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Die Riffpiraten – Kapitel 10

Heinrich Klaenfoth
Die Riffpiraten
Verlag Albert Jaceo, Berlin, um 1851

Kapitel 10

Die letzten Worte eines Sterbenden

Zwei Monate nach dieser geheimnisvollen Abendpromenade der Prinzessin Judith durchschritt eine kleine Dame in der Frühe schon einige der Hauptstraßen Mexikos. Sie hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Ein wohl ausstaffierter Diener in glänzender, goldbordierter Livree folgte ihr auf drei Schritte, ebenfalls einen Regenschirm über sich ausgebreitet. Er trug den Pompadour der kleinen Dame, aus dem eine Strickscheide ein wenig hervorsah, und hatte eine Rolle Papier in der Hand.

Es war ein angenehmer Morgen. Der glühende mexikanische Himmel war mit grauen Nebelwolken umschleiert, aus denen sich ein sanfter Regen ergoss, welcher für alles Lebendige nach vorhergegangenen schwülen Tagen ein wahres Wonnegefühl erzeugte. Man sah fast alle Fenster der Häuserreihen geöffnet und die lustigen Gaze-Vorsetzer entfernt. Hin und wieder lehnten einzelne Personen weit aus den Fenstern hervor, um die kühle, feuchte Luft in vollen Zügen einzuatmen.

Die kleine Dame, es war Cäcilie, hatte mit vieler Sorgfalt ihr Kleid von schwarzem Krepp mit der linken Hand gefasst und hob es von Zeit zu Zeit mehr oder weniger, je nachdem die Gefahr, es durch die eingeregnete Straße zu beschmutzen, größer oder geringer war. Ihr kostbarer seidener Schal war auf dem Rücken einmal zusammengeschürzt, um ihn auf diese Weise mehr in der Gewalt zu haben, da sie mit der Rechten den Schirm halten musste.

»Aber John«, sagte die Dame im bescheidenen und wohlwollenden Ton zu dem Diener, »bitte – Sie sehen sich doch vor, dass mir das Papier nicht nass wird?«

»Seien Sie unbesorgt, Mylady«, entgegnete der Lakai. »Ich werde mir alle Mühe geben, das Papier nach Ihren Befehlen in Obacht zu nehmen, und er drängte die Papierrolle noch fester unter seinen Arm.«

»Aber Mylady«, fuhr der Diener nach einer kleinen Pause fort, »ich denke noch immer, dass es besser ist, wenn ich Mylady den Schirm überhalte.«

»Bitte, nein, John«, antwortete die kleine Gesellschaftsdame.

»Aber die Lady strengen sich auf unnütze Weise an, während es mir doch ein Leichtes ist, wenn Mylady nur die Rolle nehmen wollten.«

»Lassen Sie es gut sein, wir sind bald an Ort und Stelle!«, erwiderte die Dame in einem gütigen Ton. Man konnte ihr kurzes Atmen vernehmen, welches durch die außergewöhnliche Anstrengung verursacht wurde. »Besser wäre es allerdings gewesen, ich wäre gefahren; doch ich gehe nun einmal lieber, das ist meine alte Leidenschaft.«

Unter solchen Gesprächen, während der Lakai sich in die Distanz einer notwendigen Gehörsnähe befunden hatte, gingen sie bald darauf in eine andere Straße und hielten endlich vor einem ansehnlichen Haus an.

Das Haus war, wie fast alle Gebäude der Hauptstadt Mexikos wegen der häufigen Erdbeben, niedrig gebaut. Es bestand nur aus einem Parterre und einer oberen Etage, mit einem halbflachen Dach von schwarz glasierten Steinen. Die ansehnliche Front war mit Girlanden von Sommergrün und Schlingpflanzen, welche Letztere hier ungemein wuchern, behangen und zogen sich bis auf das Dach hinauf. Nur die leitende menschliche Hand hatte durch Stutzen und Schneiden derselben für die zwölf Fensterfächer Raum und Lichtfreiheit erhalten können. Hinter dem Haus war ein bedeutender Garten mit herrlichen Anlagen und einem Gewächsbetrieb mit exotischen und anderen seltenen Pflanzen, mit Alleen von China-Bäumen, Lauben und in der Mitte mit einem Wasserbassin voll der schönsten Gold- und anderer Zierfische.

