Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Die Zauberhand der Matani – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Die Zauberhand der Matani

2. Kapitel

Das braune Mädchen

Wir warteten, bis der Dampfer ein gut Stück von uns ab war, zogen dann die Ruder ein, und Harst begann nun erst die tote Inderin eingehender zu untersuchen. Wir hatten sie bis dahin absichtlich nicht angerührt. Es sollte nicht gerade jeder an Bord des King Edward sofort merken, dass wir »Leute vom Fach« für derartige Rätsel wie dieses hier waren.

Harst beugte sich über die Leiche, hob den rechten, verstümmelten Arm am Ellbogengelenk etwas an, um die furchtbare Wunde genauer zu betrachten.

Da — aus den offenen Adern und Venen begann das Blut sofort wieder hervorzuquellen, und zwar stoßweise.

»Sie lebt noch!«, rief Harst. »Her mit dem einen Plaidriemen!«

Er drückte den Arm nun dicht über der Wunde mit der Hand fest zusammen. Ich gab ihm den Riemen, den wir ganz fest anzogen. Die Blutung hörte auf.

Harst schaute sich den Armstumpf nun eingehend an.

»Furchtbar!«, meinte er. »Die Hand ist fraglos mit einem ziemlich stumpfen Beil, aber mit großer Kraft abgetrennt worden. Die Knochen sind zersplittert. Aber gerade der geringen Schärfe des Beiles ist es zuzuschreiben, dass diese junge Frau noch nicht verblutet ist. Die Aderenden sind zerfasert und halb geschlossen …”

Er nahm nun die linke Hand und fühlte nach dem Puls.

»Oh, gar nicht so sehr schwach. Zu viel Blut hat sie nicht verloren«, erklärte er. »Ich behaupte, dem armen Mädchen … ich schätze auf achtzehn Jahre … ist erst hier im Nachen die Hand abgehauen worden.«

Er schaute sich um, zeigte dann auf die kurze Ruderbank dicht neben dem Steuer.

»Dort ist es geschehen. Sieh die Blutspritzer und die Kerbe der Beilschneide! Was hältst du hiervon, Schraut?«

Ich konnte nur die Achseln zucken. »Keine Ahnung.«

»Hm, jedenfalls nichts Alltägliches«, meinte er. »Dieses braune Mädchen gehört fraglos den intelligenteren Ständen an. Die linke Hand ist sehr gepflegt. Da, überzeuge dich selbst. Die Nägel sind knallrot gefärbt und sehr lang, stark gewölbt. Eigentlich eine sehr schöne Hand, Schraut, nicht wahr; tadellos geformt, tadellos proportioniert. Öffne doch mal meinen Koffer und nimm die Reiseapotheke heraus. Zunächst wollen wir den Armstumpf gründlich säubern. Am besten wir lassen den rechten Arm über Bord ins Wasser hängen und rudern eine Weile. Meerwasser desinfiziert recht gut.«

Zwanzig Minuten später hatte Harst nicht nur die Adern und Venen ganz kunstgerecht abgebunden, sondern auch einen zweckmäßigen Verband angelegt. Er verstand von allem etwas. Und dieses Etwas hätte in der Medizin für das erste Examen wahrscheinlich gelangt.

Das braune, nackte Mädchen lag nun unter einem Schutzdach, das wir aus einem aufgetrennten Oberhemd Harsts hergestellt hatten. Wir ruderten jener Flussmündung zu, die ich vorhin schon bemerkt hatte.

Manches an Harsts Verhalten erschien mir recht seltsam. Weshalb wohl liefen wir erst dieses Flussdelta an, anstatt eiligst weiter nach Norden unseren Weg fortzusetzen? Weshalb unterzog Harst, während ich nun allein die Ruder gebrauchte, das plumpe indische Fischerboot einer so sorgfältigen Besichtigung? Weshalb durchwühlte er sogar den Haufen Seetang, auf dem die noch immer Bewusstlose lag?

Ich beobachtete ihn. Ach, wie anders sah er doch nun aus als vorher im Liegestuhl auf dem King Edward! Von Müdigkeit von Verzagtheit keine Spur mehr. Alles an ihm lebte, sprühte Eifer und Berufsbegeisterung.

