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Allerhand Geister – Peter und Paul – Teil 4

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Peter und Paul
Eine Erinnerung

Teil 4

Je rascher ich vorwärts ging, desto sicherer schien der Erfolg zu sein, desto eher ließen sich die Folgen abwenden, die mir immer bedenklicher entgegentraten. Als ich über den Hof zurückging, sah ich den alten Diener wirklich noch auf dem Flur beschäftigt und konnte also ziemlich bestimmt darauf rechnen, dass Peter die Strapazen ausschlafe und mich nicht stören werde. Ich schritt daher schnell weiter. Da sich in dem Bau gegen den Hof zu keine Tür fand, so bog ich um die Ecke und trat durch eine kleine Pforte in den anstoßenden Garten hinein. Allein auch hier, auf der Giebelseite, war kein Eingang. So spazierte ich von Neuem weiter, der nächsten Ecke zu.

Gerade, als ich diese erreicht hatte, sah ich etwas vor mir, das mich den Fuß anhalten und schleunig zurückweichen ließ. Hinter einem kleinen Rasenplatz und ein paar Blumenrabatten zeigten sich Gruppen von allerhand Ziersträuchern, und halb maskiert von einer solchen hielt, vielleicht vierzig bis fünfzig Schritte entfernt, ein Herr zu Pferde und unterhielt sich lebhaft mit jemand, von dem ich jedoch nichts als einen Teil der Kleidung erblicken konnte – einen hellen, bunt gemusterten Frauenrock. Dafür sah ich deutlich, dass der Herr lachte. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, ohne dass ich indessen wusste, wo ich ihm einmal begegnet sein könnte. Wenn ich nicht gesehen sein wollte, hatte ich keinen Augenblick zu früh Halt gemacht, denn schon als ich dies alles nur soeben übersehen hatte, winkte der Reiter mit der Hand und wandte das Pferd, das helle Kleid kam hinter dem Busch hervor und seine Trägerin, ein anscheinend nicht mehr junges Mädchen, eilte zum Haus zurück und verschwand hinter der vorspringenden Ecke. Vom Reiter sah ich, als ich wieder hinblickte, gleichfalls nichts mehr. Das Gebüsch wurde weiterhin immer dichter.

Indessen hörte ich hinter mir meinen Namen rufen. Der kleine Diener kam atemlos heran und meldete, dass der Herr Baron sich erschreckenderweise ohne jede fremde Hilfe erhoben habe, schon in den Kleidern sei und vor Ungeduld über meine Abwesenheit fluche. »Denken der Herr Paul nur«, fügte der Alte kopfschüttelnd hinzu, »der gnädige Herr hat ganz leidmütig gefragt, ob Sie am Ende auch auf und davon seien wie die gnädige Frau. O, lieber Herr, wenn das nicht bald wieder anders wird — der Herr hält es nicht aus. Er wird, weiß es Gott, schon ganz mager!«

Ich traf meinen alten Peter tatsächlich in einem bedenklichen Zustand. »Was läufst du nun schon bei nachtschlafender Zeit fort und erschreckst mich so grausam?«, rief er mir entgegen. »Ich habe es nun einmal mit der Angst, dass ihr endlich alle davon geht und ich ganz allein dasitze.«

»Na, du wärest auch allein noch immer eine ganz anständige Hausgenossenschaft«, schob ich scherzend ein.

»Paul«, sagte er ganz ernsthaft, »lass solche Witze unterwegs, dein gestriger geht mir ohnehin noch immer im Kopf herum und ist mir schier graulich. Aber wir wollen nicht davon reden. Hast du revidiert?« Indem die kleinen Augen sich auf mich mit einem Ausdruck richteten, den ich nur als einen zugleich ängstlichen und erwartungsvollen bezeichnen kann, fragte er: »Paul, sage mir die Wahrheit! Ist meine Frau immer noch nicht da? Sieh, ich habe heute Nacht davon geträumt, das ist mir noch im Leben nicht passiert. Sie saß majestätisch in der Sofaecke und streckte mir die Hand entgegen. Und ich freute mich wie ein Kind, dass ich sie wiedersah. Also, ist sie nicht da?«

