Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Anne Boleyn Band 2 – Kapitel 21

Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Zweiter Band

Das letzte Beieinander

Die schwere Turmuhr hatte die elfte Stunde der Nacht verkündet. Durch die langen, engen Gänge des Towers schlichen vorsichtig ein Mann, der eine kleine Blendlaterne hielt, und eine leichte, dicht verhüllte weibliche Gestalt, welche sich ängstlich an den Arm des Führers hängte. Endlich betraten sie die unterste Reihe der gewölbten Gänge. Vorsichtig zählte der Mann, indem er mit der Laterne an den Wänden hin leuchtete, die kleinen, niedrigen eisernen Türen, die in der Mauer eingebracht waren. Er blieb vor einer stehen und zog den schweren Riegel vor derselben zurück.

»Wir sind zur Stelle, Mylady«, sagte der Führer, in welchem wir Sir William Kingston kennen. »Treten wir schnell ein, damit uns nicht einer der Mannschaft vom Schloss aus erspähe. Er schläft vielleicht.«

Lady Guilford trat durch die geöffnete Tür, und Sir William schloss sie hinter sich zu.

Man hegte in jener Zeit nicht das krankhafte, empfindsame Mitleid mit einem Sträfling, durch welches die Philanthropen des 19. Jahrhunderts denselben die gerechte Strafe leichter, ja sogar angenehm zu machen versuchten. Damals galt der Verbrecher oder Gefangene in den Augen der Welt und der Regierungen für ein ausgestoßenes Wesen, das keine Ansprüche auf Anteilnahme, noch weniger auf Behaglichkeit hatte.1

Die Zelle, in welcher Lord Norris einquartiert worden war, obwohl beim Weitem nicht die schlechteste im Tower, dennoch so eng und niedrig, dass sie eher einem großen Sarg oder Käfig als der Wohnung eines menschlichen Wesens glich. Die Luft war modrig, die Wände feucht, und bei dem schwachen Strahl des Tageslicht, dass während einiger Stunden durch die engen Eisengitter drang, grün und schimmlig. Nun herrschte eine so dichte Finsternis, eine so schwarze Nacht, dass Lady Guilfords angestrengte Blicke sie nicht zu durchdringen vermochten. Unbeweglich haftete ihr Fuß noch am Boden. Da trat Sir William an ihr vorbei und näherte sich dem anderen Ende des Gemachs.

»Wir sind es, Mylord«, sagte Kingston, »wir.«

»Wen meint Ihr, Sir?«, vernahm Lady Guilford von einer ihr wohlbekannten Stimme. »Wer ist bei Euch? Kommt Ihr, mich wieder zu foltern oder schon zum Tode zu führen?«

»Nichts von dem, mein lieber Freund, ich bringe Euch mit Gefahr meines eigenen Lebens einen lieben, holden Gast, der Euch zu sehen wünschte. Tretet näher, Lady Guilford.«

Da raschelte es auf dem Boden und in dem Stroh, welches dem Gefangenen zum Lager dient. Ehe das erschrockene Mädchen die Stelle erreichte, drückten zwei liebende Arme sie an ein heftig schlagendes Herz.

»Elisabeth, meine Elisabeth, treue, edle Seele«, rief Norris aus, ihr holdes Antlitz mit Küssen bedeckend. »Du kommst zu mir, hierher, in diese Wohnung des Elends.«

»Könnt Ihr doch nicht zu mir kommen«, sagte Lady Guilford traurig und schmiegte sich zärtlich an ihn an. »Wir haben es auch nur der Güte Eures edelmütigen Gouverneurs zu danken, dass ich Euch noch einmal sehen darf, mein Henry.«

»Gott lohne es Euch, Sir, in alle Ewigkeit.«

»Amen«, erwiderte dieser. »Ich lasse Euch ein Stündchen allein, Mylord; aber seid auf der Hut, dass Ihr nicht durch zu lautes Reden Verdacht erweckt. Ich werde Euch wieder abholen, Lady Guilford.«

Er setzte die kleine Lampe nieder, zog eine verborgen gehaltene Kerze unter dem Mantel hervor, zündete sie an und stellte sie in einen leeren Wasserkrug. Dann nahm er die Laterne auf und überließ die Liebenden ihrer schmerzlich süßen Unterhaltung.