Nun setzte er sich mir gegenüber auf die nächste Bank, öffnete die rechte Faust, hielt mir das unter die Augen, was er bei der Durchsuchung des Nachens gefunden hatte.

Es waren dies: Ein Zigarettenstummel, unten mit Korkmundstück; ein Stofffaserchen von grün-grauer Farbe, das er hinter einem Splitter des Bootsrandes hervorgezogen hatte, und ein paar blonde Haare, die etwa zwei Zentimeter lang an einem Ende zusammenbackten.

»Überaus wertvolle Kleinigkeiten«, meinte er. »Der Zigarettenstummel riecht noch ganz frisch. Man sieht auch noch einen Teil der Firma in Golddruck, und man kann das Fehlende leicht ergänzen. Hier hat jemand vor Kurzem eine Boswell-Zigarette der Firma Karigni Freres, Bombay, geraucht. Dann: diese Stoffaser besteht aus zwei Fäden, grün und grau. Es dürfte sich um einen Herrenanzug handeln, Sportanzug, lodenartig. Schließlich diese fünf Härchen. Na, Schaut, wie beurteilst du diese Haare …«

Ich zog die Ruder ein. Er legte mir das kleine Haarbüschelchen auf die Hand. Dort, wo die Haare aneinander backten, war ein Schilberchen von bräunlicher Farbe zu sehen.

Ich hätte nun früher nicht Schmierenschauspieler gewesen sein müssen, wenn ich nicht sofort Bescheid gewusst hätte.

»Haare von einem falschen Backenbart«, sagte ich mit aller Bestimmtheit.

»Richtig!«

Ich begann wieder zu rudern. Das Flussdelta war mit Büschen und verkümmerten Palmen bestanden. Ich trieb das Boot in den breitesten Mündungsarm hinein. Dann löste Harst mich ab. Bei dieser Sonnenglut hielt man die Ruderarbeit nicht lange aus.

Wieder verging etwa eine halbe Stunde. Wir befanden uns nun längst in dem eigentlichen Fluss, der etwa fünfzig Meter breit war. Nirgends war etwas von einer Ansiedlung, einem Dorf oder dergleichen zu bemerken. Lediglich ein paar verlassene Hütten hatten wir bisher festgestellt.

»Eine recht einsame Gegend«, meinte Harst. »Ich wette, dass hier im Vorjahr die Pest oder die Cholera gewütet hat. Dort, das sind die Reste eines niedergebrannten Eingeborenendorfes. So beseitigt man hier den Ansteckungsstoff …«

Er wollte noch etwas hinzufügen.

Unter dem primitiven Sonnendach ein Seufzer.

Wir fuhren beide leicht zusammen. Das Mädchen war zu sich gekommen. Harst kniete nun neben ihr.

»Bleib ruhig liegen. Du bist bei Freunden«, sagte er zart und liebevoll. »Dir wird nichts Böses mehr geschehen. Verstehst du mich? Kannst du Englisch?«

Die Antwort kam recht kräftig der armen jungen Frau über die Lippen.

»Ja, recht gut. Wo bin ich? Wo ist Doktor Palwerlan?«

Da erst hatte sie einen Blick an sich entlang geworfen, hatte gesehen, dass sie in ein Männeroberhemd gehüllt war, hatte auch den verbundenen Armstumpf bemerkt.

Ein gellender Schrei! Und ihr Kopf sank wieder zurück. Sie war abermals ohnmächtig geworden.

Harst rieb ihr die Schläfen mit Flusswasser ein, dann mit Spiritus aus der Reiseapotheke. Es half nichts.