»Peter«, versetzte ich mit einem Versuch, ihn zu beschwichtigen, denn er erschien mir wirklich aufgeregt, »über Nacht kann sie doch nicht gekommen sein. Aber habe nur Geduld. Es muss sich endlich doch aufklären. Nach dem Frühstück wollen wir zusammen hinübergehen und die Jungfer vornehmen.«

»Das kannst du tun«, meinte er grämlich, »ich aber mag mit der maliziösen Hexe nichts zu tun haben. Und mitgehen tue ich auch nicht«, fügte er hinzu. Es war fast, als wolle er sich schütteln, was allerdings bei seiner Gestaltung nicht leicht sein mochte. »Die paar Male, wo ich jetzt drüben gewesen bin, um sie zu suchen, ist es mir ganz miserabel geworden, so ausgestorben schien mir alles zu sein, als müsse ein Toter darin liegen. Schauderhaft!«

Es wurde mir warm ums Herz. Der arme, alte Bursche fing an, mich immer ernstlicher zu dauern. Zu gleicher Zeit begann sich in mir die Besorgnis zu regen, dass die rätselhafte Geschichte auch für ihn selber die gefährlichsten Folgen haben könne. In meinem Leben hätte ich nicht so viel Empfindungsvermögen in Peter gesucht und ihn nie für so erregbar gehalten, wie ich es nun wohl erkennen musste. Wenn das eine oder andere allzu scharf angespannt wurde, musste fast unausbleiblich eine schlimme Katastrophe eintreten! Und wenn ich an den Spaß dachte und glaubte, den man sich mit dem armen Burschen gemacht haben sollte, so fühlte ich allmählich eine steigende Erbitterung über die Unverständigkeit und Rücksichtslosigkeit, die sich darin verriet. Selbst die Frau begann, trotz alles Lobes, das ihr gespendet worden war, und wie sehr sie auch von Peter vernachlässigt sein mochte, mir verdächtig zu werden.

Eine offene, wirkliche Trennung mochte, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, völlig gerechtfertigt, vielleicht unvermeidlich geworden sein. Die Heimlichkeit aber oder vielmehr das Versteckspielen, die man hier vor sich sah und notwendig nur mit einem Spaß in Verbindung denken konnte, gleichviel, ob das Ende auch wieder nur ein spaßhaftes oder ein ernstes sein sollte – das verriet gerade einem Menschen wie Peter gegenüber entweder eine Missachtung oder eine Herzlosigkeit, die er nicht verdiente und die ich für ihn nicht dulden konnte. Die Schwäche der Dame, auf welche der Inspektor hingedeutet hatte, und dass sie sich möglicherweise gegen ihren besseren Willen von anderen als eine Art von Werkzeug habe gebrauchen lassen, entschuldigte in meinem Sinne nichts. Es gibt Fälle, wo auch der Schwächste nicht schwach bleiben darf und auch, wenn nicht an seiner Einsicht und seinem Verstand, doch an der Sittlichkeit und Ehre die kräftigsten Bundesgenossen findet.

In solchen Gedanken und Empfindungen ging ich endlich nach dem Frühstück wirklich in den anderen Flügel hinüber, nicht durch eine Hinterpforte, sondern sozusagen auf dem großen Weg, wie es einem offiziellen Botschafter oder wohlbestallten Untersuchungsrichter – ich war ja beides – geziemte. Ich rechnete darauf, dass ich, wie in Peters Flügel und bei seiner Umgebung, auch hier keine unbekannte Größe sein und keiner besonderen Legitimation für mein Eingreifen bedürfen werde.

Wenn auch nur beiläufig, muss ich es doch anführen, dass auch dieser Zug mich dem dicken Freund aufs Neue verband. Ich musste für ihn und in seinen Augen so etwas wie ein Ideal sein, von dem er all die Jahre unermüdlich erzählt und das er, wer weiß wie hoch, gepriesen hatte. Der Inspektor, der Förster, der alte Diener, alle hatten mich wie einen längst Bekannten und ebenso lange Erwarteten aufgenommen und, wie man ja von dem Ersteren wirklich vernahm, mir das schrankenloseste Vertrauen erwiesen.

