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Aus dem Wigwam – Tutockänula

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Vierzig Sagen
Mitgeteilt von Chingorikhoor

Tutockänula

s ist schon sehr lange her, dass die Kinder der Sonne ihren Wohnsitz im Yosemite-Tal aufschlugen und sich der Wohltaten erfreuten, mit denen sie Tutockänula, der auf einem hohen Bergrücken wohnte, segnete. Er hütete die unzähligen Herden in den oberen Ebenen und trieb die Bären aus ihren Felsenhöhlen, damit sie der brave Jäger leicht erlegen konnte. Wenn er im Namen seiner geliebten Indianer zum Großen Geist betete, so fehlte dem Korn weder der erfrischende Regen noch die reifenden Sonnenstrahlen. Wenn er lachte, so kräuselte sich die silberne Oberfläche der Flüsse, und wenn er seufzte, so sangen die jungen Zweige im Wald.

Seine Gestalt war so gerade wie ein Pfeil und so geschmeidig wie ein Bogen. Sein Fuß war schneller als der des Rehs und seine Augen waren hell wie die Sonne.

Nun geschah es eines Tages, dass er, als er sein schönes Reich überblickte, auf einem hohen Granitfelsen eine liebliche Mädchengestalt sitzen sah. Ihr Haar war nicht rabenschwarz wie das der Jungfrauen im Tal, sondern hing

in goldgelben Locken auf ihre zierlich geformten Schultern herab. Ihre Augen glichen dem tiefblauen Abendhimmel in den entfernten Gebirgen zur Zeit des Sonnenuntergangs. An ihren Schultern hatte sie wolkenähnliche Flügel und ihre Stimme erklang gleich zärtlichem Vogelgesang.

»Tutockänula!«, lispelte sie.

Augenblicklich machte sich dieser auf, zu ihr hinaufzuklettern. Doch plötzlich trübten zarte Schneeflocken, die der Wind vom Gebirge geweht hatte, seine Augen. Als er sie wieder ausgewischt hatte, war die bezaubernde Jungfrau spurlos verschwunden.

Nun suchte er jeden Morgen ihren Wohnsitz auf und brachte jedes Mal süße Nüsse und blühende Blumen mit. Er hörte ihren Schritt, obwohl er nicht mehr Geräusche als ein fallendes Blatt machte. Er sah ihre schöne Gestalt und ihre sanften Augen, aber sie sprach nie mehr zu ihm.

Tutockänula liebte sie. Da er Tag und Nacht an sie dachte, so vergaß er alles andere um sich her. Die Blumen verwelkten, denn es fiel kein Regen mehr. Die Bienen fanden keine Nahrung mehr und ihre Zellen in den hohlen Bäumen standen leer. Aber Tutockänula merkte es nicht und bekümmerte sich auch nicht weiter darum. Doch das Mädchen sah das Unheil und bat den Großen Geist, die Bäume und Blumen wieder wachsen zu lassen und die Ebenen mit fetten Tieren zu beleben.

Gleich darauf öffnete sich der Granitfelsen unter ihr mit furchtbarem Donnern und die Schneeberge schmolzen und bewässerten das Tal. Das Korn wuchs, die Blumen blühten wieder und schickten dankbar ihren Wohlgeruch der schönen Wohltäterin entgegen.

Als sie danach ihre Flügel zur Abreise schwang, wurde das Ufer des Spiegelsees, den sie geschaffen hatte, mit Flaumfedern überschüttet, woraus später weiße Blumen wurden. Der in der Nähe stehende, mehrere tausend Fuß hohe Berg wurde zu ihrem Andenken mit dem Namen Tissääk belegt.

Als Tutockänula sah, dass sie nicht mehr zurückkehrte, verließ er sein Berghaus, um sie zu suchen. Vorher aber schnitt er mit einem Messer das Bild seines Kopfes in den Felsen, der heute noch seinen Namen trägt.