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Review: Grenzgänger

Alfred Wallon
Grenzgänger
Eine Horror-Kurzgeschichte
Erstveröffentlichung auf dem alten Geisterspiegel am 15. Januar 2007

Als Hauser auf den Bauernhof fuhr, wusste er, dass er fündig werden würde. Im Lauf der Zeit hatte er ein Gespür dafür bekommen. Er brauchte nur kurz seine Blicke schweifen zu lassen, um sofort zu erkennen, dass neben der alten Scheune einiges an Gerümpel stand. Alles sah nach einem guten Tag für ihn aus.

»Sieh mal an!«, erklang auf einmal die Stimme des alten Bauern, der aus dem Haus trat, als er Hausers Transporter ankommen sah. »Du hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen, Hauser.«

»Man kommt halt viel rum«, grinste Hauser, nachdem er den Motor abgestellt hatte und ausgestiegen war. »Deswegen dachte ich, dass ich mal wieder bei dir vorbeischaue, Bauer. Und wie ich sehe, wird es auch höchste Zeit.«

Während die letzten Worte über seine Lippen kamen, wies er hinüber in Richtung Scheune. Der Bauer bemerkte das und nickte nur.

»Nimm den ganzen Krempel ruhig mit«, gestand er ihm dann zu. »Wird ohnehin höchste Zeit, dass da hinten mal ordentlich aufgeräumt wird.«

»Da hast du recht«, pflichtete ihm Hauser grinsend bei. »Dann will ich mich gleich mal an die Arbeit machen.«

»Ich hab drüben im Stall noch zu tun«, erwiderte der Bauer. »Ruf mich einfach, wenn du fertig bist.«

Hauser versprach ihm das. Während der alte Bauer hinüber zum Stall ging, fuhr Hauser seinen Transporter direkt zur Scheune und stellte ihn dort ab. Dann öffnete er die Ladeklappen und ging ans Werk. Was er dann im Gerümpel fand, ließ sein Herz höherschlagen.

Da waren jede Menge Eisenteile, zwei alte verbogene Fahrräder und sogar ein alter Motorblock. Keine Ahnung, wie der hierhergekommen war – aber für Hauser war er immer noch gut genug, um ihn mit Gewinn weiter verkaufen zu können.

Es war eine schweißtreibende Arbeit, aber sie lohnte sich. Er war so sehr beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie der Bauer in der Zwischenzeit zurück aus dem Stall gekommen war und offenbar schon einige Augenblicke Hauser bei seiner Schufterei beobachtet hatte.

»Was machst du nur mit dem ganzen alten Schrott?«

Die Stimme des grauhaarigen Bauern klang skeptisch, als er kopfschüttelnd zusah, wie Paul Hauser noch mehr alte Eisenteile auf die Ladefläche des Transporters hievte und sich dann seufzend den Schweiß von der Stirn wischte.

»Es gibt Geld dafür«, grinste er. »Was glaubst du denn, warum ich das sonst mache? Irgendwie muss man ja was verdienen. Ich hab´s nicht so gut wie du.«

»Gut?« Der Bauer spuckte einen Strahl bräunlichen Tabaksaft aus. »Ich muss genauso hart dafür arbeiten wie jeder in dieser Gegend. Und mein Junge ist im Krieg gefallen – drüben an der Ostfront. Ich kann´s immer noch nicht verstehen. Auch wenn es schon sieben Jahre sind, seit …«

»Es sind harte Zeiten, Bauer«, winkte Paul Hauser ab und arretierte die seitlichen Ladeklappen. »Aber bestimmt kommen wieder bessere Tage. So, jetzt wird es Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Bis es dunkel ist, will ich alles erledigt haben.«

»Sieht nach Regen aus«, meinte der Bauer mit einem Blick zum wolkenverhangenen trüben Himmel. »Heute wirst du wohl keine großen Geschäfte mehr machen können, Hauser. Wenn es erst zu regnen anfängt, dann bleiben die Leute in ihren Häusern. Da interessiert sich niemand mehr für altes Eisen und Schrott!«. Der Bauer zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »An deiner Stelle würde ich mir einen sicheren Platz suchen, bevor es dunkel wird.«

»Warum?«

»Es hat in der letzten Zeit ein wenig Ärger gegeben, Hauser. Drüben von der tschechischen Seite her kommt eine Menge Gesindel herüber. Die stehlen wie die Raben, wenn man nicht auf sein Hab und Gut aufpasst.«

»Ich wüsste nicht, was diese Kerle mit alten Eisenteilen anfangen sollten«, fiel ihm Hauser ins Wort. »Man soll das alles nicht so ernst nehmen.«

»Du musst ja hier nicht leben«, fügte der Bauer stirnrunzelnd hinzu. »Dann wüsstest du, was ich meine. Pass auf dich auf, Hauser. Die Zeiten sind schlecht. Zumindest was das zwielichtige Gesindel angeht.«

»Das klappt schon irgendwie«, schmunzelte Hauser. »Die Leute in den Dörfern hier sind doch froh darüber, dass ich das alte Zeugs mitnehme. Für mich ist das fast so, als ob ich jeden Tag eine gute Tat vollbringe. Und in Waldkirchen habe ich das auch vor.«

Er hielt inne, als er bemerkte, wie der Bauer zusammenzuckte und ein wenig blass im Gesicht wurde.

»Was ist denn mit dir auf einmal los?«, wollte er wissen, weil ihm nicht klar war, warum sich der Mann auf einmal so seltsam benahm.

»Nichts«, kam es etwas zu schnell über seine Lippen. »Bei diesem Wetter sollte man einfach nicht dorthin fahren. Manchmal geschehen Dinge, die man nicht vorausahnt. Ich mach dir ´nen Vorschlag, Hauser. Du kannst auch bei mir übernachten, wenn du willst. Ich hab oben noch eine kleine Kammer. Da hat der alte Knecht mal gewohnt und …«

»Nein danke«, fiel ihm Hauser ins Wort. »Für heute ist noch kein Feierabend in Sicht. Ich habe noch einiges zu tun. Du kennst doch die alte Bauernweisheit: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Also dann bis bald – und mach dir keine Sorgen um mein Wohl. Unkraut vergeht bekanntlich nicht.«

Er schmunzelte bei den letzten Worten, bevor er sich abwandte und ins Führerhaus des kleinen Transporters stieg. Dabei winkte er dem Bauern noch ein letztes Mal zu, bevor er den Motor startete. Die Maschine stotterte beim Anlassen, und aus dem Auspuff schoss eine schwarze Qualmwolke. So rasch und unerwartet, dass der Bauer rasch einen Schritt zur Seite trat.

Aber Hauser kannte die Macken des alten Transporters zur Genüge. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Motor wieder ruhig lief. Dann gab er Gas und fuhr vom Hof.

Er war froh, dass er wieder allein war. Das Geschwätz des alten Bauern ging ihm auf den Geist. Der Mann versank beinahe in seinem eigenen Selbstmitleid und seltsamen Ängsten, die ihn ergriffen hatten. Wäre Hauser noch länger auf dem Hof geblieben, dann hätte ihm der Alte wahrscheinlich irgendwelche Schauer- und Geistergeschichten erzählt, vor denen sich die Menschen hier fürchteten.

Wahrscheinlich war die Einsamkeit des abgelegenen Hofes daran schuld. Denn der verlorene Krieg hatte viele Menschen gebeutelt und nicht wenigen die Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft genommen. Aber es nützte nichts, in dieser Situation den Kopf in den Sand zu stecken und einfach auf bessere Zeiten zu hoffen. Die kamen bekanntlich nicht von selbst, sondern man musste etwas dafür tun.

Paul Hauser gehörte zu denjenigen, die das rechtzeitig begriffen und sich rasch auf die veränderten Bedingungen eingestellt hatten. Als die ersten US-Truppen ins Land kamen, war er einer der ersten gewesen, die die Soldaten freudig begrüßt hatten.

Nur wenige Wochen später hatte er es geschafft, sich mit einigen Soldaten und Offizieren anzufreunden und ihnen zu helfen, das eine oder andere zu organisieren. Und so was vergaßen die Soldaten nicht. Sie halfen Hauser, auf die Beine zu kommen, und verschafften ihm dafür den einen oder anderen Gelegenheitsjob.

Während dieser Zeit hatte Hauser sein Talent entdeckt, scheinbar nutzlose Dinge aufzuspüren und mit Gewinn an die richtigen Leute zu verkaufen. So war er Schrotthändler geworden – und das sogar mit guten Perspektiven. Er hatte sein Auskommen, und er kam viel herum. In manchen abgelegenen Orten nahe der tschechischen Grenze war er sogar oft der einzige, der Neuigkeiten von draußen berichten konnte …

 

*

 

Hauser lenkte den alten Transporter über die holprige Landstraße in Richtung Waldkirchen. In dieser ländlichen Gegend waren die Straßen schmal und kurvig. Und die Spuren der allgegenwärtigen Panzer der Amerikaner hatten dem Belag ziemlich zugesetzt.