Ich sollte jedoch die Erfahrung machen, dass der Hausstand Peters wirklich ein getrennter und ich drüben, im schönen Süd, eine ziemlich oder völlig unbekannte und einflusslose Größe geblieben war. Jungfer Christine, in der ich sogleich die am Morgen Belauschte erkannte, empfing mich wenigstens mit sehr befremdetem Blick und in einer nichts weniger als nachgiebigen Haltung. Sowohl aus dem einen als auch aus der anderen klang es mich vernehmlich an: »Wer sind Sie und wie kommen Sie mir vor, dass Sie sich hier eindrängen, auf meinem Terrain, und mich zitieren lassen, als ob Sie mein Herr seien?«

Als ich dies alles einstweilen ignorierte und ihr kaltblütig und ohne Umschweife von dem Zweck meines Besuchs und meinem Verlangen sagte, guckte sie mich – ich musste an die maliziöse Hexe Peters denken – von unten bis oben an, machte einen außerordentlich tiefen Knicks und meinte spöttisch, ihre Gnädige werde eben ihre Gründe zur Entfernung und zu der geheimnisvollen Ausführung derselben gehabt haben, ohne dass ihr, der Jungfer, davon etwas mitgeteilt worden sei. Zu reden habe sie davon überhaupt nicht, selbst im Falle sie die Intentionen ihrer Gebieterin gekannt hätte, und am wenigsten gegen einen Fremden.

»So«, sagte ich, »also so genau kennen Sie Ihre Pflicht und haben, wie es scheint, Anhänglichkeit für Ihre Herrin und wagen es dennoch, sie in schlechten Ruf zu bringen?«

Sie warf den Kopf auf und starrte mich an. »Wer das wohl sagen könnte!«, rief sie mit wegwerfendem Lachen.

»Ich, Jungfer«, sprach ich, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ihre alberne Bemerkung gegen Ihren Herrn über einen Herrn von Wittenau ist ein solches Wagnis. Wer davon hört, ohne, wie ich, die Frau Baronin und die hiesigen Verhältnisse zu kennen, kann daraus böse und ehrenrührige Folgerungen ziehen. Mir ist es im ersten Augenblick so ergangen.«

»Es war ja nur ein Spaß«, fiel sie halb entschuldigend ein, »und auch, weil der Herr mich wegen seiner Unruhe anfing zu jammern.«

»Ja«, gab ich ihr zur Antwort, »wie ein dummer und ungezogener Spaß oder vielmehr wie eine noch viel ungezogene Neckerei und Verhöhnung Ihres viel zu nachsichtigen Herrn erscheint die Sache auch mir, die nicht nur mit den Gefühlen, sondern auch mit der Ehre Ihres Herrn zu spielen wagen. Nur verstehe ich nicht recht, wie die Frau Baronin, die mir als eine achtungswerte Dame geschildert wurde, sich zu solchem unwürdigen Spiele verstanden …«

»Da müssen der Herr schon die gnädige Frau selber fragen«, unterbrach sie mich wieder schnippisch.

»Oder den Herrn von Wittenau oder Sie, Jungfer – seien Sie still, ich verbitte mir Ihre Einreden!«, warf ich ihr, gereizt von ihrer Weise, hart entgegen. »Sie scheinen den Spaß noch fortsetzen zu wollen. Es war doch Herr von Wittenau selber, mit dem Sie heute Morgen im Garten lachend verhandelten?« Ich hatte den Namen nur aufs Geratewohl hingesagt – die Begegnung mit einem Fremden war die Hauptsache! Allein ich hatte das Richtige getroffen und konnte mit dem Eindruck auf Christine zufrieden sein. Sie wurde dunkelrot und haschte nach Luft, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

Da sagte ich hart wie vorhin: »Geben Sie wohl Acht, Jungfer. Wenn die Sache nicht bis heute Abend völlig aufgeklärt und in Ordnung ist, so werden Sie und wer sonst dabei beteiligt ist, erfahren, dass der Baron seine Rechte zu wahren versteht. Wer einen Spaß und obendrein einen dummen riskiert, muss sich dann auch nicht über unangenehme Folgen beklagen.«

