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Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 21

Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 21
Schreckensnacht am Golden Gate

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 02.04.2019

Kurzinhalt:
Frühjahr 1864. San Francisco brennt!
Feuer und Rauch verwandeln die Stadt am Golden Gate in einen Ort des Schreckens. Tausende Menschen laufen durcheinander, und ihr vielsprachiges Geschrei übertönt das Knistern der gefräßigen Flammen und das Zusammenkrachen ausgebrannter Gebäude.
In Chinatown war die Feuersbrunst ausgebrochen, die sich nun fast über die halbe Stadt erstreckt. Auch der unermüdliche Einsatz der zahlreichen Feuerwehrkompanien kann den Brand nicht aufhalten.
Die Schuld an der Katastrophe tragen Louis Bremer und seine Gangsterbande, die für den geheimnisvollen Hai von Frisco arbeiten. Auf der Jagd nach dem deutschen Auswanderer haben sie das Feuer entzündet. Jacob Adler sollte sterben! Jetzt ist eine ganze Stadt dem Tode geweiht …

Leseprobe

Es war eine höllische Nacht. San Francisco brannte. Feuer und Rauch verwandelten die Stadt am Golden Gate in einen Ort des Schreckens. Zwischen und auf den vielen Hügeln rund um die große Bucht von San Francisco liefen Tausende von Menschen durcheinander: Amerikaner, Mexikaner, Chinesen, Franzosen, Australier, Deutsche und viele andere mehr. Vielsprachiges Geschrei strengte sich oft vergebens an, das Knistern der gefräßigen Flammen und das Zusammenkrachen verbrennender Gebäude zu übertönen.

Die Ausrufe der Franzosen, in San Francisco oft abfällig Keskydes genannt, klangen selbst in Panik noch wie Liebeserklärungen. Mexikaner und spanischstämmige Kalifornier riefen in ihrer Verzweiflung die Heilige Maria und eine Menge weiterer Heiliger an, auf Spanisch natürlich. Und immer wieder erscholl das Geschnatter der Chinesen, das für ungewohnte Ohren stets aufgeregt klang. Jetzt aber überschlugen sich die Stimmen der Asiaten geradezu.

Sie hatten auch Grund dazu. In Chinatown, dem Chinesenviertel von San Francisco, war die Feuersbrunst ausgebrochen, die sich nun fast über die halbe Stadt erstreckte. Wäschereien und Werkstätten, Restaurants und Spelunken, Opiumhöhlen und Kaschemmen, alles war ein Raub der Flammen geworden.

Familien wurden auseinandergerissen. Väter, Mütter und Kinder rannten suchend durch die Straßen, schrien die Namen ihrer gesuchten Lieben und beteten zu ihren Göttern, die Vermissten mögen nicht von Flammen verzerrt, im dichten Rauch erstickt, unter den verkohlten Trümmern begraben sein.

Das sich nach allen Seiten ausbreitende Feuer trieb die Menschen weiter. Sie konnten nicht lange an einem Ort verweilen, in der Hoffnung, ihre Lieben zu treffen. Die Waberlohe sprang von Dach zu Dach und überfiel Straßenzug um Straßenzug.

Die Löschbemühungen der Bevölkerung, die überall Ketten gebildet hatte, um schnell Wassereimer um Wassereimer an die Feuerfront zu bringen, hielten den Brand nicht auf. Sie führten im besten Fall zu einer Verzögerung. Zeit genug, bedrohte Straßen zu evakuieren.

Auch der unermüdliche Einsatz der zahlreichen Feuerwehrkompanien konnte daran nichts ändern. Wäre es ihnen gelungen, den Brandherd frühzeitig einzukreisen, hätten die Männer von Broderick One, Protection Two, Social Three und all der anderen Freiwilligenverbände mit ihren starken Spritzen eine reelle Chance gehabt.

Aber sie mussten ihre Kräfte zu sehr zersplittern. Die silbern schimmernden Wasserstrahlen, die sich aus den Schläuchen ins Flammenmeer ergossen, verwandelten sich dort allzu schnell in die sprichwörtlichen Tropfen, die auf heiße Steine fielen.