Hauser wurde des Öfteren ziemlich durchgeschüttelt, wenn der Wagen durch ein Schlagloch fuhr. Aber das nahm er alles in Kauf. Weil er wusste, dass er in Waldkirchen noch das eine oder andere Geschäft machen konnte. Und was das immer trüber werdende Wetter anging – das interessierte ihn nicht im Geringsten. Er hatte seine eigenen Methoden, um die Leute dazu zu bringen, dass sie Zeit für ihn hatten.

Der Himmel wurde immer trüber, und in diesem Moment klatschten die ersten vereinzelten Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Nur wenige Minuten später goss es wie aus Kübeln. So heftig, dass man den Verlauf der schmalen Landstraße kaum noch sehen konnte.

Hauser fluchte, weil er trotz der eingeschalteten Scheibenwischer nicht viel sehen und deshalb sehr langsam fahren musste. Der alte Bauer hatte recht gehabt mit dem schlechten Wetter. Aber dass es so stark regnen würde – wer hätte denn mit so was gerechnet?

Jetzt fing es auch noch zu donnern und zu blitzen an! Der wolkenverhangene Himmel war für Bruchteile von Sekunden auf einmal so grell, dass Hauser unwillkürlich die Augen schließen musste. Dann ertönte auf einmal ein gewaltiger Donnerschlag, der Hauser Sorgen bereitete.

Er musste langsamer fahren, als die Regenschleier noch heftiger gegen die Windschutzscheibe prasselten. Noch Waldkirchen war es nicht mehr weit. Aber wenn sich dieser heftige Wolkenbruch nicht bald verzog, würde er noch eine gute Stunde brauchen, bis er sein Ziel endlich erreicht hatte.

Bei diesem Hundewetter wird kaum einer auf der Straße sein, sinnierte Hauser, während er das Steuer mit beiden Händen festhielt und die Augen auf die regennasse kurvige Straße richtete. Verdammt, das wird doch kein guter Tag heute. Ich hätte auf den Bauern hören und sein Angebot annehmen sollen.

Dann sah er auf einmal das Hindernis – direkt hinter einer unübersichtlichen schmalen Kurve. Zwei Bäume, die von der Wucht des heftigen Sturms einfach umgeknickt worden waren und nun auf der Straße lagen.

Geistesgegenwärtig trat Hauser auf die Bremse. So heftig, dass der alte Transporter auf der nassen Straße ins Schlingern geriet und nach rechts ausbrach. Aber Hauser konnte zum Glück noch richtig reagieren und schaffte es, den Wagen wieder unter Kontrolle bekommen.

Die Räder standen still – nur wenige Meter von den umgestürzten Bäumen entfernt. Hauser fluchte, als er hinaus in den Regen blickte und begriff, dass er jetzt und hier nicht mehr weiterkam. Es waren gewaltige Fichten, die der Wind einfach wie Streichhölzer mitsamt den Wurzeln ausgerissen hatte. Er allein würde dieses Hindernis niemals aus dem Weg schaffen können.

Während der Regen weiterhin mit monotonem Prasseln auf den Transporter klatschte, machte sich Hauser am Handschuhfach zu schaffen und holte eine Straßenkarte von dieser Gegend heraus, die er immer bei sich hatte. Sie stammte noch aus der Zeit des Krieges, und die neuen Grenzen waren darauf noch nicht eingezeichnet. Auf dieser Karte gehörte die Tschechei noch zum Großdeutschen Reich.

Hauser warf einen Blick darauf und suchte nach einem anderen Weg nach Waldkirchen. Aber wie er es schon befürchtet hatte – dies hier war die einzige offizielle Straße. Ihm blieb nur noch die Möglichkeit, sein Ziel über Feld- und Waldwege zu erreichen. Aber bei diesem entsetzlichen Wetter würde das wahrscheinlich große Probleme bereiten.

»Trotzdem – ich muss es versuchen …«, murmelte Hauser, während sein Blick den Markierungen auf der Karte folgte. Dort war ein Waldweg eingezeichnet, der direkt vor Waldkirchen endete. Gar nicht weit von hier! Ihm blieb nur diese eine Chance, wenn er nicht umkehren wollte. Dies hätte auch bedeutet, dass er dem alten Bauern hätte recht geben müssen. Hauser hatte aber viel zu viel Stolz, als dass er diese Blöße eingestanden hätte.

Er wendete den alten Transporter mit einiger Mühe auf der schmalen Straße und fuhr dann ein Stück zurück. Ungefähr 500 Meter entfernt entdeckte er dann den Waldweg.

»Das hier muss es sein«, sagte er und grinste, weil er trotz dieses elenden Unwetters die Orientierung nicht verloren hatte. Aber so war Paul Hauser eben. Er machte aus jeder Situation das Beste – egal, ob ihn die anderen deshalb für verrückt hielten.

Die Reifen drehten im Schlamm des Waldweges kurz durch, als Hauser die Straße verließ. Aber das glich er sofort wieder aus, indem er im richtigen Augenblick etwas mehr Gas gab. Kein Problem für einen erfahrenen Burschen wie ihn!

Der Wald war an dieser Stelle besonders dicht und erst recht unübersichtlich. Jenseits des schmalen Weges wuchsen dunkle Fichten und Kiefern in den wolkenverhangenen, trüben Himmel empor. Und das Unterholz war völlig überwachsen mit Farnen und Büschen jeglicher Art. Man konnte nur ahnen, wie weit sich das alles erstreckte. Waldarbeiter würden es gewiss nicht leicht haben, jeden Tag in diesem Dickicht zu schuften, damit sie wenigstens etwas Geld mit nach Hause brachten, um die hungrigen Mäuler ihrer Familien zu stopfen.

Hausers Gedanken brachen ab. Statt dessen konzentrierte er sich auf den Waldweg. Und das musste er wirklich, denn der Weg war alles andere als einfach zu befahren. Durch den heftigen Regen war der Boden aufgeweicht, und große Pfützen hatten sich gebildet, von denen Hauser nur ahnen konnte, wie tief sie eigentlich waren.

Aber es gab keinen anderen Weg nach Waldkirchen. Zumindest nicht heute – und bis morgen wollte er nicht warten. Er erinnerte sich wieder an den Metzger des kleinen Dorfes, der in einem Schuppen ein altes Motorrad stehen und ihm versprochen hatte, dass er dieses nutzlose Gerümpel bei seiner nächsten Tour mitnehmen könne. Angeblich war es nur noch Schrott – aber Hauser hoffte im Stillen darauf, dass er es wieder instand setzen und dann mit Gewinn weiterverkaufen konnte. In solchen Dingen war er nämlich ziemlich geschickt. Und er wusste auch schon jemandem, dem er das Motorrad anschließend verkaufen konnte.

Genau in diesem Moment ging ein heftiger Ruck durch den gesamten Transporter. Die linke Seite sackte auf einmal ab, und die Räder drehten durch. Hauser ahnte das Unheil und trat sofort das Gaspedal durch. Aber der Wagen fuhr nicht mehr weiter. Er steckte fest – mitten in einem Schlammloch, das Hauser für eine harmlose Pfütze gehalten hatte.

Sofort zog Hauser die Handbremse an, riss die Wagentür aus und stieg hastig ins Freie. Der kalte Wind peitschte ihm die Regenschleier ins Gesicht – aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Seine ganze Sorge galt den beiden Vorderrädern, die halb im Schlammloch versunken waren. Das sah nicht gut aus!

»Auch das noch«, seufzte Hauser, als er seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet sah. Aber er konnte und wollte sich nicht damit abfinden. Deshalb stieg er rasch wieder ins Führerhaus und versuchte noch einmal, den sprichwörtlichen Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Erdbrauner Schlamm spritzte zu beiden Seiten hoch empor. Die Räder drehten sich, aber das war auch schon alles. Der Transporter ruckte nur ein wenig, während der Motor laut aufheulte. Es änderte aber nichts mehr an der Tatsache, dass Hauser festsaß.

Mit einem resignierenden Seufzen stellte er den Motor ab und versuchte erst einmal, einen klaren Gedanken zu fassen. Draußen regnete es immer noch, und das heftige Klatschen der Tropfen verursachten Hauser fast Kopfschmerzen. Auch wenn er nur kurz ausgestiegen war, so hatte das schon ausgereicht. Jacke, Hemd und Hose waren feucht, und er begann zu frieren.