Dieser Garten, der nicht eingefriedet war, stieß mit seiner äußeren Seite an eine kleine unbelebte Gasse, in die eine für die spätere Folge dieser Ereignisse sehr wichtige, unter Sommergrün gänzlich verborgene Ausgangspforte führte.

Vor dem genannten Haus befand sich ein kleiner Ziergarten mit Rahmen, auf denen scharlachrote Begonien und schöne Rosen prangten, in dem die Sternchen des arabischen Jasmin silberweiß flimmerten und sonstige Blumen der Gartenvegetation in allen Farben des Regenbogens anzutreffen waren.

Dieser kleine Garten, der sich vor der Front des Hauses ausbreitete, war unmittelbar an der Straße mit einem vier Fuß hohen Gitter von Gusseisen eingefriedet, welches durch eine Pforte unterbrochen wurde. Vor diese lenkten die kleine Gesellschafterin und deren Diener endlich ihre Schritte.

Die Kleine wurde sobald bemerkt, als eine tief in Trauer gekleidete Dame unter den sichtbarsten Zeichen der Freude aus dem Haus herbeistürzte, die Pforte aufriss und die kleine Gesellschaftsdame mit Inbrunst in ihre Arme schloss.

»Gute Cäcilie«, sagte sie, »wie freue ich mich über deinen Besuch, da wir uns seit ehegestern nicht gesehen haben.«

Mit diesen Worten wurde die Gesellschaftsdame der Prinzessin ins Haus geführt, welche nunmehr den sie begleitenden Diener, nachdem die fremde Dame demselben Pompadour und Papierrolle abgenommen, mit einigen gleichgültigen Aufträgen entließ.

Als sodann die kleine Cäcilie einem auf dem Flur ausgebreiteten Bambusgeflecht recht sorglich und gründlich ihre wasserdichten Schuhe aus geschmeidigem Büffelleder gereinigt hatte, wobei ein überaus zierlicher Fuß zutage kam, stiegen die beiden eine mit flammigem Wachstuch belegter Treppe hinauf und traten in das Wohnzimmer ein, welches ein dienstbares Quadron-Mädchen öffnete. Die Dame, welche Cäcilie so herzlich empfing, war niemand anderes als die Witwe des auf so schmähliche Weise umgekommenen Pflanzers Madachai auf Kuba. Sie hatte es für angemessener gefunden, denjenigen Ort, wo ihre ganze Seligkeit mit ihrem geliebten Ehemann ins Grab gesenkt war, wo sie jeder Baum, jeder Halm, jedes Zimmer und Möbel an ihn erinnerte und in ihr einen fast bis zum Wahnsinn sich steigernden Schmerz immer aufs Neue wieder hervorrief, zu verlassen. Aufgefordert durch Briefe von Cäcilie und besonders auch von der Prinzessin Judith sowie von anderen Freunden reiste sie nach Mexiko.

Sie hatte das bezeichnete Haus durch Vermittlung des Bankiers gemietet, in dem sie in diesem Augenblick mit dem eben genannten Mädchen und noch einer etwas älteren Mohrin, die ihr beide treu ergeben waren und die sie mit von der Insel gebracht hatte, seit vierzehn Tagen bescheiden und für ihren unnennbaren Kummer zurückgezogen in der tiefsten Trauer lebte.

Die kleine Verwachsene, begabt mit der reinsten Herzensgüte eines ausgezeichneten Gemüts, war schon früher eine aufrichtige und herzliche Freundin der schönen Mestize gewesen. Sie schlossen sich nunmehr umso enger aneinander, da die schrecklichsten Erfahrungen der letzten Zeit sie als Kummerverwandte immer mächtiger zueinander zogen. Es haben wohl nicht leicht die Herzen zweier Freundinnen aufrichtiger für einander geschlagen, als die dieser durch ihr Äußeres so sehr ungleichen Personen, die wir in dem kleinen Krüppel und der zedernschlanken, untadelhaft gewachsenen Witwe des Madachai finden.