Schuld an der Misere, dem schnellen Ausbreiten des Feuers, waren Louis Bremer und seine Gangsterbande, die für den berüchtigten und geheimnisvollen Hai von Frisco arbeiteten. Auf der Suche nach dem deutschen Auswanderer Jacob Adler, seinem Freund Elihu Brown und der Chinesin Susu Wang, die eigentlich Wang Shuhsien hieß und unter ihren Landsleuten als Königin von Chinatown bekannt war, hatten sie überall in der Chinesenstadt Feuer entzündet.

Die weißen Gangster wollten es den verhassten Chinesen zeigen. Außerdem schien dieses Handeln ganz im Sinne des Hais zu sein, in dessen Auftrag Bremers Männer eine Nacht zuvor bereits versucht hatten, das Viertel der sich dem Hai widersetzenden Chinesen niederzubrennen.

 

*

 

Fluchend stand Henry Black am Fenster seines Büros und sah hinunter auf den riesigen Portsmouth Square, die Lebensader San Franciscos.

Man schrieb den März des Jahres 1864. Während weiter östlich die gnadenlosen Schlachten des Bürgerkrieges tobten, in dem Amerikaner gegen Amerikaner, Freund gegen Freund und oft auch Bruder gegen Bruder kämpften, befand sich die große Stadt an der amerikanischen Westküste mal wieder im Goldrausch.

In ganz Frisco pulsierte das Leben. Der Portsmouth Square mit seinen vielen und großen Vergnügungspalästen war das Herz der aufgewühlten Stadt.

Aber in dieser Nacht war es anders als sonst, wenn der ausgelassene Lärm bis in die frühen Morgenstunden erscholl. In Scharen verließen die Goldgräber und sonstigen Vergnügungssuchenden jetzt die großen, hell erleuchteten Häuser. Auch das größte und beeindruckendste Gebäude, das von Henry Black geleitete Golden Crown, bildete keine Ausnahme.

Ohne ihre Gläser auszutrinken, rannten die Gäste aus dem Saloon mit der langen Bar. Männer, die auf den Goldfeldern monatelang keine Frau gesehen hatten, ließen die überraschten Tanz-Girls mitten im Lied stehen. Ohne auf ihren möglichen Gewinn zu warten, sprangen die Glücksritter von den Spieltischen auf. Ihre möglicherweise erfolgsträchtigen Blätter blieben liegen. Und einsam drehte sich die Roulettekugel. Im Hotel, das seine Zimmer auch stundenweise vermietete, lag manches Freudenmädchen plötzlich allein im zerwühlten Bett.

Henry Black und seinem Geschäftspartner, dem Hai von Frisco, würde so mancher Dollar entgehen, der in dieser Nacht noch in den Kassen des Golden Crown geklingelt hätte. Dort unten liefen die Menschen aufgeschreckt über den Portsmouth Square und durch die Clay Street. Schuld daran war ein Wort, ein Ruf, der zu dieser Stunde von Mund zu Mund flog und die ganze Stadt beherrschte:

»Feuer!«

Die ehrbaren und die weniger ehrbaren Bürger hatten jetzt anderes zu tun. Die eigene Familie war plötzlich wichtiger als die Dirne oder das Tanz-Girl. Das eigene Haus zu retten war ungleich bedeutender, als eine amüsante Nacht im Golden Crown zu verbringen.

Und die Goldgräber wollten eilends ihre Ausrüstungen und Tiere in Sicherheit bringen, die sie teuer bezahlt hatten und ohne die sie das Reichtum und Glück verheißende Edelmetall niemals finden würden. Dass die meisten von ihnen auch mit Maultieren, Spitzhacken und Waschpfannen nicht erfolgreich sein würden, lag für die vom Gold geblendeten Männer jenseits ihrer Vorstellungskraft.

Black zog die hohe Stirn in Falten und blickte mit zusammengekniffenen Augen über die Dächer hinweg.

Die Menschen hatten sich beim Bau ihrer Häuser den zahlreichen Hügeln angepasst, zwischen ihnen, auf sie und an die Hänge gebaut. Deshalb wirkte der Blick auf die Dächer, als schaue man aufs Meer hinaus. Die Wellenberge und -täler bestanden aus Dächern – aus Stein und aus Holz.