Automatisch griff er nach der dicken Jacke, die auf dem Beifahrersitz lag und zog sie sich rasch über. Das vertrieb wenigstens zum Teil die Kälte.

Jetzt war guter Rat teuer. Mit dem Transporter kam er nicht mehr weiter – aber er hatte auch keine Lust, die Nacht im dichten und undurchdringlichen Wald zu verbringen. Seltsamerweise fielen ihm jetzt wieder die Worte des alten Bauern ein, der von zwielichtigem Gesindel gesprochen hatte. Kerle, die bei Nacht und Nebel über die Grenze kamen und hier ihr Unwesen trieben. Denen wollte er nun wirklich nicht in die Hände fallen, sonst würde er ganz sicher den Kürzeren ziehen.

Zum Glück begann der Regen allmählich nachzulassen. Eine knappe Viertelstunde später fielen nur noch vereinzelte Regentropfen. Das gab den Ausschlag für Hauser, jetzt auszusteigen und sich zu Fuß auf den Weg nach Waldkirchen zu machen. Egal wie lange das dauern mochte. Aber es war immer noch besser, als hier in der Einsamkeit des dämmrigen Waldes auszuharren.

 

*

 

Die Schuhe waren bereits nach wenigen Metern völlig verschmutzt von dem Schlamm. Darauf konnte Paul Hauser aber keine Rücksicht nehmen. Auch wenn es ein unangenehmes Geräusch war, wenn er durch den Matsch stapfte und verzweifelt versuchte, so rasch wie möglich trockenes Gelände zu erreichen.

Er atmete auf, als er den Schlamm des Weges hinter sich ließ und endlich auf festerem Boden stand. Noch einmal blickte er hinüber zu seinem Transporter, dessen Räder sich in den Boden gewühlt hatten. Hauser musste Hilfe aus Waldkirchen holen, um sein Auto wieder flott zu machen. Er erinnerte sich daran, dass es am Ortsrand eine kleine Werkstatt gab. Die war jetzt sein Ziel.

Für einen winzigen Moment dachte er daran, was unter Umständen geschehen würde, wenn er den Wagen hier zurückließ. Wenn sich hier wirklich dieses Gesindel herumtrieb, von dem der alte Bauer erzählt hatte, dann würden sie alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest war. Aber was sollte Hauser denn dagegen unternehmen? Am vernünftigsten war das, zu dem er sich entschlossen hatte. Nämlich zu Fuß nach Waldkirchen zu gehen!

Mittlerweile war das Licht etwas trüber und dämmriger geworden. Es war schon später Nachmittag, und bald würde es ganz dunkel werden. Hauser ging unwillkürlich ein wenig schneller, weil ihm der Gedanke auf einmal nicht gefiel, um diese Zeit noch durch den Wald zu gehen.

Eigentlich konnte er sich selbst nicht erklären, welche seltsamen Gedanken ihm auf einmal durch den Kopf gingen. Es war ein eigenartig schutzloses Gefühl, das ihn von einem Augenblick zum anderen erfasst hatte. Als wenn er beim Aussteigen aus dem Transporter eine sichere Festung verlassen hatte und nun auf Gedeih und Verderb den im Hinterhalt lauernden Feinden ausgeliefert war.

So ein Unsinn!, kam es ihm in den Sinn. Das sind bestimmt meine aufgekratzten Nerven – sonst nichts. Ich muss nur ein paar Schritte zulegen, dann bin ich schon bald in Waldkirchen. Ist ja schon eine ziemlich trübe Umgebung hier …

Das war noch untertrieben. Die alten Kiefern und Fichten, die in den grauen Himmel emporragten, wirkten wie Monumente aus einer anderen Zeit und einer Region, die eines Menschen Fuß noch niemals zuvor betreten hatte. Die Wipfel der hohen Bäume wurden vom einsetzenden Abendwind ziemlich hin- und herbogen, und Hauser musste den Kragen seiner Jacke ziemlich rasch hochschlagen, weil er zu frieren begann.

Aber wenigstens hat es aufgehört zu regnen, redete er sich selbst Mut zu, während er entschlossen rasch weiter ging. Er schaute jetzt nicht mehr zurück, sondern konzentrierte sich auf den Weg, der noch vor ihm lag. Während dessen war das Licht immer trüber geworden. Die Sonne war längst hinter den bewaldeten Hügeln auf der anderen Seite der Grenze untergegangen.

Allmählich breiteten sich die ersten Schatten der Abenddämmerung aus. Gefolgt von einigen zaghaften Nebelschleiern, die sich zwischen den Bäumen bildeten und das ohnehin schon düstere Bild noch ein wenig verstärkten.

Hausers Schuhe waren mit Schlamm und Erde verkrustet, als er kurz hinunterblickte, um einer weiteren Pfütze auszuweichen. Ein Ast knackte unter seinen Füßen, und dieses Geräusch klang in der Stille des Waldes irgendwie seltsam eindringlich.

Eigenartigerweise war dieses Geräusch auch das Einzige, was Hauser überhaupt hören konnte. Das Gezwitscher von Vögeln, die normalerweise hoch oben in den Wipfeln der alten Bäume ihr Lied trällerten, war gar nicht zu vernehmen. Als wenn der ganze Wald von jeglichen Tieren entvölkert war. Ein komischer Gedanke, der Hauser ziemlich beschäftigte, während er weiter ging.

Die Dämmerung wurde jetzt immer stärker. Bereits jetzt schon hatte er Mühe, sich zu orientieren und die eingeschlagene Richtung auch einzuhalten. Was gar nicht so einfach war, denn gut zwanzig Meter weiter gabelte sich der Weg. Nun war guter Rat teuer, denn so gut kannte sich Hauser in dieser Gegend nun doch nicht aus, um sofort die richtige Richtung einzuschlagen.

Für einen kurzen Moment blieb er stehen und kratzte sich verlegen am Kinn. Dann drehte er sich noch einmal um und schaute zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Seinen Transporter konnte er nicht mehr sehen – den hatte bereits der dichter werdende Nebel verschluckt. Und wo sich der Waldrand befand, das konnte er jetzt nur ungefähr ahnen.

Mach dir jetzt ja nicht in die Hose, warnte ihn seine Vernunft. Das sind doch nur alles dumme Kindheitsängste, die sich jetzt einschleichen. Du vermutest hinter jedem Baumstamm einen furchterregenden Gegner, der dir ans Leder will, nicht wahr? Mensch, sei kein Feigling, sondern geh rasch weiter! Sonst kommst du nie in Waldkirchen an.

Dieser Gedanke, für immer und ewig in diesem dunklen Wald herumirren zu müssen, war für Paul Hauser so beunruhigend, dass er sich spontan dazu entschied, der linken Abzweigung des Waldweges zu folgen. Denn der rechte Weg wirkte auf ihn klein und sehr holprig. Als wenn dort noch niemals ein Fahrzeug des Försters entlang gefahren war.

Der Weg führte an einer Kiefernschonung vorbei, die von einem alten Zaun umgeben war, der teilweise schon einige Löcher aufwies. Er musste dringend geflickt werden, wenn das Wild auf Dauer von diesem Platz auf Distanz gehalten werden sollte. Aber stattdessen wirkte alles so, als ob hier schon seit letztem Jahr niemand mehr etwas repariert hatte. Warum nur?

Hauser zuckte zusammen, als plötzlich irgendwo hoch über ihm der klagende Ruf eines Käuzchens erklang, dessen Echo irgendwie verzerrt klang. Seine Knie zitterten ein wenig, als er hinauf zu den Baumwipfeln schaute und der Ruf ein zweites Mal ertönte. Dieses Mal sogar noch ein wenig unheimlicher als beim ersten Mal.

Jetzt ging er doch ein wenig schneller, als er das ursprünglich vorgehabt hatte. Und dabei blickte er immer wieder verstohlen in die Kiefernschonung. Als wenn er Angst davor hatte, dass plötzlich aus dem Unterholz eine gefährliche Bestie heraussprang und ihn zu Boden riss.

Da! Auf einmal hörte er ein leises Rascheln aus der Richtung. Sofort blieb er stehen und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er sich hilflos wie ein kleines Kind nach etwas umschaute, mit dem er sich wenigstens zur Wehr setzen konnte. Aber da war nichts außer einigen dürren Zweigen und Ästen, die ihm wohl kaum den notwendigen Schutz bieten würden.

»Wer ist da?«

Hausers Stimme klang gereizt und ängstlich zugleich. Weil jetzt auf einmal wieder alles still blieb. Als hätte dieses Geräusch von vorhin niemals existiert. Aber dann hörte er es wieder – nur wenige Sekunden später. Und diesmal ganz in seiner Nähe, etwas mehr links.