»Herr … Herr …«, stammelte sie, wieder nach Luft haschend, »wie konnten wir fürchten, dass …«

»Ich will von Ihnen nichts mehr hören!«, unterbrach ich sie, mich abwendend. »Sie kennen meinen Willen.«

»Herr, Herr«, rief sie und war neben mir und legte ihre Hand an meinen Arm, als ob sie mich halten wollte. »Herr von Wittenau will, glaube ich, die gnädige Frau noch heute heimlich wieder … die gnädige Frau wolle nicht länger warten …«

»Das geht mich nichts an«, fiel ich von Neuem ein und machte mich von ihr los. »Also denken Sie daran, bis heute Abend!« Und damit ging ich aus der Tür und verließ den Flügel.

Ich fing an, einigermaßen klar zu sehen: Dass Peters Wesen und Weise einen anderen Bekannten oder Vertrauten zu einem Spaß reizen konnte, wusste ich von mir selber gut genug. Dass Wittenaus, die mit der Baronin ja in naher Verbindung zu stehen schienen, durch einen solchen Spaß Peter zugleich das kuriose Verhältnis zu seiner Frau zum Bewusstsein zu bringen versuchen und dadurch vielleicht eine heilsame Wirkung hervorrufen wollten; dass sie die, nach allem, was ich vernommen hatte, ziemlich unselbstständige Frau, am Ende ohne viel Mühe und Gott weiß unter welchen Vorspiegelungen zum Nachgeben und Eingehen auf ihren Einfall vermocht hatten. Das alles ließ sich am Ende denken, erklären, ja gewissermaßen entschuldigen; man war damals eben leichtlebiger als heutzutage. Allein ihr Fehler war, dass sie die Wirkung unterschätzt und die Sache zu weit ausgesponnen hatten. Dafür verdienten sie denn schon eine ernstliche Lektion, wenn auch keine so erschütternde, sage ich, wie Jungfer Christine sie eben von mir erhalten hatte.

Als ich von dieser Expedition in unseren Flügel zurückkehrte, fand ich zu meiner Überraschung Peter nicht mehr auf seinem früheren Platz, ja nicht einmal im Zimmer. Das war mir bei seiner durch und durch konservativen oder, wie ich richtiger sagen sollte, platzfesten Persönlichkeit außer allem Spaß, denn es konnte nur etwas ganz Besonderes gewesen sein, das ihn aufgescheucht hatte. Als ich fortgegangen war, hatte e rauf meine Frage, wo ich ihn wiederfinden werde, melancholisch erklärt, dass er weder Lust noch Veranlassung habe, seinen Platz zu wechseln. Und obendrein konnte ich bei seiner augenblicklichen geistigen und gemütlichen Verfassung nichts weniger als sicher sein, dass er, einmal in Gang gekommen, nicht irgendetwas Absonderliches zutage fördern dürfte.

Indessen klang aus einem Nebenraum ein Geräusch an mein Ohr, als ob man Teppiche oder Polster ausklopfe. Als ich die nächste Tür öffnete, hatte ich einen seltsamen Anblick vor mir: Es war augenscheinlich Peters Schlafzimmer und er selbst stand, ohne Rock und von Schweiß übergossen, vor seinem zerwühlten Bett, schlug mit einem furchtbaren Rohrstock gewaltig auf die Kissen los, welche der kleine, auf der anderen Seite des Bettes stehende Diener ihm eins nach dem anderen hinschob, und nannte dabei in grimmigem Ton verschiedene Namen, die er mit den bedenklichsten Titeln begleitete und denen er ausnahmslos versicherte, dass sie mehr Hiebe verdienten als er ihnen im Leben zu reichen vermögen werde. Er war so eifrig bei seinem Geschäft, dass er vom Öffnen der Tür und meinem Erscheinen nichts bemerkte und selbst keine Notiz davon nahm, dass Johann bei meinem Anblick erschreckend zurück zuckte und ihm ein mahnendes »gnädiger Herr, der Herr Freund sind da« zurief. Er schlug nur grimmiger darauf los.