Das rote Glühen, das dem Nachthimmel eine unnatürliche Helligkeit verlieh, war der Vorbote eines anderen Meeres. Des Feuermeeres, das sich über das Meer aus Häusern und Dächern ergoss, um es zu verschlingen.

Als Black dieses intensive Glühen sah, das ständig stärker wurde und sich über mehr und mehr Teile der Stadt ausbreitete, wusste er, dass die Panik der Menschen berechtigt war. Black hatte, seit er am Golden Gate lebte, wie man die Meerenge zwischen der Bucht von San Francisco und dem Pazifik nannte, schon einige Brände gesehen, aber keiner war so schlimm wie dieser gewesen.

Fast sah es so aus, als wolle die sich ausbreitende Glut auch vor dem Stadtzentrum nicht haltmachen, nicht vor dem Portsmouth Square und nicht vor dem Golden Crown.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Lag in der Richtung, aus der das Feuer kam, nicht die Chinesenstadt? Dorthin war dieser Giftzwerg Louis Bremer mit seinen Männern geritten, auf der Suche nach dem Auswanderer Adler und der als Verräterin verdächtigten Susu Wang.

Blacks klobige Finger nestelten die an einer goldenen Kette hängende Uhr aus einer Westentasche. Auch die Uhr war aus Gold, besetzt mit funkelnden Edelsteinen. Routiniert schnippte Blacks Daumen den Deckel hoch.

Mit einem unwilligen Grunzen stellte der wuchtige Geschäftsmann fest, dass Bremer schon seit geraumer Zeit überfällig war. Was konnte ihn und seine Männer so lange in Chinatown aufhalten?

Der Brand? Gab es vielleicht sogar eine Verbindung zwischen dem Feuer und Louis Bremer?

Der verschlagene kleine Mann, der bislang zu den wichtigsten Unterführern in der Organisation des Hais gehört hatte, erwies sich in jüngster Zeit als zunehmend unzuverlässig. Erst verkaufte er Jacob Adler an einen Walfänger, statt den Auswanderer dem Hai zu übergeben. Dann hatte Bremer Adler und seinen Seemannsfreund endlich gefangen, ließ beide aber entkommen.

Der stiernackige Mann holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. Entgegen seiner Hoffnung spürte er danach nur wenig Erleichterung. Schuld an seiner bedrückten Stimmung war nicht nur Bremer, sondern vor allem der Mann, der da oben thronte.

Black legte den Kopf weit in den Nacken, sodass sich hinten dicke Fettwülste abzeichneten. Dort oben hockte der Mann, der alle Fäden von San Franciscos Unterwelt in die Hand zu bekommen hoffte.

Wie die Spinne im Netz.

Die Spinne?

Nein, der Hai!

Ein leichtes Zittern überfiel den sonst so abgebrühten Henry Black bei dem Gedanken, dem heimlichen Herrscher über San Francisco einen weiteren Fehlschlag melden zu müssen.

Black kannte seinen Herrn und Meister inzwischen gut genug, um dessen Reaktion einschätzen zu können. Auch wenn Bremer die Schuld am Misserfolg traf, der Hai würde es Black spüren lassen. Black war die rechte Hand des Hais, sein ausführendes Organ – und sein Blitzableiter.

Der ehemalige Besitzer und jetzige Geschäftsführer des Golden Crown ging zu seinem Schreibtisch, zog eine tiefe Lade heraus und entnahm ihr eine bauchige Brandy-Flasche. Er füllte das fleckige Glas auf dem Schreibtisch bis über die Hälfte. Er brauchte die wärmende, beruhigende Flüssigkeit, um das Zittern aus seinem Leib zu vertreiben. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Flasche wieder zu verkorken.

Hastig setzte er das Glas an die Lippen, da stürzte jemand nach nur kurzem Anklopfen ins Zimmer.

Für einen Augenblick hatte Black, beeinflusst durch seine um den Hai kreisenden Gedanken, geglaubt, der Hai hätte Buster geschickt, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Der kahlköpfige Schwarze, der Leibwächter des Hais, hatte Black erst am vergangenen Tag verprügelt, als dieser über Susu Wang, den Schützling des Hais, hergefallen war.