Diese unsägliche Spannung war kaum zu ertragen. Hauser zitterte am ganzen Körper, weil er sich jetzt wieder an die Worte des alten Bauern erinnerte. Was wäre, wenn die Halunken von jenseits der Grenze sich ausgerechnet hier verborgen hielten und ihn die ganze Zeit schon beobachtet hatten? Nur um auf den richtigen Augenblick zu warten, bevor sie dann über ihn herfielen und ihn ausplünderten.

Vor einem Überfall hatte Hauser Angst, denn er hatte Geld bei sich. Im Schrotthandel bezahlte man immer bar, und deshalb war sein Geldbeutel für normale Verhältnisse gut gefüllt. Automatisch tastete er mit der rechten Hand danach und starrte gleichzeitig zum Unterholz hinüber. Als wenn er jede Sekunde damit rechnete, dass etwas Unvorhergesehenes geschah.

Das war dann auch so – allerdings anders als Hauser es erwartet hatte. Denn auf einmal verdichtete sich der Nebel an der betreffenden Stelle. Für wenige Sekunden zogen weißliche Schleier auf, die Hauser nur wenige Meter weit sehen ließen. Deshalb erkannte er zunächst nur die Konturen einer großen Gestalt, die jetzt mit langsamen Schritten zwischen den Büschen hervorkam.

»Halt!«, rief Hauser mit nervöser Stimme, als die schattenhafte Gestalt aus dem Nebel in sein Blickfeld trat. »Bleiben Sie stehen, sonst …«

Er hatte beide Fäuste emporgerissen und stand abwartend wie ein Boxer da, der jede Sekunde mit dem Angriff seines Gegners rechnete.

»Keine Angst«, erklang dann auf einmal eine dunkle Stimme. »Beruhigen Sie sich.«

Der Mann, der das gesagt hatte, war groß und schlank. Er trug einfache Kleidung, die schon bessere Tage gesehen hatte. Sein dunkler Mantel schützte ihn vor der Kälte der einsetzenden Nacht.

»Wer … wer sind Sie?«, entfuhr es Hauser, der immer noch ziemlich aufgeregt war. Weil er noch nicht wusste, was er von dem plötzlichen Auftauchen dieses Mannes halten sollte. Er wirkte irgendwie … anders. Ohne dass Hauser hätte sagen können, warum das so war. Vielleicht lag es auch an den dunklen Augen in dem etwas bleichen Gesicht, die Hauser sehr gründlich fixierten, während um die Lippen ein angedeutetes Lächeln spielte.

»Ich habe Sie wahrscheinlich erschreckt – entschuldigen Sie bitte«, sprach der Mann weiter. »Das wollte ich nicht. Aber ich habe gar nicht damit gerechnet, zu dieser späten Stunde hier draußen noch jemanden zu begegnen. Erst recht nicht bei diesem Hundewetter.«

Er bemerkte Hausers schlammverkrustete Schuhe. Was diesem ebenfalls nicht entging.

»Ich heiße Viktor«, nannte der große Mann jetzt seinen Namen. »Viktor Martinek. Ich wohne in Waldkirchen. Ich bin auf der Suche nach meinem Hund. Das verdammte Mistvieh hat sich von der Leine gerissen und ist einfach in den Wald gerannt. Haben Sie das Tier vielleicht gesehen? Ein schwarzer Schäferhund – ungefähr so groß.«

Mit der rechten Hand deutete er die Größe des vermissten Tieres an, bemerkte dann aber, dass Hauser nur mit den Achseln zuckte.

»Da kann ich wahrscheinlich lange suchen«, seufzte er mit einer resignierenden Geste. »Es ist immer das Gleiche. Kaum sieht der Hund einen Hasen – schon rennt er ihm nach. Und dann dauert es Stunden, bis er wiederauftaucht. Ich kann nur hoffen, dass er den Weg zurück auf den Hof findet. Ich werde jetzt aufhören mit der Suche. Man sieht ja kaum noch was.«

»Ich will auch nach Waldkirchen«, fügte Hauser rasch hinzu. »Auf der Hauptstraße liegen umgestürzte Bäume. Deshalb habe ich als Abkürzung den Waldweg genommen. Aber mein Transporter ist in einem Schlammloch stecken geblieben. Und da dachte ich eben, dass …« Er winkte seufzend ab. »Aber selbst das hat nicht geklappt. Ich habe das Gefühl, als wenn ich hier andauernd im Kreis gehe und nicht weiterkomme.«

»Sie sind wohl nicht von hier?«

»Nicht direkt«, erwiderte Hauser und erzählte Viktor Martinek, dass er Schrotthändler war und auf den umliegenden Dörfern nach Eisen und Altmetall Ausschau hielt.

»Da kommt man ziemlich rum«, nickte Martinek. »Na ja, am besten kommen Sie gleich mit. Bevor Sie sich noch weiter verirren. Das Dickicht ist an manchen Stellen so undurchdringlich, dass man völlig die Orientierung verliert. Und in dieser Richtung dort drüben werden Sie die nächsten zehn Kilometer nur Wald und Gestrüpp finden.«

Hausers Blicke gingen in die betreffende Richtung. Genau das wäre der Weg gewesen, den er eigentlich hatte einschlagen wollen. Was für ein Glück, dass ihm Viktor Martinek begegnet war. Sonst hätte er den falschen Weg genommen und wäre nie im Leben nach Waldkirchen gelangt.

Martinek schien zu ahnen, was Hauser durch den Kopf ging.

»Dann sollten wir uns jetzt am besten auf den Rückweg machen«, schlug er Hauser vor. »Der Hund wird hoffentlich auch den Weg finden. Es wäre schade, wenn …«

Er führte diesen Satz nicht zu Ende. Aber Hauser hatte auch so begriffen, was ihm der andere damit hatte sagen wollen. Deshalb war er umso erleichterter, durch einen Zufall Martinek getroffen zu haben. Der kannte sich wenigstens aus hier und würde ihn sicher an sein Ziel bringen.

 

*

 

Laub raschelte unter Martineks Füßen, als er plötzlich vom Weg abbog. Hauser blieb erstaunt stehen und zögerte noch ein wenig. Der Mann in dem dunklen Mantel bemerkte das natürlich und drehte sich jetzt zu dem Schrotthändler um.

»Wollen Sie hier Wurzeln schlagen?« Seine Stimme hatte einen leicht spöttischen Unterton.

»Das nicht, aber …« Hauser suchte nach den passenden Worten. »Ich dachte, dieser Weg hier führt direkt in das Dorf.«

»Das stimmt«, pflichtete ihm Martinek bei. »Wenn Sie ihm weiter folgen, werden Sie in ungefähr zwei Stunden in Waldkirchen sein. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie sich auskennen und gut zu Fuß sind. Dieser Weg hier ist eine Abkürzung. Zwar etwas mühsamer – aber wir werden dann trotzdem in einer guten Stunde am Ziel sein. Jetzt kommen Sie schon – ich bin hier geboren und kenne jeden Fußbreit Boden.«

Die Art und Weise, wie er das sagte, ließ schließlich die Zweifel in Hauser weichen. Schließlich sah Martinek nicht aus wie einer dieser Grenzgänger, vor denen ihn der alte Bauer gewarnt hatte. Stattdessen konnte er sich glücklich schätzen, dass er zu dieser späten Stunde einem Einheimischen begegnet war, der ihn sicher ans Ziel brachte.

»Ist schon gut«, nickte Hauser und folgte Martinek auf seinem eingeschlagenen Weg. Sie schritten jetzt über Boden, der dick mit Tannen- und Fichtennadeln bedeckt war, und Hausers Schuhe versanken darin halb. Aber es war gar nicht so schwer, wie Hauser zunächst gedacht hatte. Denn nur wenige Stunden später wurde der Boden zusehends härter, und sie kamen schneller voran.

Auch der dichte Nebel begann sich allmählich zu verziehen, und die trüben Wolken klarten auf. Der Mond trat hervor und übergoss den Wald mit seinem silbernen Licht. Das blasse Gesicht Martineks wurde auf besondere Weise gezeichnet, und seine dunklen Augen standen zumindest in diesen Sekunden in einem seltsamen Gegensatz dazu.

Hauser fiel das auf, sagte sich dann aber, dass er sich viel zu viel Gedanken darüber machte, was Martinek betraf. Vielleicht war der Mann aufgrund seiner blassen Gesichtsfarbe auch krank. Aber das ging ihn nichts an. Gar nichts. Und deshalb schickte es sich auch nicht, Martinek darauf anzusprechen.