»Donnerwetter, Peter«, sagte ich endlich noch ganz verblüfft, trat zu ihm und legte die Hand auf seinen Arm, »was ist denn eigentlich los? Machst du dir bloß Motion oder …«

Er guckte sich grimmig über die Störung um und mich an. Dann jedoch, als er mich erkannte, verzog sich sein Gesicht zu einer Art von grämlichem Lachen. Er sagte, den Stock ruhend lassend: »Ja, Paul, du hast ganz recht. Der Doktor hat mir Motion verordnet, sagt Johann. Und da ist es doch wohl die beste, dass ich die nichtswürdigen Kerle durchprügle, die mir mein Geld stibitzt, mich unter diese verfluchte – sie nennen es ja wohl Kuratel – gebracht haben und nun feigerweise sich nicht mehr blicken lassen, weil sie sich vor Hieben ängstigen!« Als ich trotz alles Erstaunens über diese, beiläufig gesagt, wunderbar lichtvolle Erklärung in unaufhaltsames Lachen ausbrach, wandte er sich wieder zum Diener und schrie ihn an: »Nun der Letzte, Johann … der Pfühl dort! Heran damit! Das ist der Wittenau … Kerl, der du mir meine Frau stiehlst und doch mein Freund sein willst … schlechter Kerl, warte, du kriegst es aus dem Salz!« Dabei regneten Hiebe, die, auf einen wirklichen Körper treffend, alle Knochen zerbrochen hätten. Der Staub flog in dichten Wolken um uns her und zum offenen Fenster hinaus.

Plötzlich innehaltend, wandte sich Peter wieder zu mir und sagte wunderbar bedächtig: »Aber Paul, nicht wahr, ich will ihn ja fordern lassen? Da muss ich mit dem Prügeln wohl noch warten, bis ich seine Antwort habe?«

Ich vermag es den Lesern kaum klar zu machen, was ich bei diesem halb lächerlichen, halb erschreckenden Durcheinander von radikaler Tollheit und ganz erträglicher Einsicht, wie der dicke Geselle es mich seit gestern schon mehr als einmal hatte beobachten lassen, in mir vorgehen fühlte. War er immer so oder nur infolge seiner jetzigen außergewöhnlichen Aufregung? Ließ sich, wenn diese wieder einem normalen friedlichen Zustand Platz machte und man daneben die auftauchende Neigung zu seiner Frau richtig zu lenken und zu benutzen verstand, auf eine nachhaltige Besserung hoffen oder musste man auf ein endliches vollständiges Versinken rechnen? Ich sage nur: Ich fühlte mich für den Augenblick konfus, ja selbst betäubt und unfähig zu einer Antwort.

Aber dieselbe wurde mir auch erspart. Denn als Peter seine letzten Worte kaum beendet hatte, zeigte uns eine scharfe Zugluft, der durch das kleine Gemach fuhr, an, dass in dem Nebenzimmer eine Tür geöffnet worden sei. Gleich darauf erschien vor unseren Blicken die Gestalt eines Herrn, der suchend umherschaute und, da er uns nun sah, stehen blieb. Es war der Rendezvous-Fremdling von heute Morgen!

»Zum Kuckuck, Nachbar, wo steckt Ihr denn?«, rief er munter aus und kam heran, mit forschendem Blick das Gemach und das Bett, den Stock in Peters Hand und besonders mich überfliegend. »Und ohne Rock, in Hemdsärmeln, und so erhitzt? Na, da ist es mit dem Unwohlsein, von dem Eure Frau uns sagt, wohl nicht weit her!«

Peter zuckte zusammen. »Meine Frau – uns? Wer sind die uns, Nachbar?«, rief er aus.

»Nun, mein Gott, wer denn sonst als meine Frau, die drüben bei der Euren sitzt, und ich?«, gab er, munter wie vorhin, zur Antwort. »Wir hörten schon gestern, dass es mit Euch nicht richtig sei …«

Peter war wie betäubt und erstarrt gestanden. Nun aber fuhr er auf und schrie, das Gesicht dunkel gerötet und die Stirnadern bis zum Zerspringen angeschwollen: »Meine Frau drüben mit der Euren? Aber das ist eine Lüge! Sie ist fort und Ihr … Ihr habt sie gestohlen!«