Als Black seinen Irrtum erleichtert erkannte, hatte er vor Schreck schon den halben Inhalt seines Glases über die Weste vergossen. Er wusste nicht, worum er mehr trauern sollte, um das teure Kleidungsstück oder um den teuren Brandy.

»Bremer, du verdammter Hund, kannst du nicht ordentlich anklopfen?«

Der Zorn über die Art, wie der kleine Mann mit dem Rattengesicht in sein Büro platzte, und über das lächerliche Bild, das Black dem anderen mit dem verschütteten Brandy bot, ließ den großen, wuchtigen Mann die Erleichterung darüber vergessen, dass Bremer endlich zurück war.

Bremer schob die zu große Melone in den Nacken und wischte mit dem Jackenärmel über seine Stirn. Seine Bewegung war langsam, fast fahrig. Sie drückte Erschöpfung aus.

Überhaupt machte der kleine Mann einen reichlich mitgenommenen Eindruck. Schmutz und Ruß befleckten sein Gesicht, seine Hände und seinen ohnehin nicht sonderlich beeindruckenden, weil schon reichlich abgetragenen und speckigen Anzug. Aber da waren noch andere Flecken, kleine dunkle Spritzer. Es sah aus wie getrocknetes Blut.

»Verflucht, Henry, wenn du mitgemacht hättest, was ich heute erlebt habe, würdest du auch nicht auf gesellschaftliche Formalitäten achten.« Er blickte begehrlich auf die noch offene Brandy-Flasche. »Ein Doppelter von deiner Hausmarke würde mir jetzt auch guttun.«

Black war noch immer sauer auf den anderen und beschloss, den Wink mit dem Zaunpfahl zu ignorieren. Er stellte das klebrige Glas an den Rand des Schreibtisches, fischte mit spitzen Fingern ein weißes Taschentuch hervor und rieb erst seine mit Alkohol benetzten Hände und dann seine Weste ab.

»Dein Durst kann warten«, knurrte Black. »Erzähl mir lieber, was los ist. Vor allen Dingen sag mir, wo Adler und der chinesische Engel stecken!«

»Irgendwo an der Grenze zu Chinatown, nehme ich an.«

Bremer quetschte die Antwort widerwillig hervor. Sein Zögern drückte aus, dass er lieber etwas anderes oder überhaupt nichts gesagt hätte. Aus Angst vor dem Hai.

»Ir-gend-wo?«, wiederholte Black bedächtig, und jede Silbe drückte wachsenden Unglauben aus. »An der Grenze zu Chinatown? Jedenfalls nimmst du das an?«

Wütend schleuderte der ehemalige Hufschmied das zerknüllte Tuch zu Boden, trat hinter dem Schreibtisch vor und baute sich vor dem anderen auf.

Keinem der beiden war zum Lachen zumute, gleichwohl gaben sie ein komisches Bild ab. Der große, massige, fast aus seinem Anzug quellende Henry Black, der sich in seiner Wut noch zusätzlich aufplusterte, und der kleine Louis Bremer in dem zu großen Anzug wirkten wie Vater und Sohn. Black war dabei der Vater, der ein donnerndes Strafgericht über seinen Sohn niedergehen ließ.

»Wir haben unser Bestes getan, sie zu erwischen«, verteidigte sich Bremer und berichtete von dem Überfall auf Sun Chengs Wäscherei, von der Inbrandsetzung Chinatowns und von den Ereignissen in Reverend Humes Waisenhaus.

Als Bremer mit seinem Bericht zu Ende war, herrschte für zwei, drei Minuten Schweigen.

Wie sehr Black aufgewühlt war, zeigten nur seine in ihrer Größe an Schaufelblätter erinnernden Hände, die sich beständig schlossen und öffneten. Als benötige der Geschäftsführer des Golden Crown diese krampfartige Bewegung, um seine Erregung abzuleiten.