»Hoffentlich versagt das Herz nicht«, flüsterte er besorgt. »Der Schreck für das bedauernswerte Geschöpf muss ja auch entsetzlich gewesen sein. Jedenfalls trifft meine erste Vermutung nicht zu. Ich glaubte, sie hätte sich gewehrt und dabei jemandem hier im Boot die falschen Haare ausgerissen. Aber sie muss doch wohl durch ein Narkotikum betäubt gewesen sein, als ihr die Hand abgeschlagen wurde. Aha, dort ist ja auch ein Gehöft dicht am Fluss. Steuere darauf zu, Schraut. Mich interessiert das Motorboot, das dort an dem Bootssteg liegt. Ich rate dir aber, deinen Revolver entsichert vorn in die Jacke zu schieben. Die Leute, die dort wohnen, müssen einiges über dieses arme Kind wissen …«

Ich hatte allen Grund, ihn fragend anzusehen. Wie konnte er mit solcher Bestimmtheit behaupten, dass die Bewohner des freundlichen, weißgestrichenen Hauses dort mit dieser rätselhaften Sache etwas zu tun hatten?

»Du sollst nun auch erfahren«, erklärte er, »weshalb ich 50 Pfund opferte und den Dampfer den Kurs ändern ließ. Ich habe tadellose Augen. Als wir die Auseinandersetzung der Kündigung wegen gehabt hatten und als ich an die Reling trat, tauchte der Dampfer gerade aus einer kleinen Dunstwolke auf. Ich hatte also die Aussicht schräg vorwärts zur Küste frei. Und da bemerkte ich zwei Boote dicht nebeneinander, von denen das eine plötzlich sehr eilig dem Flussdelta zujagte. Nur ein Motorboot jagt so schnell. Und jenes Motorboot dort am Steg wird wohl das so hastig sich entfernende gewesen sein. Mir kam diese Eile sehr verdächtig vor. Der King Edward war plötzlich aus den Dunstmassen hervorgedampft und es machte auf mich den Eindruck, als habe sein Erscheinen das zweite Boot in die Flucht getrieben. So, nun weißt du alles. Schau, dort kommt ein dicker Europäer aus dem Gebäude herbeigewatschelt. Fraglos ein Holländer. Kein gefährlicher Gegner offenbar …«

Er deckte das braune Mädchen unauffällig mit unseren Jacken zu, die wir abgelegt hatten.

Ich drückte den Nachen an den Steg heran. Der Europäer winkte und schwenkte den breiten Strohhut, rief, indem er den Brettersteg entlangschritt: »Meinen Gruß, Ihr Herren! Man ist hier nicht gerade an weißen Besuch gewöhnt …«

Harst schwang sich schon auf den Steg.

»Weller«, stellte er sich vor. »Das dort ist mein Kollege Hastings. Wir haben eine Ruderpartie unternommen und bitten um einen kühlen Schluck, nichts weiter …«

»Graavenjong«, nannte der Dicke seinen Namen. »Kommen Sie bitte mit ins Haus meine Herren. Es wird mir ein …«

»Das geht nicht!«, fiel ihm Harst ins Wort »Wir haben es eilig. Würden Sie uns das Motorboot für einen Tag, besser, bis Abend leihen? Ich biete Ihnen zehn Pfund und lasse Ihnen 500 Pfund als Sicherheit da.

Der Holländer schüttelte lächelnd den Kopf. »Wenn es so weiter geht, werde ich durch das kleine Motorfahrzeug noch reich. Ich hatte es heute schon einmal ausgeliehen …«

»So?«

»Ja, ja. Zwei Eingeborene waren hier, zwei Kaufleute, sehr gebildete Leute. Sie wollten das Land nach der Flussmündung zu sich ansehen. Wohl Terrainspekulanten oder so was …«

»Wahrscheinlich«, sprach Harst.

Zehn Minuten drauf hatten wir das Boot im Schlepptau und ratterten mit dem kleinen Motorkutter davon.

»Ein Glück, dass Graavenjong das Pulver nicht erfunden hat!«, meinte Harst. »Jedem anderen wäre wohl aufgefallen, dass wir in unserem Bretternachen etwas so sorgfältig Zugedecktes liegen hatten. Wir wissen jetzt also: Zwei Inder sind bei diesem an dem Mädchen verübten Verbrechen beteiligt gewesen. Graavenjong log nicht. Dazu ist er zu harmlos. Er hat auch nicht gemerkt, dass ich für die Kleidung und die Gesichter dieser beiden so viel Interesse hatte.«

Als wir in einen Deltaarm einlenkten, wo wir nun zwischen den Büschen gegen Sicht gut gedeckt waren, brachten wir die Verstümmelte an Bord des Motorbootes und verbargen den Nachen selbst in einem verkrauteten Seitenarm.

