Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 22
Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 22
Das Ende der Suche?
Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 16.04.2019
Kurzinhalt:
Ein feiger Raubmord auf einem Schaufelraddampfer.
Die Entführung eines Journalisten.
Zehn Zwanzig-Dollar-Münzen in einer toten Ratte.
Drei Ereignisse, die für Jacob Adler eine gemeinsame Bedeutung erlangen, als er sich in die Höhle des Löwen wagt – und dem “Hai von Frisco” in die Fänge gerät. Hier, fernab aller Hoffnung, soll seine Suche nach Carl Dilger enden, die ihn und Irene nach San Francisco führte.
Endet damit aber auch … sein Leben?
Leseprobe
Immer wieder schwang der hünenhafte Schwarze die Peitsche und schlug wie ein Besessener auf die beiden Pferde ein. Zielsicher lenkte er den leichten Zweispänner durch die schlammigen Straßen von San Francisco. Es war kurz vor Morgengrauen, und es regnete wie aus Kübeln gegossen, und doch war die ganze Stadt auf den Beinen. Der kahlköpfige Schwarze nahm darauf keine Rücksicht. Er kannte nur ein Ziel. Er musste seinen Begleiter möglichst schnell von dem Ort wegbringen, der vor Kurzem noch sein Hauptquartier gewesen war: das Golden Crown, ein riesiger Vergnügungspalast am Portsmouth Square. Jetzt war das Gebäude in der Hand der Armee. Und der gefürchtete Hai von Frisco befand sich auf der Flucht.
Natürlich hatte der Hai nicht nur einen Unterschlupf in der großen Stadt. Der dunkelhäutige Buster fuhr seinen Herrn nach Barbary Coast, dem berüchtigten Vergnügungsviertel. Dort wollte der Hai untertauchen.
Immer wieder mussten Menschen zur Seite springen, um nicht unter die Hufe der Zugtiere oder unter die Wagenräder zu geraten. Die vorbeidonnernde Kutsche bespritzte sie mit Schlamm. Doch kaum jemand fluchte. Der Regen wusch den Schlamm schnell ab. Die Menschen standen auf der Straße und ließen sich bis auf die Haut durchweichen – voller Freude. Der Regen war willkommen wie ein guter Freund. Er rettete ihre Häuser oder zumindest ihr Leben vor den Flammen, die einen Teil der Stadt eingeäschert hatten. Ohne ihn hätte das Feuer die ganze Stadt am Golden Gate verschlungen.
Barbary Coast gehörte zu den Stadtteilen, die von den Flammen verschont geblieben waren. Dem Hai und Buster war das nur recht. Manch ehrlicher Bürger sah das anders. Die gesamte Stadt war gespickt mit Saloons, Spielhallen und Tanzlokalen, aber in Barbary Coast war es noch ärger. Dort reihte sich ein solches Etablissement an das andere. Keine zweifelhaften Häuser, sondern nachweislich solche der übelsten Sorte. Nirgends auf der Welt gab es so viel Whiskey und Rum, so viele Prostituierte und Morde wie hier. Die Behörden hatten sich damit abgefunden. So wusste man wenigstens, wo die finsteren Gestalten steckten.
Buster zügelte die Pferde im Schatten eines Hauses, das gar keins war, sondern ein umgebautes Schiff. Von der goldgierigen Besatzung verlassen, hatte sich jahrelang niemand um den großen Segler gekümmert. Bis man Land aufschüttete und den Pazifik ein Stück zurückdrängte. Plötzlich war das auf Land stehende Schiff zur begehrten Unterkunft geworden.
Jetzt befand sich eine Kaschemme in seinem Leib, das Red Whale. So stand es auf dem Schild über dem Eingang, das passenderweise die Form eines Walfisches hatte und einmal von leuchtend roter Farbe gewesen war. Inzwischen war die Farbe zu einem schmutzigen Braun verblasst.
Das gestrandete Schiff befand sich in der Nähe eines Hafenbeckens, in dem kleinere und mittlere Raddampfer lagen.
Der Schwarze zog die Bremse an, stieg vom Bock und tauchte in das Gewirr aus Stimmen und Musik und in den Dunst von Zigarrenqualm, billigem Fusel und menschlichen Ausdünstungen ein.
Die Menschen in Barbary Coast feierten, wie immer. Aber heute hatten sie einen besonderen Anlass: Das große Feuer hatte sie verschont. Deshalb floss der Alkohol noch reichlicher als sonst.
Die Flaschen standen auf der wurmstichigen Bar, und jeder konnte sich selbst bedienen – sofern er den Dollar, den ein Glas Whiskey kostete, neben die Flasche legte. Die Gäste machten davon reichlich Gebrauch und füllten ihre Gläser bis zum Rand. Ein Dollar war der Preis, egal wie voll das Glas wurde.