Wie mühsam es für ihn war, sich unter Kontrolle zu halten, verriet auch seine vibrierende Stimme, als er schließlich sagte: »Louis, dieser verdammte Auswanderer ist dir innerhalb weniger Stunden dreimal durch die Lappen gegangen! Erst hier, als er, schon gefesselt, im Schuppen lag. Dann in Chinatown, in der Wäscherei. Und schließlich in diesem Waisenhaus, wo er schon wieder dein Gefangener war. Bist du dir klar, was das heißt?«

»Ich … weiß nicht…«, sagte der kleine Mann zögernd.

»Der Hai wird dich in der Luft zerreißen!«, fuhr Black fort. »Und mich auch, weil er mich für dein Versagen verantwortlich macht!«

»Ich kann doch nichts dafür, dass …«

Black ließ den anderen nicht ausreden. »Natürlich kannst du etwas dafür, zum Henker! Du hättest die Gefangenen sorgfältiger bewachen lassen müssen. Und in der Wäscherei bist du ziemlich plump vorgegangen. War doch klar, dass Adler und die Chinesin gewarnt sind, wenn ihr draußen eine große Schießerei veranstaltet.«

»Sollten wir uns von diesen verfluchten Gelbhäuten mit ihren Stöcken, Ketten und Messern fertigmachen lassen?«

»Das hat keiner verlangt, Louis. Ihr hättet einfach nur geschickter Vorgehen und keine Feldschlacht veranstalten sollen. Was ich aber überhaupt nicht verstehe – weshalb bist du ohne Adler und Susu Wang zurückgekommen? Du weißt doch, dass der Hai die beiden haben will!«

»Wir konnten nichts mehr machen. Das Feuer hat sich unerwartet rasch ausgebreitet. Überall waren flüchtende Menschen und die Feuerwehr. Wenn wir die beiden zu schnappen versucht hätten, wäre die Gefahr zu groß gewesen.«

»Die Gefahr?« Black lachte rau und unecht. »Dadurch, dass du Adler und die chinesische Hure hast entwischen lassen, hast du uns erst in Gefahr gebracht. Er ist die größte Gefahr!«

Er blickte an die Decke.

Bremer verstand sofort, wen der andere meinte. Der kleine Mann zwang sich zu einem Grinsen, das optimistisch wirken sollte, aber verunglückt ausfiel.

»Du wirst ihm die Sache schon erklären, Henry. Du kommst doch so gut mit ihm aus.«

Henry Blacks Antwort bestand in einer Explosion seines Körpers. Der schwere, massige Mann bewegte sich mit einer Gewandtheit, die angesichts seiner Leibesfülle für Bremer völlig überraschend kam. Der Geschäftsführer holte mit der Rechten schwungvoll aus und schlug den Handrücken in das Rattengesicht.

Die Wucht des unerwarteten Schlages ließ Bremer quer durchs Zimmer taumeln. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Die Melone war längst von seinem Kopf gerutscht.

Als der kleine Mann auf dem Holzboden lag, fühlte sich seine rechte Wange, wo ihn Blacks Hand getroffen hatte, erst vollkommen taub an. Die Taubheit verschwand schnell und machte einem schmerzhaften Brennen Platz.

In Bremers Mund machte sich ein seltsam süßlicher Geschmack breit. Der Geschmack von Blut. Blut rann auch aus dem rechten Nasenloch, am Mundwinkel vorbei am Kinn herunter und tropfte auf das ehemals weiße, inzwischen mehr graue Hemd.

Black baute sich vor dem am Boden liegenden Mann auf und brüllte: »Du verdammte kleine Ratte! Was glaubst du, wen du vor dir hast? Meinst du, nur weil der Hai den Ton angibt, singt Henry Black bloß noch im Chor? Ich lasse mich doch nicht vom Hai zerfetzen, nur weil du zu feige bist, einen jungen Dutch und ein Schlitzaugen-Girl zu fangen! Von dir lasse ich mich nicht hereinlegen!«

Er beugte sich zu Bremer hinunter, die gewaltigen Hände zu Klauen verformt. Er wollte sie um Bremers dürren Hals legen und dem Rattengesichtigen zeigen, wie schnell er, Henry Black, dem Leben des Unterführers ein Ende bereiten konnte.