Das Wohnzimmer der Witwe, in welches die beiden Freundinnen eintraten, war zum großen Garten gelegen. Sie hatte es ganz mit der traurigen Stimmung ihrer Seele und mit ihrem gebrochenen Herzen harmonierend eingerichtet. Gardinen von weißem Musselin mit schwarzen eingewirkten Blumen, ein kostbares Gewebe aus Paris, hingen vor den beiden Fenstern herab, ein schwarzer Teppich lag auf dem Fußboden. Die Stühle waren aus kostbarem Holz und ein minder, kunstvoll gearbeiteter Tisch aus Bambus stand vor dem Kanapee, welches mit schwarzem Damast überzogen war.

Die vier Wände, mit violetten und schwarz geblümten Tapeten bedeckt, zeigten sich kahl. Nur dem Kanapee gegenüber hing ein großes Ölgemälde, mit einem Schleier bedeckt. Es war das Bildnis ihres unvergesslichen Mannes.

An den beiden Seiten dieses Gemäldes waren prächtige Marmorkonsolen angebracht. Auf dem einen befand sich die Figur eines geflügeltes Engels, auf dem anderen der Wagen mit dem Elias, um sein Haupt die Myrte.

An mehreren Stellen standen kleine Tische mit Vasen, welche die Mädchen jeden Morgen mit frischen Blumen versahen.

Das hier anstoßende bescheidene Schlafzimmer der Witwe enthielt nur zwei Stühle, eine Toilette und zwei Betten nebst Moskito-Schleier von dunkelgrüner Gaze, welche dieselben ballonartig umgaben. In dem einen schlief die Mohrin als Gesellschafterin für die Nacht.

»Hier habe ich dir, liebe Julietta, »das versprochene Stickmuster, den Hirten mit den Lämmern, welches wir so hübsch finden, mitgebracht«, sagte Cäcilie und reichte der Witwe die Rolle, welche diese freudig mit einem danke dir entfaltete, während die Kleine ihren Schal ablegte, sich auf einen Stuhl niederließ und nach der gemachten Anstrengung schwer atmete.

»Allerliebst, gute Cäcilie«, sagte die Witwe, im Anschauen der Zeichnung versunken, »eine wahre Szene des Friedens und des Himmels.«

»Ich freue mich innigst«, fuhr die Kleine fort, »dass ich dich heute so munter finde.«

»Findest du das, Cäcilie?«

»Wirklich, dein Blick ist heiter, so fahre fort – man muss suchen in seinen Angelegenheiten, dem guten Gott zu Hilfe zu kommen, um alles Ungemach heldenmütig niederzukämpfen.«

»Gute Seele«, sagte die Witwe, »der Born deines Trostes ist unerschöpflich. Ich werde mich bestreben, meinen Kummer wenigstens zu mäßigen.«

Bei diesen Worten trat das Quadron-Mädchen ein und meldete eine arme Negerin, welche Miss Cäcilie, aber ganz allein, zu sprechen wünschte.

Da die kleine Gesellschaftsdame vielfach von den Armen der Hauptstadt in Anspruch genommen wurde, so sagte sie:  »Lassen Sie die Frau nur hereinkommen. Du erlaubst es wohl, Julietta?«

»Von Herzen gern, Cäcilie! Du kannst diese Räume ganz wie die deinen betrachten.«

Eine Negerin, etwa vierzig Jahre alt, trat mit unsicheren Schritten ein. Sie ging barfuß, ein alter Rock umgab ihren schlecht genährten und von schweren Arbeiten gebeugten Körper.

Ein Turban von ursprünglich gelben, nunmehr aber verblichenen Stoffen, saß auf ihrem Kopf, unter dem die schwarze Wolle hervorstrebte. Ihre Füße waren breit und ihre großen Hände rau und schwielig.

»Ach«, sagte die fremde Negerin, »Miss Cäcilie Naselli, wenn ich Sie nur allein sprechen dürfte«, indem sie einen Blick auf die Witwe warf.

»Fassen Sie nur Mut, gute Frau, ich habe vor dieser Dame keine Geheimnisse«, entgegnete Cäcilia

»Und doch«, meinte diese, »vielleicht …«

»Aber woher wissen Sie den Namen meines Vaters, den ich nie nennen hörte.«

»Das ist es eben, Mistress, was ich mit Ihnen besprechen wollte!«

»Kannten Sie meinen Vater?«

»Den Guten, ich drückte ihm mit meinen Händen die Augen zu.«

»Gütiger Himmel! Sie waren zugegen, als mein Vater starb?«

»Ich war ganz allein in seiner Nähe. Rührend war es, und keine Seele kümmerte sich um ihn, der Bankier auch nicht.«

So gestählt auch die auf Gott verkennende Seele Cäciliens war, so hatte diese Nachricht dennoch einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht, dass sie sich einige Augenblicke erholen musste, während die Witwe mitleidig und traurig die Hand der halb Ohnmächtigen in die ihre nahm.