»Zu wem wollen Sie eigentlich in Waldkirchen?«, fragte Martinek, um das Schweigen zu brechen, das seit dem Augenblick zwischen ihnen herrschte, seitdem Hauser den übersichtlicheren Waldweg verlassen hatte und Martinek ins Unterholz gefolgt war.

»Zum Metzger Klein«, antwortete Hauser. »Er hat ein altes Motorrad im Schuppen, das er nicht mehr braucht. Vielleicht kriege ich es wieder hin – mal sehen.«

»Sie sind ziemlich geschickt in solchen Sachen, nicht wahr?«, meinte Martinek und sah, wie Hauser nickte.

»In diesen Zeiten muss man sehen, wo man bleibt. Ich kann froh sein, dass ich im letzten Jahr einige Leute kennen gelernt habe, die mir immer was abkaufen. Mit Arbeit sieht es hier draußen auf dem Land ohnehin nicht gut aus. Vielleicht ist es in den großen Städten besser – aber da würde ich mich nicht wohlfühlen.«

»Da muss ich Ihnen recht geben«, nickte Martinek und schob mit den Armen einen tief hängenden Ast beiseite. »Ich könnte nie in der Stadt leben. Da ist man eingepfercht wie in einer Gefängniszelle. Ich für meinen Teil brauche die Ruhe und Abgeschiedenheit eines kleinen Dorfes. Und diesen Wald hier. Manchmal bin ich oft nachts draußen und halte mich im Wald auf.«

»Warum das denn?«, fragte Hauser erstaunt.

»Der Wald entwickelt nachts ein Leben, das man tagsüber nicht sieht. Sie müssen das ganz genau beobachten, bis Sie es bemerken. Haben Sie das Käuzchen eben rufen hören? Für mich ist es ein Geräusch, das man nur um diese Zeit wahrnehmen kann. Und der Mond, der jetzt über den Bäumen scheint – sehen Sie, wie intensiv sein Licht ist? Viel schöner als diese grelle heiße Sonne.«

Die Art und Weise, wie er das sagte, klang irgendwie sonderbar. Im ersten Moment wusste Hauser nicht so recht, was er davon halten sollte. Zumal in dieser Sekunde plötzlich ein lang gezogenes Heulen erklang, das ihn zusammenzucken ließ.

»Wölfe …«, murmelte Martinek und blickte in die Richtung, aus der das Geheul erklungen war. »Zu dieser Jahreszeit kommen sie immer von der tschechischen Seite herüber. Die scheren sich einen Dreck um die Grenze.« Seine Stimme klang ein wenig besorgt, als er weitersprach. »Verdammt, jetzt mache ich mir Sorgen um meinen Hund. Wenn ihn die Wölfe erst wittern, dann …«

Hauser erwiderte nichts darauf. Er konnte sich gut vorstellen, wie sehr besorgt Martinek um seinen Hund war. Wahrscheinlich war der Schäferhund schon seit vielen Jahren der treue Gefährte dieses Mannes, und die Tatsache, dass er im Unterholz verschwunden war, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Auch wenn er das nach außen nicht so deutlich zeigte.

»Aber er wird schon wiederkommen. Arko kennt sich gut aus – diesen Wölfen wird er schon ein Schnippchen schlagen«, grinste Martinek. »Vielleicht ist er schon längst auf meinem Hof und wartet ungeduldig auf mich.«

»Und Ihre Frau?«, wollte Hauser wissen. »Was sagt sie denn zu Ihren nächtlichen Spaziergängen?«

Urplötzlich fuhr Martinek herum und musterte Hauser auf eine Art und Weise, die ihm gar nicht gefiel. Sein Blick war stechend, und in seinen Augen hatte es kurz aufgeblitzt. Wie bei einem Wutausbruch, den er gerade noch einmal hatte unterdrücken können.

»Ich lebe allein«, sagte Martinek mit gezwungener Ruhe. »Das ist besser so. Eine Frau würde das nicht lange aushalten.«

»So geht´s mir auch«, erwiderte Hauser rasch. »Da muss man nicht immer Rechenschaft ablegen, wenn man mal zu spät kommt.«

»Das stimmt«, meinte Martinek in nachdenklichem Ton und setzte den Fußmarsch fort. Hauser hatte dem nichts hinzuzufügen und konzentrierte sich wieder auf den Weg, der vor ihm lag. Sofern man diesen schmalen Einschnitt zwischen den hohen Farnsträuchern überhaupt als Weg bezeichnen konnte. Er selbst hätte hier wahrscheinlich gar nichts gefunden, woran er sich hätte orientieren können.

Martinek dagegen bahnte sich mit solcher Sicherheit einen Weg durch das dichte Unterholz, dass der Gedanke nahe lag, dass er hier einen großen Teil seiner Zeit verbrachte. Er benahm sich wirklich wie jemand, der selbst mit verschlossenen Augen sofort den richtigen Weg finden würde. Und das, obwohl das Unterholz mit jedem weiteren Meter immer dichter wurde.

Bereits jetzt schon spürte Hauser die Zweige, die Körper und Gesicht streiften. Dornige Ranken verhakten sich in seiner Jacke, sodass er sich nur mühsam wieder befreien konnte. Er murmelte einen leisen Fluch, als er mit der rechten Hand in die Dornen griff. Zwei Blutstropfen traten hervor.

»So ein Mist!«, fluchte Hauser. »Auch das noch!«

Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie wachsam Martineks Blicke auf einmal waren. Fast hypnotisch richteten sich seine dunklen Augen auf den blutenden Finger Hausers.

»Keine Sorge«, meinte Hauser abwinkend. »Ist nicht schlimm.« Während er das sagte, holte er ein Taschentuch hervor und wickelte es um den verletzten Finger, um die Blutung zu stoppen. Was wenige Minuten später dann auch der Fall war.

»Wir sind bald da«, sagte Martinek mit heiserer Stimme. »Es dauert nicht mehr lange. Jenseits dieses Gestrüpps wird der Weg dann auch nicht mehr so beschwerlich.«

Hauser nickte nur und folgte dem Mann im dunklen Mantel, der sich weiter seinen Weg durchs Gestrüpp bahnte, als wenn ihm die unzähligen Zweige und Dornenranken gar nichts anhaben konnten. Fast schon so, als wenn er eins mit der Natur war.

Was für ein komischer Gedanke, grübelte Hauser kopfschüttelnd. Ich sollte lieber froh sein, dass mir dieser Mann überhaupt begegnet ist. Ohne ihn hätte ich mich längst verlaufen.

»Jenseits der Hügel verläuft die Grenze«, sagte Martinek unvermittelt und wies mit der rechten Hand in die betreffende Richtung. »Wenn der Wind richtig steht, kann man manchmal Schüsse von der anderen Seite hören. Dann haben sie wieder einen erwischt. Die Grenze kann manchmal sehr gefährlich sein – man muss immer mit allem rechnen.«

»Ich weiß«, antwortete Hauser. »Aber jetzt so kurz vor dem Ziel wird ja wohl nichts mehr passieren. Oder glauben Sie etwa, dass …?«

»Das Grenzland hat eigenen Gesetze«, meinte Martinek daraufhin. »Lassen Sie uns etwas schneller gehen. Dann fühle ich mich wohler.«

Jetzt beschleunigte er seine Schritte, und Hauser blieb gar nichts anderes übrig, als sich ebenfalls zu sputen, wenn er mit Martinek gleichziehen wollte. Dabei achtete er nicht mehr auf den Weg, sondern heftete seine Blicke auf den breiten Rücken des Mannes im dunklen Mantel, der für wenige Sekunden ganz plötzlich aus seinem Blickfeld verschwand. Aber dann sah ihn Hauser wieder. Wahrscheinlich hatte ihm ein besonders widerspenstiger großer Farn die Sicht auf Martinek genommen.

Erst Minuten später fiel Hauser auf, dass das Grün der überall wuchernden Farnsträucher plötzlich einem schmutzigen Braun gewichen war. Genau wie die anderen Sträucher und Gewächse. Und das Licht des Mondes wirkte auf Hauser auf einmal seltsam kalt!

»Was ist?«, riss ihn Martineks Stimme aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und musterte seinen Begleiter auf eigenartig spöttische Weise von Kopf bis Fuß. Zumindest erweckte dieses Verhalten im ersten Moment bei Hauser diesen Eindruck. »Sind Sie müde? Wollen Sie sich einen Moment ausruhen?«

»Nein«, meinte Hauser abwinkend. »Es ist nur, weil …«

Er wusste nicht so recht, wie er seine Gedanken in Worte kleiden und ob er das überhaupt Martinek sagen sollte.