Doch er kam nicht dazu. Bremer war schneller und zog seinen sechsläufigen Pepperbox-Revolver aus einer Jackentasche. Als Black in die sechs dunklen Mündungen blickte, hatte der andere auch schon mit gefährlichem Klicken den Hahn gespannt.

»Du fasst mich nicht noch mal an, Henry, nicht auf diese Weise!«, keuchte Bremer und stieß die Pepperbox so weit vor, bis sie sich dicht vor dem feisten Gesicht des Geschäftsführers befand. »Schlag mich nur noch einmal, Henry. Würg mich nur. Und liebend gern schicke ich dich in die Hölle. Da hilft dir auch kein Hai!«

Blacks Hände befanden sich in unmittelbarer Nähe von Bremers Hals. Der wuchtige Mann hätte nur zudrücken müssen, um die Lebensluft aus dem Körper des anderen zu pressen.

Aber so wütend Black auch war, er erkannte, dass solch eine Aktion nicht Bremers Ende, sondern sein eigenes gewesen wäre. Der Mann mit dem Rattengesicht hätte allemal die Zeit gefunden, um den Abzug durchzuziehen und Black mit einem Stück heißen Bleis zu spicken.

Ganz langsam zog sich Black zurück und richtete sich auf. Schweiß stand auf seinem roten Cholerikergesicht. Sein Atem ging schnell und rasselnd.

»Gut so«, bellte Bremer und hielt die Pepperbox weiterhin auf Black gerichtet. »Aber noch nicht gut genug. Geh zurück, Henry, bis zum Schreibtisch!«

Langsam ging der wuchtige Mann rückwärts, bis er gegen die Kante der Schreibtischplatte stieß.

Bremer stand auf, den Revolver in der Rechten. Die Linke wischte über die misshandelte Gesichtshälfte. Unwillig betrachteten die kleinen Augen des kleinen Mannes das an seiner Hand klebende Blut.

»Steck endlich das Schießeisen weg, Louis«, forderte Black und klang dabei seltsam heiser. »Ich habe für einen Augenblick die Nerven verloren. Ich gieße uns was zu trinken ein, und dann reden wir über die Sache. In Ordnung?«

»Ich weiß noch nicht, ob es in Ordnung ist.«

Bremers Daumen ließ den gespannten Hahn langsam zurückgleiten. Aber der kleine Mann traf keine Anstalten, den Revolver wegzustecken.

»Zur Sicherheit halte ich mich an meiner Pfefferbüchse fest. Du hast doch nichts dagegen, Henry?«

»Nein«, raunzte dieser, aber seine verkniffenen Züge verrieten das Gegenteil. »Wenn du meinst, dass du das brauchst, Louis.«

»Allerdings, das meine ich.«

Weder Bremers Stimme noch seine Haltung verrieten auch nur einen Anflug von Versöhnlichkeit.

Blacks dicke Finger zitterten, als er ein zweites Glas neben sein eigenes stellte und beide füllte.

Das Zittern entsprang mehr seiner unterdrückten Wut als der Angst vor Bremer und seiner Pepperbox. Black war wütend auf Bremer und auf sich selbst.

Vor Kurzem noch hatte der Geschäftsführer gehofft, in Bremer einen Verbündeten zu finden. Er brauchte Verbündete, um den Hai zu entmachten. Er wollte doch nicht immer nur die zweite Geige spielen. Black hatte das Golden Crown groß gemacht. Black wollte auch wieder der alleinige, der oberste Chef sein.

Aber nach diesem Vorfall durfte er kaum damit rechnen, dass Bremer sich auf seine Seite stellte.

Er nahm beide Gläser auf und reichte eines dem Mann mit dem sechsläufigen Revolver. »Hier, Louis, lass uns auf unsere Versöhnung trinken!«

Zögernd trat Bremer näher und griff mit der Linken nach dem Glas. Die Rechte umklammerte noch immer den Revolvergriff.

Die beiden Männer leerten ihre Gläser mit wenigen Zügen.

»Ah, jetzt geht’s mir schon besser«, seufzte Bremer und stellte das Glas zurück auf den Schreibtisch.