Nach einer kleinen Pause der Erholung fuhr sie zu fragen fort: »Wie sah mein armer Vater aus? Wie starb er? Wann verschied er? Ach«, schluchzte sie weiter, »ich habe nie etwas über ihn gehört, weiß nicht, ob er gut oder schlecht war. Oft habe ich an seiner Rechtschaffenheit gezweifelt, da er mich ohne alle Verfügung zwischen sich und mir zurückgelassen hatte. Selbst seine Grabstätte ist ungewiss, bald zeigt mir mein Pflegevater auf dem Friedhof diesen, bald jenen Hügel. So oft ich den Bankier bat, ein Monument darauf zu setzen, war seine Antwort: Der Sterbende verbot es mir, dieses Verbot waren seine letzten Worte.«

»Gute Seele, fasse dich«, nahm nun die Witwe das Wort, »verwirre die arme Frau nicht, vielleicht wird sie dir sagen, was du zu hören wünschst. Ich werde jetzt fortgehen, um meiner kleinen Wirtschaft nachzuschauen.« Sie schickte sich an, die Freundin und die Negerin allein zu lassen.

Allein die kleine Bucklige überholte sie, bat sie, zu bleiben und fragte dann die Negerin:

»Welcher Umstand führte Sie zu meinem Vater? Erzählen Sie alles, was Sie von ihm wissen.«

»Ich war damals, wie noch diese Stunde, darauf angewiesen, jeden Zufall zu benutzen, um meinen Unterhalt zu verdienen«, antwortete die Negerin. »So gelangte ich als Krankenwärterin drei Tage vor dem Tod zu diesem Kranken. Ein Arzt besuchte ihn täglich ein bis zwei Mal, und dieser war es auch, der mich schon bei anderen hohen Kranken als erprobt gefunden und mich auch hier empfohlen hatte. Außer diesem besuchte ihn sein Nachbar, der Bankier Abraham Levi, wie er sagte, aus reinem menschenfreundlichen Antrieb, sich um diesen so verlassenen wie fremden Mann zu bekümmern und ihm Hilfe zu bringen. Täglich ein paar Mal wurden Suppen aus des Bankiers Küche gebracht, die der Nachbar jedes Mal seinem Mädchen vor der Tür des Krankenzimmers abnahm, und mit eigenen Händen dem Kranken übergab.

So viel Sorgfalt zeigte er anfangs um ihren Vater. Er pflegte zu sagen, jede neue Störung bringt ihn um einige Stunden dem Grab näher.

Oft sprach Ihr Vater im Geheimen mit dem Bankier, was Letzterer aber jedes Mal abbrach, sobald ich eintrat. Tags darauf, nachdem ich seine Pflege übernommen hatte, trug er ein Verlangen nach seinem Töchterchen. Er schickte mich mit dem Auftrag zu dem Bankier, das Kind zu holen. Eine Magd, die es wartete, gab es mir ohne Weiteres. Ich legte dieses Kind, ein allerliebstes wohlgewachsenes Wesen, zart und vorsichtig in meine Arme und reichte es dem Vater, der dasselbe mit unendlicher Wonne herzte und Tränen der Freude weinte. Dies schöne Kindlein waren Sie, Miss Cäcilie.«

Die kleine Mulattin war so gerührt, dass sie laut schluchzte.

Der Witwe flossen ebenfalls die Tränen über die Wangen. Nach einer Pause sagte Cäcilie: »Von dem allen hat mir mein Pflegevater nie eine Silbe gesagt. Wo wohnte mein Vater?«

»In dem eleganten Haus an der Plaza major, in dem der berühmte Fayance-Laden ist, dort wohnte er zur Miete.«

»Wo kam er her?«, fragte die Witwe.