»Nun spucken Sie´s schon aus!«, forderte ihn Martinek auf, während plötzlich ein lauer Wind aufkam, der die braunen Fichtennadeln zu seinen Füßen hin und her wirbelte. »Was haben Sie denn auf einmal?«

Warum spricht er mit so höhnischer Stimme, schoss ein plötzlicher Gedanke durch Hausers Kopf. Verdammt, hier stimmt doch was nicht.

»Martinek, wie weit ist es noch bis nach Waldkirchen?«, fragte Hauser und konnte die Ungeduld in seiner Stimme nicht mehr länger zurückhalten.

Im ersten Augenblick blitzte es in den Augen des anderen kurz auf. Aber dann hatte sich Martinek schon wieder vollständig unter Kontrolle.

»Wenn Sie etwas weiter nach vorn kommen, dann können Sie die ersten Häuser schon sehen«, lächelte er und deutete Hauser an, sich zu beeilen. Das tat dieser auch. Er trat zu Martinek heran und spähte durch die Bäume hindurch, die sich in gut hundert Meter Entfernung allmählich zu lichten begannen. Dort war der Wald zu Ende, und Hauser fühlte, wie eine große Last von seinen Schultern fiel.

»Das wurde aber auch Zeit«, brummte er vor sich hin. »Dieses verdammte Gestrüpp ging mir schon gewaltig auf die Nerven.«

»Sie müssen nur Geduld haben«, meinte Martinek. »Kommen Sie jetzt – bald haben Sie es hinter sich.«

 

*

 

Seit einigen Minuten war das beklemmende Gefühl stärker geworden. Hauser wusste nicht, warum das so war. Aber das Misstrauen, das von ihm Besitz ergriffen hatte, war jetzt so stark, dass er immer noch ein wenig zögerte, Martinek zu folgen.

Nur langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, während sein Herz heftig zu pochen begann. Was Hauser nun gar nicht verstand. Denn er hätte doch eigentlich froh sein sollen, dass er das dichte Gestrüpp hinter sich gebracht hatte und er schon fast am Ziel war.

Martinek hatte recht gehabt. Im bleichen Licht des Mondes zeichneten sich jenseits des Waldrandes die Konturen von Häusern ab. Aber sie wirkten irgendwie … anders. Als wenn ein sehr talentierter Maler ein Dorf im Mondlicht atmosphärisch sehr genau gezeichnet und dennoch etwas Wichtiges vergessen hatte. Hauser bemerkte das und musste unwillkürlich schlucken.

»Aber das ist doch …«, murmelte er fassungslos, als er auf einmal erkannte, dass die Häuser alt und heruntergekommen wirkten. Manche von ihnen waren sogar eingestürzt und andere wiederum von wild wucherndem Gestrüpp zum Teil zugedeckt.

»Das ist Waldkirchen – ein Dorf, das vor rund hundert Jahren von den Bewohnern aufgegeben wurde«, hörte Hauser auf einmal Martineks Stimme. »Zumindest in dieser Welt jenseits der Grenze.«

»Was hat das zu bedeuten?«. Hausers Stimme klang jetzt ziemlich gereizt. »Martinek – Sie sagen mir sofort, was hier los ist, sonst …«

Er hatte die rechte Hand erhoben, um Martinek zu drohen. Aber dann ließ er sie sofort wieder sinken, als er den Mann im dunklen Mantel lachen hörte. So gehässig, wie er das noch nie vernommen hatte!

Bruchteile von Sekunden später schoss Martinecks Arm vor und zog Hauser zu sich heran. Sein Gesicht wirkte nun noch bleicher, als es ohnehin schon der Fall war, und in den dunklen Augen spiegelte sich grenzenloser Spott wider. Das geschah so schnell, dass Hauser gar nicht mehr dazu kam, sich zu wehren.

»Du elender Wicht«, lachte Martinek und zog ihn so dicht an sich heran, dass Hauser eigentlich seinen Atem hätte spüren müssen. Aber da war nichts – gar nichts!

»Ich …«, keuchte Hauser und fühlte, wie er plötzlich wieder losgelassen wurde. Er taumelte und stürzte auf den Boden. Hauser schrie erschrocken auf, weil er sich den Arm an einem Stein gestoßen hatte. Martinek dagegen weidete sich förmlich an seiner Hilflosigkeit, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn mit den Augen einer gefühllosen Spinne, die sich ihres Opfers völlig sicher war.

Tausend Gedanken gingen Hauser durch den Kopf, während er sich aufzurappeln versuchte. Nur weg von hier, schrie eine warnende Stimme. Du musst sofort fliehen, sonst …

Instinktiv duckte er sich, weil er glaubte, dass Martinek wieder die Hand nach ihm ausstreckte. Aber er tat gar nichts, sondern ließ es sogar zu, dass Hauser sich schließlich erhob und einfach losrannte. Zurück in den dunklen Wald, aus dem er gekommen war.

Hausers Atem ging keuchend, während er so schnell rannte wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Immer wieder geriet er ins Taumeln, als er über eine Baumwurzel stolperte. Aber das Glück schien eine schützende Hand über ihn zu halten. Er stürzte nicht, sondern konnte sich immer wieder fangen. Aber das höhnische Gelächter Martinecks hallte in seinen Ohren so unangenehm wider, dass Hausers Schädel beinahe zu zerplatzen drohte.

Zwischenzeitlich hatte sich wieder dichter Nebel gebildet, der Hausers Füße wie ein hauchdünnes Gespinst umspielte. Aber das nahm er nur am Rande wahr, denn er hatte nur noch eins im Sinn – so schnell wie möglich weg von diesem unheimlichen Ort!

Trockenes Geäst knirsche unangenehm unter seinen Füßen, während hoch oben in den Baumwipfeln wieder der klagende Ruf des Käuzchens erklang. Was ihm diesmal durch Mark und Bein ging, denn Hausers Nerven waren ziemlich angekratzt. Er fühlte sich gefangen in einem schrecklichen Albtraum und wusste um die Gefahr, die ihm drohte. Trotzdem glaubte er immer noch mit einem winzigen Rest seines Verstandes, dass all dies hier eigentlich gar nicht sein durfte!

Nur die Augen kurz zukneifen und wieder öffnen – dann saß er bestimmt am Steuer seines alten Transporters und würde aufwachen aus dem Schlaf, in den er gefallen war, als er seinen Wagen im Schlamm festgefahren hatte. Kein Wunder, dass dann die Fantasie mit einem durchging und …

Die Gedanken brachen ab, als ein Zweig sein Gesicht streifte und ihn kurz aufschreien ließ. Weil Hauser für einen winzigen Moment geglaubt hatte, dass dieser Zweig nicht natürlichen Ursprungs war. In diesem bleichen Mondlicht wirkte der Ast wie der furchterregende Arm eines grauenhaften Giganten, der nur auf den richtigen Augenblick gewartet hatte und erst jetzt seine wirkliche Gestalt offenbarte.

Plötzlich lichtete sich der Nebel vor ihm, und Hauser atmete auf. Nur noch wenige Schritte – dann würde er den Waldrand erreicht haben. Und von dort aus war es bestimmt nicht mehr weit bis zum nächsten Dorf, wo er Hilfe holen konnte. Und dann würde dieser unheimliche Kerl namens Martinek es bestimmt mit der Angst zu tun bekommen.

Aber Hausers Hoffnung wurde innerhalb von Sekunden zunichtegemacht. Denn als sich die wabernden Nebelschleier verzogen, wurde ihm bewusst, dass der Waldrand noch in weiter Ferne war. Stattdessen stand er plötzlich wieder vor Martinek. Wenige Schritte von ihm entfernt – fast an der gleichen Stelle wie vorhin.

»Aber das ist doch …«, entfuhr es ihm fassungslos, während die Fassaden der ihm vertrauten Welt mit ihren Gesetzen immer schneller einzustürzen begannen. »Das kann doch gar nicht sein, dass …«

»Du bist auf der anderen Seite der Grenze, Hauser«, lachte Martinek. »Hier ist nichts mehr so, wie du es kennst. Das Waldkirchen da drüben ist ein Ort, der mit dem Dorf von drüben nur noch den Namen gemeinsam hat.«

Seine Worte klangen so endgültig, dass Hauser erneut zusammenzuckte. Ihm war übel, als er die Verachtung in Martinecks Augen sah. Das war nicht mehr der hilfsbereite Spaziergänger, der ihm angeboten hatten, ihm den richtigen Weg zu zeigen. Nein, Viktor Martinek war eine Beste in Menschengestalt!