Ach! Es war ja nur eine kurze Gnadenstunde, die letzte, welche sie auf Erden beisammen verleben sollten. Sie saßen auf dem niedrigen Strohsack, sich eng umschlungen haltend, und tauschten die letzten feierlichen Versicherungen einer innigen Liebe und einer unverbrüchlichen Treue aus. Elisabeth vertraute dem Geliebten ihre festen Entschluss, nach seinem Tod in ein Kloster zu gehen und den Schleier zu nehmen.

»Du darfst unsere unglückliche Gebieterin nicht verlassen, meine Geliebte«, sagte Norris. »Bedenke, deine freiwillige Entfernung würde den Lästermäulern neuen Stoff zur Verleumdung geben.«

»Solange sie meiner Bedarf«, sagte Elisabeth, »bleibe ich bei ihr. Aber, Henry, mir ahnt es, der König wird sie nicht begradigen, sie vielmehr einem schimpflichen Tod preisgeben.«

»Um Gott!«, rief Norris entsetzt aus, »er wird die Bosheit nicht so weit treiben! Nein, Liebe, auch Kingston glaubt wie andere, dass sie in ein Kloster verbannt und Heinrich sich mit der förmlichen Annullierung der Ehe begnügen werde. Er hat kein Gewissen; er wird sich dann für berechtigt halten, Jane Seymour zu ehelichen, wie er es bei Anne tat.«

Unter diesen und ähnlichen Gespräche war schon mehr als eine Stunde verflossen, ohne dass die Liebenden an die Zeit dachten. Da mahnte sie das Zurückziehen der äußeren Riegel, dass die Frist abgelaufen war.

»Er kommt!«, flüsterte Elisabeth, in Tränen ausbrechend und ihre Arme um den Geliebten schlingend.

»Mut, mein teures Kind!«, sagte Norris mit bebender Stimme, »das Leben ist kurz, das Wiedersehen ewig. Wer weiß, ob deines Vaters Stolz uns je vereinigt hätte! Besser, ich sterbe nun, als die Qual erdulden zu müssen, dich in den Besitz eines anderen Mannes zu sehen.«

»Ihr müsst noch nicht alle Hoffnung aufgeben«, sagte Sir Kingston. »Wie ich vernehme, lässt der edle Erzbischof nicht in seinen Bemühungen nach, den Sinn des Königs zu Milde zu stimmen. Dieser soll sogar, wie mir Cromwell heimlich mitgeteilt hatte, zu dem Vorschlag Annes geneigt sein, Eure Freiheit um den Preis einer freiwilligen Verzichtleistungen auf ihre Rechte zu erkaufen.«

»Die edle Frau!«, sagte Norris. »Wir dürfen uns nicht schämen, für die Ehre eines solchen Wesens zu sterben. So gehe denn, meine Geliebte, vielleicht erlaubt unser gütiger Wächter hier, dass wir uns noch einmal sehen.«

»Nein, Henry, du täuschst mich!«, rief Elisabeth schluchzend aus, »ich werde dich nie, nie mehr wiedersehen! Oh, warum erhört der Himmel nicht mein Bitten und gewährt mir die Gnade, mit Euch sterben zu dürfen!«

Norris drückte sie fest an seine Brust, küsste sprachlos immer wieder von Neuem ihre Stirn, ihre Lippen, dann machte er sanft ihre Arme von seinem Hals los und winkte Sir Kingston, sie wegzuführen.

Aber Elisabeth schwankte und sank wie vernichtet in die Arme des Gouverneurs.

»Sie wird sich draußen erholen«, sagte dieser mitleidig zu Norris, hob die leichte Last von der Erde auf und trug sie wie ein schlummerndes Kind aus der Zelle.

Norris aber brachen die Knie. Er sank auf die kalten Steine nieder, rang die Hände und stöhnte mit unaussprechlichen Schmerz: »Es ist vorbei! Das war die Stunde des Todes für mich! Mein Gott, nimm meine Seele nun in deinen Himmel auf! Lass mich nicht lange auf die Erlösung dieses Leides harren!«

Show 1 footnote

  1. Von diesen Gefängnissen habe ich 1859 mehrere gesehen.
    Die Verfasserin