»Der Herr war, wenn ich nicht irre, kurz zuvor, jedoch schon krank von auswärts gekommen.«

»Nur weiter, weiter«, sagte die Verwachsene, »was geschah denn nun mit mir?«

Die Negerin fuhr fort, nachdem sie sich mit dem Rücken der Hand die Augen getrocknet hatte:  »Der Vater übergab mir, nachdem er sich satt geherzt hatte, den kleinen Engel, welchen ich hüpfen, springen und in den Spiegel gucken ließ, dass es eine Freude war. Bald darauf erschien der Bankier, sichtlich missgestimmt, redete einige Worte in einem fremdländischen Dialekt, den ich nicht verstand, und trug das liebliche Kind wieder fort. Sie mochten damals etwa ein Jahr alt sein.«

Der Schmerz, den die Erzählung der Frau hervorrief, schien die kleine Bucklige zu Boden zu drücken, die Witwe nahm sie traurig in ihre Arme.

Die fremde Negerin fuhr fort:  »Ungefähr vier Stunden, bevor Ihr Vater starb, befand sich der Bankier wieder bei ihm und schickte mich mit einem gleichgültigen Auftrag fort. Den Kranken, der aus der Hand des hilfreichen Abraham die Medizin nahm, hörte ich noch kurz vor meinem Fortgehen mit schwachen bebender Stimme sagen: ›Ich begreife nicht, es wird mit jedem Mal, wenn ich die Arznei nehme, schlimmer mit mir.

›Das däucht Ihnen wohl nur‹, bemerkte der Nachbar. ›Der Arzt, der Sie behandelt, ist als einer der geschicktesten Männer der Hauptstadt bekannt. Er ist auch mein Hausarzt, dem ich das volle Zutrauen zu schenken alle Ursache habe.‹

›Aber die Arznei stößt mir das Herz ab.‹ Er schauderte, als er einen Löffel voll nahm, welchen ihm der Bankier reichte. Beim Fortgehen winkte er mir mit einer leisen Handbewegung. Ich lief hinzu, neigte das Ohr zu ihm hin und er sagte: ›Gute Frau, ich fühle mein Ende nahe, bleiben Sie nicht zu lange fort. Ach, die Medizin‹, seufzte er dann, ›es ist mir, als wenn ich Gift genommen hätte.

Der dienstfertige Nachbar flüsterte mir heimlich zu: ›Sie sehen, gute Frau, er redet schon irre. Er hat einen Widerwillen gegen die Arznei, die ihn allein nur vom Tod retten kann.‹

Ich schwieg, weil ich hierauf nichts zu antworten wusste, und ging, meinen Auftrag auszuführen.«

»Wie hieß der Arzt?«, fragte die Witwe.

»Er hieß Simon, ich kenne ihn sogar ziemlich genau.«

»Weiter, weiter«, bat die kleine Mulattin.

»Etwas, ich wusste nicht was, trieb mich an, den Auftrag, den der Zufall überdies noch begünstigte, schneller, wie zu erwarten war, auszuführen. Ich fühlte ein tiefes Mitleid für den verlassenen Kranken. Um seinetwillen ängstigte ich mich vor dem Bankier. Ich trat in die Stube ein. Der Bankier schreckte zusammen, er schien mich noch nicht erwartet zu haben. Wie ein Unheil verkündendes Gewitter hingen die schwarzen Brauen über seinen Augen. Sein wütender Blick schien mich durchbohren zu wollen. Ich bebte zusammen. So hatte ich Abraham Levi bis jetzt nicht gesehen, aber schon im nächsten Augenblick nahm er eine andere Miene an. Er wurde freundlich wie noch nie. Hinter seiner Freundlichkeit aber schien er irgendein verschmitztes Vorhaben zu verbergen. Er hatte einen Sack mit Geld auf dem Stuhl stehen, in den er die goldenen Onza de Ovo hineintat, die er händeweise aus einem offenen Kasten entnahm. Er band sodann den Geldsack zu, nahm gleichzeitig ein Kästchen und trug beide mit Anstrengung fort. Der Kranke, welcher sichtbar schwächer wurde, hob beim Fortgehen die Hand gegen den Nachbarn auf. Dieser erwiderte: ›Ich werde die Verschreibung in aller Form rechtens abfassen lassen und von mir vollzogen sofort wiederbringen.‹ Der Kranke verfiel hierauf in ein dumpfes stilles Hinbrüten. Seine Lippen bewegten sich endlich, ich neigte mein Ohr zu ihm, aber ich verstand ihn nicht – dann versank er wieder in einen träumenden Zustand, in dem er lange verharrte. Endlich wie mit einer seltenen Kraft begabt, setzte er sich plötzlich in seinem Lager aufrecht, fuhr sich mit der Hand über das mit Todesschweiß bedeckte Gesicht. Seine Augen strahlten in einem überirdischen Glanz. Nachdem er sich langsam und bedächtig nach allen Seiten umgesehen hatte, winkte er mich herbei und sagte mit ziemlich kraftvoller Stimme: ›Ist der Nachbar noch nicht da?‹