Dann setzten wir die Fahrt nach Madras fort. Harst verstand von der Bedienung eines Bootsmotors genug, um den Maschinisten spielen zu können. Wir kamen nun in die offene See, steuerten nach Norden zu die Küste entlang und stärkten uns an den Früchten, die Graavenjong uns mitgegeben hatte.

Harst hatte inzwischen allerlei Mittel angewandt, die Ohnmächtige ins Leben zurückzurufen. Es wollte nicht gelingen.

Nun ging Harst abermals in die winzige Kajüte hinab, kam sofort wieder nach oben gestürzt und rief: »Sie stirbt. Gib den Kognak her. Es ist das Letzte, was ich versuche. Das Herz setzt schon aus …«

Doch auch der Alkohol vermochte die schwindenden Lebensgeister nicht aufzufrischen. Das Mädchen verschied, ohne nochmals das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Harst gab auf den Motor Acht und blätterte dabei in alten Zeitungen, die er in einem Wandschränkchen der Kajüte gefunden hatte.

Die Hafenstadt Madras mit ihrer offenen Reede war nun schon mit bloßem Auge zu erkennen. Um uns her wurde es lebhaft. Fahrzeugen aller Art begegneten wir. Niemand beachtete uns. Harst hatte die Absicht, dass erste uns begegnende Hafenpolizeiboot anzurufen und den Vorfall zu melden. Allerdings wollte er dieses doch recht rätselhafte Verbrechen für uns damit nicht etwa als erledigt betrachten. Nein, er hatte mir erklärt, dass wir uns der Sache gleichfalls widmen würden, zumal er dahinter irgendein Geheimnis besonderer Art vermutete.

Zu meinem Erstaunen rief er mir jetzt zu: »Bitte mehr Nordostkurs, quer über die Reede hinweg. Ich habe meinen Entschluss geändert, Schraut. Wir werden erst nach Dunkelwerden nach Madras hinein …«

Eine Stunde später steuerten wir nördlich der Stadt in eine große Lagune hinein, suchten hier einen versteckten Ankerplatz auf und warteten den Abend ab.

Auf meine Frage, weshalb wir all die Stunden hier in der ungesunden Fieberluft mit der Leiche an Bord zubringen sollten, erwiderte Harst nur: »Weil dieses Verbrechen geheim bleiben muss – wenigstens vorläufig. Ich glaube jetzt nämlich herausgefunden zu haben, wozu man die Ärmste ihrer Hand beraubt und ihr gleichzeitig oder vielmehr vorher eine solche Dosis eines Betäubungsmittels eingegeben hat, dass sie in den Tod hinüberschlummern musste.«

Weitere Fragen beantwortete er ausweichend, obwohl ich ihn daran erinnerte, dass er mit seiner Geheimniskrämerei in Colombo doch letztens so sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Er verfiel wieder in den alten Fehler – leider! Das ärgerte mich. Es war geradezu eine Schwäche von ihm, seine Weisheit stets bis zuletzt, bis zur Entscheidung, für sich behalten zu wollen. Er merkte, dass ich ein wenig verschnupft darüber war. Er versuchte mich dadurch zu versöhnen, dass er mir versprach, er würde mir spätestens Abend noch über alles Aufschluss geben.

Ich war damit zufrieden. Und da man gegen Harsts Herzlichkeit sich schwer ablehnend verhalten kann, stimmte ich nachher auch zu, mich wieder als sein Freund und Privatsekretär zu betrachten. Ihm lag nur daran, mir weiter das hohe Gehalt zahlen zu können.

Als wir dergestalt wieder miteinander einig waren, meinte er: »Mein lieber Alter, der kleine Zwist hat ein Gutes gehabt. Wäre ich nicht so verärgert an die Reling getreten, so hätte ich das treibende Boot nicht bemerkt. Und dann würde vielleicht dieses Verbrechen nie aufgeklärt worden sein. So aber wird es aufgeklärt werden, und wenn ich monatelang hier in Madras bleiben müsste!«