»Es hat keinen Sinn mehr, zu fliehen Hauser!«, riss ihn die Stimme des bleichen Mannes aus seinen verzweifelten Gedanken. »Für dich gibt es nur noch einen Weg – nämlich dorthin.«

Während die letzten Worte über seine blassen Lippen kamen, wies mit einer fast schon theatralischen Geste in Richtung der ruinenhaften Häuser. Wind kam auf und bauschte den Mantel, der Martinecks große Gestalt umschloss – und Hauser spürte auf einmal eine unbeschreibliche Kälte, die ihn entsetzlich frieren ließ. Eine Kälte, wie er sie noch niemals zuvor erlebt hatte.

»Geh, Hauser – du wirst schon erwartet«, sagte Martinek. »Für dich gibt es keinen Weg zurück. Der letzte Akt des Spiels hat begonnen.«

»Aber … warum?«, fragte Hauser. »Was geschieht hier?«

»Das wirst du ohnehin nicht verstehen«, fiel ihm Martinek ins Wort. »Manchmal verändern sich die Grenzen – selbst wenn sie vorher fest verankert waren. Heute ist so ein Tag, wo die Dinge erneut in Bewegung geraten. Du hattest nur das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Zumindest würdest du so denken. In Wirklichkeit habe ich dich auserwählt, Hauser.«

Sein vor wenigen Sekunden noch lächelndes Gesicht verzog sich jetzt zu einer abscheulichen Grimasse, als Martinek die Unterlippe hochzog und zwei spitze Eckzähne zum Vorschein kamen. Im bleichen Licht des Mondes konnte Hauser jede Kleinigkeit erkennen, und nun wurde noch der letzte Rest Vernunft von einer unbeschreiblichen Panik weggespült.

»Nein«, murmelte er und hob abwehrend beide Hände. »Nein!«

Hauser konnte Martinek nicht länger ansehen. Zu grausam war das, was seine Augen erblickten. Deshalb wandte er sich hastig ab und rannte los wie ein gehetztes Tier. Diesmal in Richtung des Dorfes. Weil in ihm noch ein winziger Funke Hoffnung schwelte und er hoffte, diesem grausamen Spuk noch entkommen zu können.

Hinter ihm erklang das amüsierte Gelächter Martinecks. Hätte Hauser sich jetzt umgedreht, dann hätte er gemerkt, wie Martinek beide Arme ausbreitete und der Mantel plötzlich andere Konturen annahm, die ein Eigenleben entwickelten. Aber das sah Hauser nicht – und es war auch nicht mehr wichtig.

Ein trockener Ast zerbrach unter seinen Füßen. Das Geräusch klang so laut und durchdringend wie ein Schuss aus einer Pistole. Trotzdem hielt Hauser jetzt nicht inne. Er wollte so schnell wie möglich die alten Häuser erreichen und hoffte darauf, sich dort vor seinem unheimlichen Verfolger verbergen zu können.

 

*

 

Wie ein wildes Tier, das von einem Dutzend entschlossener Jäger unbarmherzig gejagt wurde, ließ er seine Blicke umherschweifen. Das Gelächter Martinecks war zwischenzeitlich verstummt. Trotzdem fühlte Hauser keine Erleichterung darüber. Denn er wusste, dass die augenblickliche Ruhe von sehr trügerischer Natur war.

Jetzt erreichte er das erste Haus des verlassenen Ortes. Oder besser gesagt eine geschwärzte Ruine. Fassungslos und erschrocken zugleich blickte er dann auf die eingestürzten Mauern einer Scheune, deren Balken bizarr verformt waren.

Dies galt auch für das alte Bauernhaus, das von einem fürchterlichen Feuer arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Das Gras der nahen Wiese war dürr und bräunlich verfärbt, und ein penetranter Geruch stieg in Hausers Nase, der ihm große Übelkeit verschaffte. Es roch alt und modrig – als wenn man plötzlich in einem Grab stand, das über Jahrhunderte hinweg verschlossen geblieben war.

Zwischen den Ruinen des Hauses und der Scheune huschte plötzlich eine schattenhafte Gestalt vorbei. Hauser zuckte zusammen, als er das sah. Aber dann blieb wieder alles still. Trotzdem ahnte er, dass er jetzt vom Regen in die Traufe geraten war.

Wieder blickte er sich nach einem schützenden Versteck um. Denn das war die einzige Chance, die ihm noch blieb. Ein kurzer Blick zurück signalisierte ihm noch trügerische Sicherheit. Aber sie fing schon an zu bröckeln, denn durch den Nebel hindurch erkannte Hauser die Konturen einer mittlerweile vertrauten Gestalt.

Aber sie hatte sich auf dramatische und erschreckende Weise verändert. Als wenn Martinek nur darauf gewartet hatte, bis der Moment gekommen war, wo er seinem Opfer sein wirkliches Gesicht zeigen konnte!

»Ich kriege dich!«, hörte Hauser die vom Nebel verzerrte Stimme seines gefährlichen Gegners. »Es dauert nicht mehr lange!«

Hauser stöhnte auf, als er das hörte. Wieder hastete er weiter und erreichte jetzt eine Gruppe von Häusern, die nicht ganz so stark der Zerstörung zum Opfer gefallen waren. Sofort rannte er darauf zu und riss eine Tür auf. Staub flog ihm entgegen und reizte seine Atemwege so sehr, dass er fast gehustet hätte. Buchstäblich in letzter Sekunde konnte er dieses Gefühl noch einmal unterdrücken und presste sich dann ganz flach an die feuchte Wand des Hauses.

Er rührte sich nicht und hoffte inständig, dass Martinek ihn nicht fand. Aber die schweren stapfenden Schritte seines Verfolgers waren ganz nahe. Vielleicht nur noch zehn Meter entfernt.

Bleib ganz ruhig, versuchte er sich einzureden. Du hast eine winzige Chance – auch wenn sie verschwindend gering ist.

Dann brachen seine Gedanken ab, als er mit Schrecken erkennen musste, dass sich die Schritte genau dem Haus näherten, wo er geglaubt hatte, sich verstecken zu können. Nur einen Atemzug später erklang wieder das gehässige Gelächter des Mannes, dem Hauser vertraut hatte. Ein fataler Fehler war das gewesen – aber diese Erkenntnis kam jetzt viel zu spät.

»Komm raus, Hauser!«, erklang die höhnische Stimme, deren Tonfall allein schon ausreichte, um Hauser kurz zur Salzsäule erstarren zu lassen. »Mach es dir nicht unnötig schwer. Du hast keine Chance mehr!«

Und wenn doch?, schoss es verzweifelt durch seinen Kopf. Ich kann mich ihm doch nicht völlig widerstandslos ergeben, damit er dann …

Dieser Gedanke war zu schrecklich, um ihn in letzter Konsequenz zu Ende zu bringen. Die Panik überlagerte jetzt den letzten Rest Vernunft und Besonnenheit, die noch in ihm steckten. Er wollte nur noch überleben – egal wie!

Hausers Blicke erfassten eine zweite Tür, die weiter nach hinten führte. Kurz entschlossen eilte er darauf zu, riss sie auf und gelangte in einen angrenzenden Raum. Zersplitterte Fenster stachen ihm ins Auge – und genau die waren jetzt sein Ziel.

Er ging dabei so hastig ans Werk, dass er sich die Handfläche aufschnitt, als er versuchte, den Rest des Glases aus dem Rahmen zu brechen. Dann zwängte er sich durch die Öffnung und gelangte auf diese Weise in einen Hinterhof, in dem es stank wie die Pest. Ein großer Haufen verfaultes Heu lag nicht weit vom Fenster entfernt, und der Gestank war so schlimm, dass Hauser kaum atmen konnte.

Dann hastete er auch schon weiter, zwischen zwei verfallenen Ställen hindurch. Hinüber zu der nahen Wiese, von der ein kleiner Weg in Richtung Waldrand führte. Wenn er den erreichte, hatte er vielleicht Glück und konnte sich dem schrecklichen Schicksal, das ihn hier erwartete, vielleicht noch in letzter Sekunde entziehen.

Dass aber daraus nichts wurde, erkannte er bereits im selben Moment, in dem ihn diese verzweifelte Hoffnung beflügelt hatte. Wie aus dem Nichts traten plötzlich zwei Gestalten hinter den Ställen hervor. Sie waren groß und hager, hatten ebenfalls bleiche Gesichter wie Martinek – und in ihren Augen spiegelte sich grenzenloser Hass wider. Hass, der so deutlich war, dass Hauser ihn körperlich spüren konnte.

Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er bemerkte, dass die beiden Gestalten nun direkt auf ihn zukamen. Mit langsamen Schritten. Wie leblose Puppen, die an unsichtbaren Fäden hing, die von einer anderen Macht gesteuert wurden.