Ich antwortete: ›Nein.‹

›Das wundert mich. Der Bankier ist ein grundehrlicher Mann, nicht wahr?‹, fuhr er fort.

›Ich kenne ihn nicht, Herr!‹, war meine Antwort.

›Ja, er ist es‹, setzte er nach einigem Nachdenken hinzu. ›Der Arzt riet mir ja, wenn ich in meinen Nachlassangelegenheiten etwas zu verfügen hätte, mich dem Bankier anzuvertrauen. Er meinte auch, es gäbe in ganz Mexiko keinen braveren und ehrlicheren Mann; aber er ist wirklich mit den Zeugen noch nicht da?‹

›Ungefähr seit vier Stunden‹, antwortete ich.

›O, laufen Sie – rufen Sie ihn doch – ich fühle es, der Tod kommt wie ein Dieb in der Nacht‹, flüsterte er mit einer geheimnisvollen geisterartigen Stimme.

Ich eilte beklommen in die Behausung des Bankiers. Es hieß, er wäre nicht daheim. Ein Dienstbote winkte mir jedoch verstohlen und flüsterte, dort in jenes Kabinett schlüpfte er bei ihrer Ankunft. Ich eilte, um dem armen Kranken Bericht abzustatten.

Eine schwere Sorge umschattete sein Antlitz, er wandte sich mit den Worten zu mir:      ›Sind Sie eine Christin?‹

Ich bejahte es.

›Nun, dann sind Sie treu? Haben Sie Mitleid mit den Leiden eines anderen?‹

›O, mit jedem Wurm, mit jedem Menschen!‹, antwortete ich.

›Gut‹, sagte er, ›geben Sie mir jenes Papier; aber schnell, es hat Eile, auch Tinte und Feder und das Buch dort zur Unterlage.‹

Er bezeichnete mir alles mit rühriger Hast, wo es zu finden war. Auf dies Papier schrieb er ein paar Reihen mit zitternder Hand. Dann fragte er: ›Können Sie Geschriebenes lesen?«

›Nein!«, antwortete ich.

›Desto besser. Sie haben ein offenes, frommes Gesicht. Dieses Papier gebe ich in Ihre Obhut. Sie kennen mein engelreines Mädchen, meine Cäcilie?‹

›Ja, Herr!‹, sagte ich unter Tränen.

›Dieses Papier bewahren Sie dem Kind so lange auf, bis es achtzehn Jahre alt ist, dann geben Sie meiner Tochter Cäcilie von Naselli dieses Erbe ihres Vaters.‹« Sie überreichte der kleinen Mulattin ein in Fetzen geteiltes Schreiben, welches sie tief aus ihrem Busen hervorholte.

Die kleine Bucklige ergriff mit einem Schrei der Überraschung das Papier, küsste es und die Negerin fuhr fort:  »Sein Auge starrte mich stier und halb gebrochen an. ›Geben Sie mir die Hand‹, stammelte er leise, jedoch vernehmbar. Ich gab sie ihm und gelobte im Innersten meiner Seele, seinen Auftrag pünktlich auszuführen. O, der Befehl eines Sterbenden hat so etwas Schauerliches an sich. Er drang mir tief ins Herz. Die Hand, welche er mir reichte, war kalt und mit Schweiß bedeckt, sie zitterte. Er warf sich aufs Kissen zurück und seine Seele entfloh zu Gott dem Allmächtigen. Ich hatte Mut genug, ihm die Augen zu schließen, dann sank ich auf meine Knie und betete ein Vaterunser.«

Die kleine Waise weinte heftig, eine feierliche Pause trat ein und jede dieser drei Frauen segnete im stillen Andenken das Hinscheiden des Marqui von Naselli.

