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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aus dem Wigwam – Die alte Eule

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Die alte Eule

in junger Delaware, der sich lange Zeit in den Jagdgründen aufgehalten hatte, ohne etwas Nennenswertes geschossen zu haben, fing zuletzt eine Eule, die in einer hohlen Eiche wohnte. Da das Wild damals überall selten war, so beschloss er, sie zu töten und seiner Liebsten zu bringen, die seit mehreren Tagen kein Fleisch gesehen hatte. Er band sie also an dem rechten Bein an einen Ast und schliff sein Messer auf einem Sandstein, der in der Nähe lag. Die Eule sah ihm mit großen Augen zu und fragte ihn, was er tue. Der junge Indianer, der nicht gewohnt war, zu lügen, antwortete, er mache sich fertig, ihr den Kopf abzuschneiden.

»Was!«, rief die listige Eule, »wie wird es meiner alten Frau, meinen großen Töchtern und unmündigen Kindern ergehen? Meine Frau ist alt, blind und kann keine Mäuse mehr fangen.«

»Ich glaube, andere Familien werden für deine Kinder sorgen und deine Alte wird eine andere Eule heiraten.«

»Das mag bei euch Gebrauch sein, bei uns aber ist es nicht. Außerdem ist meine Frau auch so alt und hässlich, dass sie sicherlich selbst dem Teufel missfallen würde. Wenn du mich schlachtest, so müssen meine Kinder ver­hungern. Am Tage können sie nicht gut sehen und bei Nacht getrauen sie sich nicht aus dem Nest.«

»Aber ich bin sehr hungrig! Seit mehreren Tagen hat keiner meines Stammes weder Wild noch Fisch gesehen und das Mädchen, das ich liebe, ist dem Hungertod nahe. Du bist ein willkommener Leckerbissen für sie!«

»Alt und zäh, alt und zäh! Weißt du nicht, dass es viel schlimmere Dinge als den Tod gibt? Schande und Gefangenschaft sollte der Krieger doch mehr fürchten als unbefriedigten Appetit!«

»Die Delawaren sind Männer. Sie sind Herren der Erde und niemand hat sie je zu Gefangenen gemacht. Sie werden schon selber dafür Sorge tragen, dass sie nicht beschimpft werden. Du aber musst meiner Liebsten ein Abendessen abgeben.«

»Der jüngste Sohn der grauen Eule wird sich diese Nacht mit einer meiner Töchter verheiraten. Die Gäste sind bereits versammelt, die Speisen sind bereitet und alles wartet auf mich. Darf ich nicht hingehen?«

»Nein!«

»Dann wird sich der Delaware-Krieger als größerer Narr zeigen, wie das Tier, das eine Klapperschlange heiratete, ohne ihr zuerst den Schwanz abzuschneiden. Du hörst nicht auf die Stimme des Großen Geistes; deshalb sieh dich in Zukunft vor!«

»Bist du denn ein Medizinmann?«

Sie nickte. »Wenn du mir erlaubst, zurückzugehen, dann wird sich mein ganzer Stamm dankbar zeigen. Wenn die Delawaren müde von Krieg und Jagd in Schlaf sinken, so werden auf jedem Baum um ihr Lager zwei feurige Augen wachen und die herannahende Gefahr rechtzeitig kundgeben!«

»Geh!«, erwiderte der Jäger darauf und erlöste den Vogel aus der Gefangenschaft. Er flog in seinen hohlen Baum zurück und wohnte dem Hochzeitsfest seiner Tochter bei. Der junge Krieger schoss kurz darauf einen fetten Hirsch und wanderte damit seelenvergnügt zur Wohnung seiner Braut.

Viele Sommer waren verflossen. Der Delaware hatte sich verheiratet und war Vater vieler Kinder geworden. Seines Mutes wegen hatte man ihn zum Häuptling der Unami oder des Schildkrötenstammes, der als der Stärkste der Familie der Delawaren gilt und sich als Vater aller Indianer betrachtet, erwählt. Diese Wahl hatte sich als eine außerordentlich glückliche herausgestellt. Sie hatten unzählige Schlachten mit den Stämmen aller Himmelsgegenden, mit den Shawnee am Wakulla River, den Mingo an den Großen Seen, den Dakota hinter dem Fluss der Fische und den Narragansett im Land der Stürme, gefochten und waren stets siegreich gewesen. Die Krieger des brennenden Flusses hatten eingestanden, dass sie alte Weiber seien, die Dakota hatten ihren Tribut in Bärenfellen und die Narragansett in wunderschönen Muscheln entrichtet, und die Mingo hatten sich wie verscheuchtes Wild in ihre dichtesten Wälder zurückgezogen. Von dem Krieg gegen letztem Stamm kehrten sie soeben, mit vielen Skalps geschmückt, ihrer Heimat zu. Sie waren müde und erschöpft; aber da der Indianer keines von beiden eingesteht, so tanzten sie zu Ehren ihres Gottes Wakondo den Skalptanz, sangen und jauchzten so laut dabei, dass es über alle Berge hallte. Danach legten sie sich schlafen, und bald war alles still.

Drei Bogenschuss weit von den schlafenden Unami rauschte es leise im dürren Gras. Es bog sich und eine große Gestalt schritt darüber weg. War es ein Büffel? Nein, der ist nicht schlau genug, sich zu verstecken. War es ein Hirsch? Die Hirsche stehen am Ufer des großen Sees und trinken. Eine Adlerfeder und eine schwarze Skalplocke wurden sichtbar, und zwei feurige Augen leuchteten durch das Dickicht. Es waren weder die Augen einer wilden Katze noch die eines Wolfes. Es waren die des Hundes der Seen, des verhassten Mingo, dessen Stamm sich zur Rache nächtlich herangeschlichen hatte. Aber sie wussten nicht, dass sie bewacht wurden und dass eine alte weiße Eule in einem hohlen Baum in der Nähe ihres Versteckes saß.

Die Eule sagte nichts und ließ sie recht nahe herankommen; dann rief sie auf einmal: »Auf, auf! Gefahr, Gefahr!«

Augenblicklich ertönte derselbe Ruf von allen umstehenden Bäumen. Die Unami erwachten und griffen zu ihren Waffen, sahen aber nur die Rücken der fliehenden Mingo.

Seit jener Zeit ist die Eule den Delawaren heilig. Wenn sie in der Nacht ihre Stimme ertönen lässt, so erhebt sich der Indianer von seinem Lager und wirft Tabak in sein Wigwamfeuer, damit ihr der aufsteigende Rauch die Versicherung bringe, dass man ihrer noch immer in Dankbarkeit gedenke.