Buster steuerte eine immens fette Frau mit unecht rotem Haar an. Ihr tief ausgeschnittenes Kleid fiel aus zwei Gründen auf. Erstens war die grüne Farbe genauso stechend wie das Rot ihrer Haarmähne. Zweitens schien der voluminöse Körper das Kleid in jeder Sekunde sprengen zu wollen. Bei jedem Ausatmen spannte sich der Stoff, und die gewaltigen Brüste, gegen die selbst ausgewachsene Melonen bescheiden wirkten, reckten sich bedrohlich nach vorn.
Molly Reynolds redete auf den zahnlosen Pianisten ein, er solle endlich etwas Flotteres spielen als das gemächliche, leiernde Beautiful Dreamer. Schließlich begriff der Alte und wechselte übergangslos zu Camptown Races.
Die voluminöse Molly Reynolds war die Inhaberin des Red Whale, zumindest nach außen hin. In Wahrheit war es ihr so ergangen wie vielen anderen zwielichtigen Geschäftsleuten in San Francisco. Der Hai hatte sie vor die Wahl gestellt, für ihn zu arbeiten oder im Pazifik zu baden – für immer und mit ein paar schweren Steinen beschwert.
Froh, den Pianisten endlich überredet zu haben, drehte die dicke Frau sich um. Als sie den knochigen Schwarzen erblickte, gefror das Lächeln auf ihren kirschrot geschminkten Lippen und erstarb dann ganz.
Buster streckte die rechte Hand aus, mit der hellen Innenseite nach oben. Mit einem Krümmen des Zeigefingers winkte er Molly Reynolds zu sich heran. Sie gehorchte und ging zu ihm. Es war immer besser, dem Hai zu gehorchen.
»Was ist?«, fragte sie barsch. »Was willst du hier?«
Sie rechnete nicht damit, aus seinem Mund eine Antwort zu erhalten. Niemand in San Francisco hatte Buster jemals sprechen gehört. Entweder wollte er nicht reden, oder er konnte es nicht.
Buster zeigte zum Ausgang. Es war klar, was er meinte.
Molly Reynolds seufzte ergeben und folgte ihm zwischen den gut besetzten Tischen hindurch.
Plötzlich sprangen zwei Männer auf und stellten sich ihnen in den Weg. Ein blonder Kleiderschrank und ein hagerer, dunkelhaariger Kerl mit der krummsten Nase, die Molly jemals gesehen hatte. Sie trugen die Tätowierungen von Seeleuten, und ihr süßlich-schwerer Atem verriet den überreichlichen Rumgenuss.
»Warum gehst du mit dem verwanzten Kerl, Molly?«, lallte der Krummnasige. »Bist doch viel zu schade für so’n Kohlengesicht. Der ist doch’n halbes Tier. Wenn du dich amüsieren willst, setz dich lieber zu uns!«
Er legte den Arm um die Schultern der Frau, tauchte mit der Hand in ihren Ausschnitt und packte das warme Fleisch ihrer riesigen Brüste. Seine Fingernägel gruben sich so fest ein, dass es wehtat.
»He, Bo«, wandte er sich lachend an seinen Gefährten. »Is’n verdammt gutes Gefühl. Is’ genug für uns beide dran.«
»Werd’s auch mal versuchen, Jock«, grunzte der Blonde und wollte ebenfalls zugreifen.
Er kam nicht dazu. Der bisher völlig ruhige Schwarze wirbelte herum, fasste Bos Arm und drehte ihn mit einer schnellen Bewegung auf den breiten Rücken des Kleiderschranks.
Der blonde Seemann heulte schmerzerfüllt auf und krümmte sich zusammen. Mit einem Fausthieb auf den Hinterkopf schickte Buster ihn auf den schmutzstarrenden Fußboden.
»Verfluchtes Schwein!«, schrie Jock.
Er ließ Molly los, griff unter seine zerschlissene Jacke und zog ein scharfes Haifischmesser hervor.
Buster war schneller. Sein Fuß traf das Gelenk der Messerhand, und die Waffe flog zur Seite.
Der Schwarze sprang vor und deckte den Krummnasigen mit einer Serie von Fausthieben ein. Sie explodierten überall an Jocks Kopf und brachen die Nase ein weiteres Mal. Ein roter Sturzbach ergoss sich aus beiden Nasenlöchern, während der Seemann neben seinen Kumpel stürzte.
Buster stand wieder völlig ungerührt da, als wäre nichts geschehen.
Zwei Männer stürzten vom Eingang herbei. Sie waren kräftig gebaut, und ihre groben Gesichter wirkten vollkommen identisch. Kein, Wunder, die beiden Iren waren Zwillinge. Molly Reynolds hatte sie gestern erst als Türsteher, Aufpasser und Rausschmeißer eingestellt.