»Was wurde nun weiter?«, unterbrach die Witwe endlich die Stille.

»Den Bankier hatte ich nicht sobald von dem erfolgten Verschieden des Kranken in Kenntnis gesetzt, als er den Nachlass ihres Vaters, welcher in einem Reisekoffer Kleidungsstücken und dem vorhin genannten, mit schwerem Eisen beschlagenen Kasten bestand, aus dem Abraham Levi zuvor die Goldstücke genommen hatte, in Beschlag nahm. Mit meiner Beihilfe setzten wir diese Gegenstände auf den Flur hinaus, von wo er sie in seine Wohnung schaffen ließ.

Ich fragte unwillkürlich, wer nun die Beerdigungsangelegenheiten besorgt.

›Die besorge ich‹, war seine Antwort, ›wahre Freunde und Landsleute verlassen sich nie!‹

›Und was wird mit dem kleinen engelgleichen Kind?‹

›Das kleine verwaiste Kind werde ich auch nicht verstoßen‹, antwortete er mir, sichtlich missvergnügt über meine Frage.

Dann rechnete er mit mir wegen meiner Dienstleistungen ab, bezahlte mich, schenkte mir auch noch einen Goldpiaster und entließ mich. Nachdem der Bankier die Medizinflasche und den Löffel in die Tasche geschoben hatte, verließen wir gleichzeitig den Toten und er verschloss das Zimmer.

Ich eilte in meine Kammer und verwahrte Ihr Erbe wohl in meiner alten Truhe, bis auf den heutigen Tag, wo ich Ihnen das Papier, ohne dass es außer mir je ein Mensch in Händen gehabt, nach Wunsch des Sterbenden einhändige.«

»Gutes Herz«, rief die Trauernde unter fortwährendem Schluchzen und trat hinzu, um ihr die Hand dankbar zu drücken.

»Für eine Belohnung dieser armen braven Frau wollen wir gemeinschaftlich sorgen«, sagte die Witwe.

»Das wollen wir«, rief die Gesellschaftsdame leuchtenden Auges, »aber noch eins: wissen Sie nichts Näheres über meine früheste Kindheit?«

»Wenig, Missis«, antwortete die Negerin. »Nur das ist mir bekannt, dass der Bankier Sie einer Indianerin zur Aufsicht übergab, mit der ich auf ihren Spaziergängen mit Ihnen Bekanntschaft zu machen suchte, um Sie zuweilen zu sehen, je nachdem es meine viel in Anspruch genommene Zeit erlaubte. Sie entwickelten sich zusehends zu dem reizendsten anmutigsten Formen, die je ein liebenswürdiges Kind besitzen konnte.

Ich habe nie ein solches Entzücken gefühlt, obwohl ich kleinen Kindern sehr gut bin, als ob ich Sie auf meinen Armen springen und hüpfen ließ.

Drei Wochen nach dem Versterben Ihres Vaters, begegnete ich der Indianerin, aber ohne Sie.

›Was macht die Kleine, ist sie krank?‹, fragte ich.

›Gott, Gott!‹, rief sie im schmerzlichen Ausdruck. ›Das kleine Kind ist seit drei Tagen fort, man hat es mir gestohlen!‹

›Was? Wer?‹, schrie ich.

›Denken Sie sich, ein zerlumptes Bettelweib schließt sich mir auf der China-Allee an. Sie litt an einer schlimmen Gesichtsrose, wie sie mir klagte, und trug deshalb einen Lappen von Tuch über dem ganzen Gesicht. Das Weib stammelte ekelhaft und widerlich. Ich schenkte ihr aus Mitleid einige Münzen. Endlich erzählte die Wärterin mir weiter, wie wir, nämlich verstehen Sie recht, Missis, Ihre Wärterin und das Bettelweib, vor einem bestimmten Haus vorbeigehen, bleibt das Weib stehen und sagt, sie habe da oben im Haus ein Zettelchen abzugeben. ›Ach! Ich bin so hinfällig und matt, liebes Kind‹, sagte sie mit bittendem Ton und Gebärde zu mir. ›Sie sind jung und rasch möchten Sie mir wohl das da oben hinauftragen und an die Familie nur einfach abgeben.‹ Mit diesen Worten holte sie aus ihren Lumpen ein zierliches Billett hervor. ›Ich werde unterdessen das kleine Kindchen hier so lange halten.‹ ›Guter Gott!‹, rief ich im Schmerz.«

