen – eine von den wenigen Neuerungen, zu denen man sich im schönen Brunnen verstanden hatte, bis vor fünf oder sechs Jahren brannte man nur Lichter und es standen noch Lichtscheren auf dem Tisch – ausgedreht, sein Licht angezündet und ging, wie üblich, höchst diskret aus seiner alten Marschpfeife rauchend, im Zimmer auf und ab. Der brave Herr war einer von den rüstigsten und beliebtesten Mitgliedern dieser Abendgesellschaft. Er trank seinen Wein mit so viel Verständnis und sichtbarem Genuss, dass jedermann seine Freude an ihm haben musste. Er war, wenn er nicht zufällig einmal seinen Rheumatismus hatte – dagegen schützte ihn, wie bemerkt, das gesunde Haus allerdings nicht – ein unterhaltsamer Gesellschafter, stets bei guter Laune, stets mit irgendeinem guten Einfall oder einem trocken-witzigen Schlagwort bei der Hand, das die Lacher auf seine Seite brachte; stets endlich beim letzten Glas so frisch wie beim ersten und unbedingt der Letzte, der seinen Platz verließ. Das alles war auch an diesem Abend zugetroffen, bis der Sanitätsrat zum Aufbruch gemahnt hatte. Seitdem war der Herr aber, wie auch wir es bemerkten, so gut wie völlig verstummt und, als er einmal die Lippen geöffnet hatte, ungewöhnlich barsch herausgefahren. Genug, Gottlieb Wengler, dem nichts von dies allem entgangen war und der nun obendrein durch die gleichfalls durchaus ungewöhnliche Promenade des alten Freundes verblüfft wurde, hatte ein gutes Recht zu der Bemerkung: »Na, Herr Oberstleutnant, wie ist’s? Hat der alte Narr Euch richtig seine eigenen Mäuse in den Kopf gesetzt und haltet Ihr den schmucken Menschen auch für einen, wie sagte er, Industrieritter?«

Der Oberstleutnant zog verdrießlich die Brauen zusammen. »Ach was, alter Narr, schmucker Mensch und Industrieritter!«, versetzte er ungeduldig. »Euer Kopf ist doch nur halb gewitzt, alter Gottlieb, und die andere Hälfte so dick, dass man Wände damit einrennen kann! An unser Mädel dachte ich und dass das Dingelchen nun doch wirklich wohl bald einmal das Quartier wechselt. Es wäre uns recht, aber der Sanitätsrat hat auch recht: Es wird uns hier kurios zumute werden!«

»Na, na, nur sachte, sachte, alter Herr!«, meinte der dicke Wirth gemütlich. »So weit sind wir noch nicht und ehrlich gestanden, ich glaube noch gar nicht daran. Weiß der Kuckuck, was sie mit dem Georg zu verhandeln gehabt hat. Dummheiten, das wäre möglich. Aber was Ernsthaftes und Vernünftiges? Wüsste nicht, woher es ihr so Knall und Fall gekommen sein sollte?«

Der Oberstleutnant kehrte vom Fenster zum Tisch zurück, nahm seinen Leuchter und sagte, dem Auge seines Wirtes mit einem tiefen Blick begegnend, im nachdenklichen Ton: »Hat uns der Gevatter das mit dem Georg nicht am Ende nur aufgebunden. Gottlieb?«

Der Wirt schaute erstaunt auf. »Ja wieso denn und warum denn?«, fragte er. »In der Stadt ist der Georg heute gewesen, weiß ich, und im Übrigen …«

»Nun, ich meinte auch nur so«, unterbrach ihn der Offizier achselzuckend. »Er sah dabei Euch und mich so verwünscht pfiffig an, dass ich dachte: Na, was steckt denn da dahinter? Also, Ihr habt nichts gemerkt, und so wollen wir zu Bett gehen. Oder«, fügte er munterer hinzu, »wollen wir uns noch eine Flasche holen, alter Gottlieb, und das Ding mit der Kleinen und dem Georg gründlich durchreden? Zur Ruhe komme ich, glaube ich, doch noch nicht.«

»Danke, danke!«, versetzte Gottlieb Wengler lachend. »Mann, Ihr habt den Teufel im Leib, bald Mitternacht und noch eine frische Flasche! Die Justine würde an mir am Ende zur Frau Postmeisterin! Aber nehmt Euch selber noch eine mit hinauf, wenn’s partout nicht anders geht. Der Registrator hat nur eine getrunken, die andere steht noch im Kabinett.«

»O, Gottlieb, Gottlieb!«, sagte der Oberstleutnant mit sehr ernstem Kopfschütteln und in schwer strafendem Ton. »Geheime Stubenkneiperei – ich! O Gottlieb, Ihr habt heute Abend entschieden zu viel getrunken und müsst freilich ins Bett. Es geht bergab mit Euch. Warum muss ich der Erste sein, der diese traurige Erfahrung an Euch macht?«