Sofort wirbelte Hauser herum und schrie erschrocken auf, als drei weitere Gestalten ihm den Weg versperrten. Sie näherten sich ihm ebenfalls mit ausgestreckten Armen, und Hauser erkannte die furchtbaren Klauen, deren Glieder bereits in stiller Vorfreude zu zucken begannen. Weil sie ganz genau wussten, dass ihr Opfer in der Falle saß. Aus der es nicht mehr entkommen konnte!

»Bleibt, wo ihr seid!«, schrie Hauser mit einer Stimme, die ihm nicht mehr zu gehören schien. Sie klang schrill und ängstlich.

Aber die unheimlichen Kreaturen setzten ihre Absicht fort. Da setzte Hauser alles auf eine Karte und versuchte, aus diesem tödlichen Ring zu entkommen. Was ihm aufgrund seiner schnellen Reaktion sogar fast noch gelungen wäre.

Eines der blutrünstigen Geschöpfe war jedoch schneller und bekam ihm am Kragen seiner dicken Jacke zu fassen. Stoff zerriss mit einem hässlichen Geräusch, und die unförmige Klauenhand riss eine blutende Wunde in Hausers Nacken. Der Unglückliche spürte den heißen Schmerz und stöhnte laut auf, während die Beine plötzlich unter ihm nachgaben. Er taumelte kurz und brach dann zusammen.

Eine unerklärliche Schwäche erfasste ihn plötzlich und schien mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde seine Beine zu lähmen. Mühsam versuchte er sich aufzurappeln – aber das gelang ihm nicht mehr. Denn in diesem Moment hatte sich der Kreis geschlossen, und die unheimlichen Gestalten hatten ihn umringt.

Dann erkannte er Martinek, der sich einen Weg durch den Kreis bahnte und ihn musterte wie ein Raubvogel, der jetzt gleich auf seine Beute herunterstoßen würde. In seinen dunklen Augen war nichts Menschliches mehr. Nur eine unbeschreibliche Kälte, die nicht natürlichen Ursprungs war.

»Warum?«, murmelte Hauser mit gebrochener Stimme. »Ich verstehe nicht, was …«

»Du wurdest auserwählt, Hauser«, sagte Martinek mit einer verächtlichen Geste. »Es hätte auch jeden anderen treffen können, der uns in die Hände gefallen wäre. Aber in dieser Nacht warst du es eben. Du solltest dich glücklich schätzen, überhaupt etwas von der Welt jenseits der Grenze zu erfahren. Nur wenige wissen von ihr – und diejenigen, die sie betreten haben, kehren niemals wieder in ihre eigene Welt zurück.«

Hauser wurde noch bleicher, als es ohnehin schon der Fall war. Jedes einzelne Wort ließ ihn bis ins Mark frösteln. Weil die Situation so furchtbar endgültig war. All die geheimen Ängste und Schrecken, von denen er jemals geträumt hatte – sie waren jetzt Wirklichkeit geworden!

»In dieser Welt sind wir die Herrscher, Hauser«, sprach Martinek mit siegessicherer Stimme weiter. »Und glaub mir eins – es gibt noch viel mehr von uns. Bereits jetzt schon halten sie sich auf deiner Welt auf, ohne dass jemand davon etwas ahnt. Und diejenigen, die das erkannt haben, sind schon längst an einem anderen Ort, wo sie keine Gefahr mehr darstellen. Genau wie du, Hauser.«

Bei den letzten Worten lachte er gehässig. Dann gab er mit der rechten Hand den dunklen Kreaturen einen kurzen Wink. Das war das Zeichen, sich auf Hauser zu stürzen.

Hauser schrie, als er die scharfen Krallen auf seiner Haut spürte. Und der entsetzliche Schmerz war so furchtbar, dass er den Verstand verlor. In den letzten Augenblicken seines Lebens war sein Verstand nur noch eine leere Hülle aus verwirrenden Bildern und Eindrücken. Und dann war da nur noch ein tiefes schwarzes Loch, aus dem es keine Rückkehr mehr gab.

 

*

 

Peter Bergner hasste dieses Wetter. Fast die ganze letzte Nacht hatte es geregnet, und der Waldboden war feucht und schlammig. Alles andere als angenehm zum Arbeiten. Aber er und seine Kollegen durften sich nicht beklagen. Stattdessen konnten sie froh sein, dass sie überhaupt Arbeit hatten. Im Gegensatz zu manch anderen Männern aus den umliegenden Dörfern.

Sie waren vor einer knappen halben Stunde von Stedebach aus losgefahren und würden an diesem Morgen ihre Arbeit direkt auf der Hauptstraße beginnen. Umgestürzte Bäume fällen und abtransportieren. Genauso wie es ihnen der Förster aufgetragen hatte. Damit die Straße wieder passierbar wurde.

Bergner saß am Steuer des Wagens, und seine beiden Kollegen Alois Hachtmann und Felix Stauder begleiteten ihn an diesem Tag. Es war noch früh am Morgen – erst kurz nach Sonnenaufgang. Entsprechend schweigsam waren die Männer noch, denn die Kälte des nassen Wetters steckte jedem von ihnen noch in den Knochen.

»Gütiger Himmel!«, rief Berner, als sie die Stelle der Straße erreicht hatten, wo die Bäume umgestürzt waren. »Das sieht ja noch schlimmer aus, als ich befürchtet habe. Leute, da gibt es ordentlich was zu tun. Das braucht seine Zeit, bis wir hier fertig sind.«

Die beiden anderen pflichteten ihm bei. Augenblicke später stiegen die Waldarbeiter aus und luden ihre Geräte ab. Das war der Moment, wo Bergner die Reifenspuren am Rand der Straße entdeckte.

»Hier musste einer umkehren«, meinte er.

»Tatsächlich«, nickte nun auch Alois Hachtmann. »Ich dachte, ich hätte eben was zwischen den Bäumen gesehen. Dort, wo der Waldweg beginnt. Einen Lieferwagen oder so was Ähnliches.«

»Der hat wohl versucht, die Abkürzung nach Waldkirchen zu nehmen, und könnte im Schlamm stecken geblieben sein«, schlussfolgerte Bergner und kratzte sich an der Schläfe. »Vielleicht sollten wir da mal nach dem Rechten sehen. Was meint ihr?«

Die anderen nickten zustimmend. Kurz darauf machten sie sich auf den Weg und standen schon zehn Minuten später an der Stelle, wo ein alter Transporter mit den Vorderrädern tief im Schlamm steckte.

»Den Wagen kenne ich noch!«, rief Felix Staudenbach. »Gehört der nicht diesem Schrotthändler? Er war doch gestern bei uns im Dorf.«

»Natürlich«, meinte nun auch Bergner. »Du hast recht, Felix. Aber wo ist der Mann jetzt?«

»Er wird sich zu Fuß auf den Weg gemacht haben, als der Wagen festsaß«, meinte sein Kollege. »Hoffentlich hat er sich nicht verlaufen. Hier – da sind Fußspuren zu erkennen. Sie führen tiefer in den Wald. Wollen wir nachsehen?«

»Warte mal«, hielt Bergner Staudenbach zurück, als dieser schon im Begriff war, loszumarschieren. »Das ist keine so gute Idee. Wir sollten lieber wieder an unsere Arbeit gehen, sonst kriegen wir noch Ärger mit dem Förster. Der Schrotthändler wird sich schon nicht verlaufen. Wir sind jetzt hier, um die Straße frei zu machen. Oder hast du das vergessen?«

Staudenbach wusste, was sein Kollege damit sagen wollte. Der Förster war ein ziemlich mürrischer Mann, dem es nie schnell genug ging. Das wussten die Waldarbeiter – und deshalb gingen sie wieder zurück zu den umgestürzten Bäumen.

Sie wussten nicht, dass sie beobachtet wurden, als sie mit ihren Sägen ans Werk gingen und die Äste der Bäume entfernten. Sie ahnten auch nicht, dass in dieser Nacht erneut der Grenzgänger sein Unwesen treiben würde. Aber nicht sie waren sein Opfer, sondern erneut ein unschuldiger Reisender. Und er verschwand genauso spurlos wie Paul Hauser. Man hörte nie wieder etwas von ihnen, und all dies schrieb man den Grenzgängern zu, die nachts von der Tschechei kamen. Wahrscheinlich hatten sie die armen Kerle überfallen, umgebracht und dann irgendwo verscharrt.

Sehr bedauerlich, aber leider nicht zu verhindern, hieß es in den Polizeiberichten und Presseartikeln. Aber es waren unruhige Zeiten – besonders in dieser abgelegenen Region.

 

ENDE