Der Schwarze spannte seine Muskeln an, bereit, es auch mit den beiden Iren aufzunehmen.
»Nicht der«, sagte Molly und zeigte auf Buster.
Dann blickte sie zu Boden, wo sich die tätowierten Seeleute unter lautem Röcheln wanden.
»Die beiden müsst ihr euch vornehmen. Schmeißt sie raus und achtet darauf, dass sie in dieser Nacht nicht mehr wiederkommen!« Sie stieß ein verächtliches Lachen aus. »Die Milchgesichter können den Rum nicht vertragen.«
Einer der Iren nickte. Der andere starrte gebannt seine Chefin an.
Jetzt erst bemerkte sie, dass ihr Kleid verrutscht war. Eine der riesigen Brüste schaute heraus und offenbarte eine fast handtellergroße Brustwarze.
Molly stopfte die Brust wieder in ihr Kleid und ging mit Buster zum Ausgang. Die große Tür war, wie auch die Fenster, nachträglich in den Schiffsrumpf eingebaut worden.
Draußen regnete es noch immer. Man konnte kaum zehn Yards weit sehen.
Buster streckte die Hand aus und deutete in den Regen.
»Was, ich soll da raus?«, empörte sich die Frau. »Danach bin ich so nass, als hätte ich den Pazifik durchschwommen!«
Der Schwarze zog sein teures Jackett aus und legte es über Kopf und Schultern der Frau. Ihm machte der Regen offenbar nichts aus.
Sie liefen hinaus. Bald sah Molly die Umrisse der kleinen Kutsche und unter dem schützenden schwarzen Verdeck die schlanke Gestalt eines Mannes.
Er war kaum mehr als mittelgroß und hatte dunkles, leicht gewelltes Haar. Das gut aussehende Gesicht mit dem eingekerbten Kinn wurde von einem herben, grausamen Zug beherrscht.
Molly hatte den Hai von Frisco noch nie gesehen. Henry Black, der Inhaber des Golden Crown, war bei der Übernahme des Red Whale als sein Mittelsmann aufgetreten.
Trotzdem wusste die Frau sofort, dass sie den Mann vor sich sah, vor dem die halbe Stadt zitterte. Sie kannte Buster, der damals bei Black gewesen war. Die Gerüchte besagten, dass der stumme Schwarze Leibwächter und rechte Hand des geheimnisvollen Hais war. Und dass der Hai seine zwielichtigen Geschäfte vom Golden Crown aus leitete. Aber was wollte er dann hier?
Der Mann im Wagen nickte knapp. »Sie wissen, wer ich bin, Molly?«
»Ich denke, ja. Ein ganz großer Fisch. Der größte, der sich in Frisco tummelt. Und der gefährlichste.«
Der Anflug eines Grinsens huschte über das Gesicht des Mannes. »Schön formuliert. Außerdem bin ich ein Fisch, der dringend einen neuen Unterschlupf benötigt. Der Bauch eines roten Wales käme mir sehr gelegen.«
»Was ist passiert? Hat das Feuer etwa auch den Portsmouth Square erreicht und das Golden Crown erwischt?«
»Nicht das Feuer hat das Golden Crown erwischt, sondern die verdammte Armee.«
»Oh!«
Plötzlich überschlugen sich die Gedanken der Frau. Wenn die Armee dem Hai auf der Spur war, konnte es für Molly gefährlich sein, ihm Unterschlupf zu gewähren.
Andererseits – tat sie es nicht, hätte sie vermutlich nicht mehr lange zu leben.
»Was ist mit Black?«, fragte sie.
»Tot, vermutlich.«
»Kommen Sie«, sagte Molly. »Wir nehmen den Hintereingang, um kein Aufsehen zu erregen.«
»Buster und ich fahren mit der Kutsche um den roten Wal«,
erklärte der Hai. »Ich bin nämlich nicht gut zu Fuß.«
Als der von Buster gelenkte Zweispänner das Schiff umrundet hatte, sah Molly, was der Hai meinte. Der meistgefürchtete Mann von San Francisco war ein Krüppel! Er konnte seine Beine nicht benutzen und benötigte Busters Unterstützung, um ins Red Whale zu kommen.
»Wie ist das passiert?«, fragte Molly impulsiv.
Die Züge des Hais verhärteten sich.
»Eine alte Rechnung, die ich bald begleichen werde. Der Mann, dem ich das verdanke, hält sich in Frisco auf. Ich werde dafür sorgen, dass dieser verfluchte Jacob Adler für alles büßen muss!«
Die abgebrühte Frau erschrak. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Drohungen gehört. Aber keine war mit solcher Inbrunst und solchem Hass ausgestoßen worden.
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich und glich jetzt tatsächlich der Fratze eines blutgierigen Hais.
Quelle:
- Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 22. Bastei Verlag. Köln. 16.04.2019