»Sie gaben dem Weib doch nicht das Kind?«

»Da ich so gutmütig bin, willigte ich ein. Begreifen Sie meine Unbesonnenheit, ich gab ihr das Kind.«

»Gütiger Gott! Und haben es noch nicht wieder.«

»Unter zitternder Angst springe ich ins Haus, niemand nimmt mir das Billet ab, weil keine Adresse darauf war. Wie ich wieder auf die Straße stürze, ist das Weib mit dem Kind fort.«

»Und das am helllichten Tag!«, rief ich.

»Am lichten Tag. Ich zerraufte mir die Haare, alles Nachforschen war vergebens, das kleine Kind war verschwunden. Der Bankier entließ mich aus seinem Dienst.«

»Von hier ab, gute Frau, bin ich vollständig unterrichtet«, unterbrach sie die kleine Bucklige traurig, »die Untersuchungsakten der Justiz geben vollständig Nachricht von dieser bösen Tat der Bettelfrau. Sie floh mit mir in den Stall eines Abdeckers, wo ihre Wohnung war, kleidete mich aus und zog mir ganz zerrissene Kleider an. Die guten Kleider verkaufte die Frau und vertrank das Geld dafür in Branntwein, dem sie leidenschaftlich ergeben war. Hierauf hat sie mir durch Auflegen von Pflastern böse Wunden auf dem Körper erzeugt, die sie nie zuheilen ließ, zerbrach mir das Rückgrat, sodass ich ein vollständiger Krüppel wurde, setzte mir vier giftige Spinnen auf die Augen, sodass ich fast erblindete und ließ mich in Unrat und Kot untergehen. Dann stellte sie sich mit mir an recht belebten Plätzen auf, um mit mir zu betteln. Während sie mich küsste, stach mich die Frau mit Nadeln oder kniff mich unbemerkt mit den Nägeln, damit ich schreien musste. Meine Wunden, Fehler und Gebrechen, die sie zeigte, waren das Aushängeschild, wodurch sie das Mitleid und das Erbarmen der Vorübergehenden zu einer Gabe anlockte. Alle diese Tatsachen sind im Publikum zu sehr bekannt.«

»Leider ja, Missis!«, sagte die Mohrin, »auch meinen unermüdlichen Nachforschungen gelang es nicht, Sie wieder aufzufinden.«

»Nun wollen wir hiervon abbrechen, liebe Cäcilie, weil für jetzt der Aufregung genug ist und du sehr der Erholung bedarfst«, sagte die Witwe.

Die kleine Mulattin willigte ein. Dieselbe wurde den Dienerinnen der Witwe zugeschickt, die ihr Speisen und Trank vorsetzen mussten. Nachdem sie die arme Frau reichlich beschenkt und auch für ihre Zukunft zu sorgen versprochen hatten, wurde sie entlassen.

Da die Freundinnen sich nunmehr wieder überlassen waren, machten sie sich über das Handschreiben des Verstorbenen her, welches in Quartformat geheftet war und die Überschrift führte: Kurze Zusammenstellung meines vielbewegten Lebens, meiner Tochter  Cäcilie gewidmet.

Die letzten Worte, deren die Negerin erwähnte, und welche am Schluss des Handschreibens sich durch die Farbe der Tinte und dadurch von dem Übrigen unterschieden, dass sie mit ungewisser, zitternder Hand geschrieben waren, lauteten:

Am heutigen Tage, den 24. Juni 18.. übergab ich meinem Nachbar, dem Bankier Abraham Levi, mein Vermögen im ungefähren Wert von einer Million und Neunhunderttausend Goldpiaster, teils in Banknoten, teils in Gold, um dieses für meine Tochter Cäcilie, gegenwärtig ein Kind von einem Dreivierteljahr zu verwalten. Er versprach, Zeugen zu bringen und in deren Gegenwart die Übernahme dieser Menge zu bescheinigen, worauf ich seit drei Stunden vergebens warte.

Mexiko, der Marqui von Naselli