Die Läufe der Pepperbox zeigten nicht mehr auf Black, sondern auf den Boden. Bremer war sehr empfänglich für Alkohol, besonders für exzellenten Brandy. Darauf hatte Black gesetzt.

»Hör zu, Louis, wir beide müssen das Beste aus der verfahrenen Sache machen«, sagte er in einem bewusst kameradschaftlichen Tonfall. »Weiß der Hai, dass du mit deinen Männern zurückgekehrt bist?«

»Nein. Woher auch?«

Black warf einen respektvollen Blick an die Decke und erwiderte: »Er hat von vielen Dingen Ahnung, die er gar nicht wissen dürfte. Die er eigentlich gar nicht wissen kann!«

Bremer grinste unverschämt und schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht schlau aus dir, Henry. Manchmal wirkst du ganz wie der große Geschäftsmann, und dann wieder bist du abergläubisch wie ein Nigger. Für was hältst du den Hai? Für eine Art Geist oder so etwas?«

Black dachte daran, dass der Hai sich immer über alles informiert zeigte. Auch über die Dinge, die er eigentlich gar nicht wissen konnte, weil es doch Blacks Aufgabe war, ihn auf dem Laufenden zu halten. Unheimlich war auch Busters Erscheinen gewesen, als Black Susu Wang vergewaltigen wollte. War das wirklich nur ein Zufall gewesen?

»Ich weiß nicht«, beantwortete Black die Frage des anderen mit dem Unbehagen eines Mannes, der vor einer dunklen Höhle steht und sie durchqueren muss, aber die in ihr lauernde Gefahr nicht kennt. »Ich weiß nur, dass man im Umgang mit dem Hai nicht vorsichtig genug sein kann.«

»Verdammt, wir arbeiten doch für, nicht gegen ihn!«

»Gerade dann sollte man vorsichtig sein«, versetzte Black. »Einige, die für den Hai gearbeitet haben, schwimmen jetzt irgendwo in der Bucht. Ziemlich tief, weil dicke Steine an ihnen hängen.«

Bremer schielte verdächtig nach der Brandy-Flasche. Black goss ihm noch einen Doppelten ein, um ihn bei Laune zu halten.

Der Geschäftsführer selbst hielt sich allerdings zurück. Er hatte das Gefühl, in dieser Nacht noch einen kühlen Kopf zu benötigen.

»Sieh zu, dass du mit deinen Männern wieder wegreitest, Louis. Bevor der Hai euch bemerkt. Findet Adler und die chinesische Hure. Bringt sie her, schnell!«

Der Brandy hatte den Blutgeschmack aus Bremers Mund vertrieben und ihn mit dem anderen Mann weitgehend versöhnt.

Er steckte den Revolver weg, klaubte die Melone auf und murmelte: »Ist ja schon gut, Henry. Diesmal entkommen sie uns nicht. Wir reiten sofort in die Bolton Street, wo dieses verfluchte Waisenhaus steht – oder stand. Vermutlich hat das Feuer nicht viel von ihm übrig gelassen.«

»Beeilt euch!«, forderte Black.

Als Bremer gegangen war, hieb der massige Mann mit solcher Wucht auf den Schreibtisch, dass Bremers leeres Glas umstürzte, von der Platte rollte und auf dem Boden klirrend zersprang.

Eine ganz Reihe von Flüchen ausstoßend, trat Black wieder ans Fenster. Was er draußen sah, entlockte ihm einen weiteren, ziemlich deftigen Fluch.

Der Himmel war in der Zeit, während er sich mit Bremer abgegeben hatte, viel heller geworden. Aber nicht, weil der Morgen graute. So weit war es noch nicht. Der Grund war das Feuer, das sich mit ungeahnter Schnelligkeit ausbreitete.

Dieser Idiot von Louis Bremer!

Er hatte Chinatown abfackeln wollen. Aber jetzt sah es so aus, als hätten er und seine Männer ganz Frisco dem Untergang geweiht. Unaufhaltsam wälzte sich die Feuerfront dem Stadtzentrum entgegen, dem Portsmouth Square und dem Golden Crown.

Quelle:

• Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 21. Bastei Verlag. Köln. 02.04.2019