Es zuckte etwas wie eine höchst unangenehme Empfindung durch das offene, männlich schöne Gesicht des Fremden, in welchem jedoch die Leser sicherlich schon den Herrn von Wittenau erkannt haben. Dann aber war er auch schon wieder gefasst und sagte ernster als bisher in begütigendem Tone: »Aber, alter Freund, seid Ihr denn wirklich krank? Überzeugt Euch doch. Eure Frau sitzt ganz wie immer drüben und hat nur Sorge um Euch …«

Peter hörte nichts mehr. Wie er ging und stand, machte er sich davon und ging mit einer Raschheit vorwärts, die er vermutlich bisher selber sich nicht zugetraut hatte. Ich eilte ihm nach.

Aber Wittenau fasste meinen Arm. »Lassen Sie uns zusammen gehen«, sprach er, »ich möchte Ihnen ein paar Worte sagen. Wir kommen Peter schon nach. Kennen Sie mich nicht mehr? Wir studierten vor neun Jahren zusammen in H., Sie bei den Pommern, ich bei den Vandalen …«

Mir ging ein Licht auf über seine mir, wie ich berichtete, bekannten Züge. Ja, er hatte recht und es war, wie er es angab. Wir waren dort ein ganzes Jahr zusammen gewesen, hatten auch gelegentlich mit einander verkehrt. Allein, wie es gar nicht so ungewöhnlich war bei oberflächlichen Bekannten, seinen rechten Namen hatte ich niemals erfahren, sondern nur den sogenannten Kneipnamen!

»Herr von Wittenau …«, sagte ich.

»Ja, und die richtige alte Schwalbe von damals«, fiel er ein. »Aber meine Erklärung: Die Baronin hat meine Frau und mich in dem ihr aufgezwungenen, verdrehten Zustand, mehr als ich es sagen kann, gedauert und wir haben schon lange herumgeraten, ob ihr gar nicht zu helfen sei. Da meinte ich denn zuletzt, dass Peter, der, wie ich wohl herausmerken konnte, in seiner Art mehr an ihr hängt, als er es zu zeigen versteht, vielleicht durch ihren anscheinenden Verlust aus seiner Stumpfheit und Narrheit aufgeschreckt werden könne. So überredeten wir die Frau mit Müh und Not, denn sie wollte anfangs durchaus nicht nachgeben, zu dem Versuch. Er ist gelungen, höre ich …«

»Das wollen wir abwarten«, unterbrach ich ihn gedämpft, denn Peter marschierte immer fünf Schritte vor uns, schien aber allerdings von unserer Nähe nichts zu ahnen. »Unbarmherzig war er jedenfalls und ich fürchte beinahe, auch gefährlich!«

»Ja«, meinte er lächelnd, »die arme Christine ist ganz außer sich vor Schreck über Ihren Zorn und hat mir die Hölle nicht wenig heiß gemacht. Aber seien Sie ruhig«, fügte er hinzu, »Peter ist ein echter Dickhäuter und braucht Gewaltmittel, wenn er eine Wirkung spüren soll. Es wird sicherlich alles gut.«

»Wissen Sie, dass er Sie fordern will?«, fragte ich erheitert. Die eben gegebene Definition von Peters Natur schien mir nicht nur richtig zu sein, sondern beschwichtigte wirklich meine Besorgnisse.

»Donnerwetter!«, sagte Wittenau, mit Mühe das Lachen verbeißend, »das ist gefährlicher als ich dachte! Aber es ist doch auch ein gutes Zeichen – er wacht wahrhaftig auf!«

Unser Weg war zu Ende. Wir hatten nicht nur unseren, sondern auch den ganzen Südflügel zu durchlaufen, keine kurze Strecke, und Peter schnaufte von der ungewohnten Anstrengung. Nun riss er die Flügeltür vor uns auf und blieb, wie vom Blitz getroffen, stehen, denn in der Tat saßen auf dem Sofa an der gegenüberstehenden Wand zwei noch jugendliche Damen, von denen die eine sich durch Hut und Shawl unschwer als eine Fremde erkennen ließ.

Peter stand wie erstarrt und wortlos, bis er mit einem Mal zu schwanken anfing, sodass Wittenau und ich ganz erschrocken hinzusprangen und die andere, häuslich gekleidete Dame entsetzt vom Sofa auffuhr und zu uns eilte. »Habe ich es euch nicht gesagt?«, rief sie dabei, indem ihr die Tränen aus den Augen drangen. »Es war abscheulich von mir, dass ich mich überreden ließ! Aber Peter, mein armer Mann!«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.

Peter hatte schon bei ihrem ersten Laut den Schwächeanfall überwunden und auch den verlorenen Atem wiedergefunden.

Als er sich von ihr so plötzlich umfasst fühlte, legte auch er in bärenhafter Weise beide Arme um ihre zarte, fast hagere Gestalt und sagte dabei, von Neuem ein wenig atemlos, und – wahrhaftig, es war wunderbar – mit feuchten Augen: »Bist du wirklich hier? Und ich dachte, du seiest ganz fort, und habe mich schier von Sinnen gedacht und geängstigt!«

»Verzeih mir, verzeih mir!«, stammelte sie.

Da kam auch Frau von Wittenau heran. »Nachbar«, sprach sie, ihre Verlegenheit und Bewegung hinter einem Lächeln verbergend: »Sie müssen uns allen verzeihen. Wir haben Ihre Frau zu einem Besuch bei uns überredet. Hier, in der steten Einsamkeit wurde sie ganz hypochonder. Wie konnten wir glauben, dass Sie …«

»Seien Sie nur still, Frau Nachbarin«, unterbrach Peter sie mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, ohne jedoch seine Arme von der an seiner Brust ruhenden Frau zu lösen. »Ich brauche nichts zu wissen. Es ist alles recht. Ich habe es nur gar nicht gewusst, dass Sie meine Frau so gut kannten! Na, es ist gut, sie ist wieder da!« Indem ein Ausdruck von Intelligenz und zugleich von Liebe in seinem dicken roten Gesicht und den kleinen Augen erschien, wie er vermutlich bisher weder in dem einen, noch in den anderen jemals sichtbar geworden, beugte er den Kopf nieder zu seiner Frau und küsste sie auf die Stirn – Gott weiß es – und redete dazu: »Du darfst mir aber solche Geschichten nicht wieder machen, Louise! Ich habe jetzt erst gemerkt, dass ich ohne dich nicht leben kann, und wenn du fort bist, ängstige ich mich schier von Sinnen, sag’ ich dir! Gott Lob und Dank, nun muss ich doch nicht mehr allein bei Tisch sitzen! Jetzt wollen wir urfidel sein!«

 

*

 

Meine Erinnerung ist zu Ende. Der kleine Rückfall, der sich in den Worten über seine einsamen Mahlzeiten verriet, war von keiner Bedeutung und die Liebe zu seiner Frau, die plötzlich zum Durchbruch gekommen war, trat vor seinen seltsamen Lebensgewohnheiten und den übrigen Eigenheiten nicht wieder in den Hintergrund.

Die getrennte Wirtschaft hörte auf. Er hatte auf solche Weise die Frau, wie er mir später einmal anvertraute, doch besser unter Augen und brauchte nicht mehr zu fürchten, dass man sie ihm noch einmal entführe.

Da die Baronin sich seiner nun ernstlich annahm und den außerordentlichen Einfluss, den sie auf ihn gewonnen hatte, mit Vernunft, Konsequenz und mit herzlicher Liebe zur Geltung zu bringen wusste, so wurde Peter allmählich ein erträglicher Mensch. Sein Körper wurde beweglicher und sein Kopf heller, seine Eigenheiten fielen, eine nach der anderen, von ihm ab oder traten doch zurück, und er war endlich ein Mann, wie es dazumal noch mehr als einen gab, der, wenn auch in aller Bescheidenheit und Einfachheit, seinen Platz in der Welt gut und ganz achtungswert ausfüllte. Ich habe bei ihm und den seinen – es stellten sich auch ein paar Kinder ein, und die Kuratel wurde nach einigen Jahren von ihm genommen – viele heitere, gute Stunden verlebt. Nur über den Spaß, der ihn kuriert hatte, durfte man nicht reden. Die Gatten mochten es beide nicht.