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Matthias Bauer – Das Tor

Matthias Bauer
Das Tor
Neue makabre Geschichten

Horror-Collection, Taschenbuch, Blitz-Verlag, Windeck, November 2019, 12,95 Euro, keine ISBN, Cover: Mario Heyer (MtP Art)

Ein Mädchen, das glaubt, den Eingang ins Paradies gefunden zu haben. Ein verzweifelter Schriftsteller, der um jeden Preis Inspiration sucht. Ein Scheusal von Rockstar, der alle in seiner Umgebung so behandelt, wie es ihm beliebt – bis das Schicksal eines Tages an die Tür klopft …

Wie schon in Reiche Ernte führen auch die Kurzgeschichten von Das Tor auf unheimliche Pfade. Immer weiter gehen diese Pfade, tief in die Dunkelheit hinab, um am Ende Überraschungen zu enthüllen, die jeden Leser nach Luft schnappen lassen.

Sind Sie bereit, Das Tor zu öffnen?

Der Autor

Matthias Bauer wurde 1973 geboren. Er lebt und arbeitet als selbstständiger Autor in Tirol.

Mit Bastian Zach schreibt er historische Romane (Morbus Dei-Trilogie, Das Blut der Pikten, Tränen der Erde). Ebenso verfassen Zach/Bauer Drehbücher, u. a. zum Horror-Film One Way Trip 3D und zum internationalen Wikinger-Hit Northmen – A Viking Saga.

Das Tor ist nach Reiche Ernte die zweite Kurzgeschichtensammlung, die Matthias Bauer als Solo-Projekt veröffentlicht.

Leseprobe

Das Stärkste aller Gefühle

Es war eine kalte Nacht, als ich die ungepflasterte Straße entlang ging, die zum Landhaus meines Onkels führte.

Der Mond und die wenigen Wolken standen wie erstarrt am Himmel. Das Licht des Mondes war schwach, fast kränklich; wenn die Straße hie und da in einem kleinen Wäldchen verschwand, wenn die Bäume dichter wurden und den Himmel verdeckten, hüllte Dunkelheit mich ein. Aber das machte mir nichts aus. Ich kannte den Weg, hätte ihn sogar blind gefunden.

Soeben hatte ich wieder eines dieser Wäldchen betreten und genoss die Laute, die mich umgaben. Das Rascheln im Unterholz, das Scharren von winzigen Pfoten und Klauen, Äste, die sich bogen und wieder zurückschwangen – alles war seltsam gedämpft, verlangsamt, als ob ich unter Wasser wäre und mich durch schwarze, widerspenstige Fluten bewegte.

Dann ließ ich die Bäume hinter mir, folgte der Straße einen Hügel hinauf. Ich gelangte auf die Kuppe des Hügels und erblickte mein Ziel, das unter mir lag: ein georgianisches Landhaus, mit spitzen Giebeln und Mauern aus roten Backsteinziegeln, die im Mondlicht schwarz aussahen. Das Haus lag am Rand eines Moores, das sich unendlich in die Ferne zu erstrecken schien, einem dunklen, ruhigen Meer gleich. Nur ganz selten vermeinte man Bewegungen in diesem Meer zu sehen, weit draußen im Schlamm und fauligen Gras. Aber wenn man die Augen zusammenkniff und genauer hinblickte, war alles wieder still.

Ich verweilte noch einen Augenblick, dann ging ich lautlos den Hügel hinab.

 

Ich schritt durch die riesige, düstere Vorhalle. Die breite Treppe, die sich links von mir in die Höhe wand, war nur schemenhaft auszumachen, der obere Teil der Stufen verschwand in der Dunkelheit. Keines der Lichter war eingeschaltet, was mich nicht wunderte. Zwar hatte Onkel Arthur elektrische Leitungen zum Landhaus legen lassen, war sogar einer der wenigen in dieser Gegend, der ein Telefon besaß, aber er benutzte beides fast nie. Briefe, Petroleumlampen und das gute alte Kaminfeuer mussten reichen, wie er oftmals betonte. Die Dienstboten fügten sich, so wie sie es immer taten.

Im Haus herrschte Stille, obwohl mein Onkel sicher noch wach war. Bei meiner Ankunft war niemand an der Tür gewesen, und ich fragte mich, ob der alte Mann dem Personal freigegeben hatte. Er hatte das schon mehrmals getan, meist wenn er wieder einmal kurz vor einem wichtigen Durchbruch zu stehen glaubte. Zu einem solchen Durchbruch würde auch seine Stimme passen, als er mich heute angerufen hatte. Ich solle so schnell wie möglich kommen, er müsse mich unbedingt sehen und mir etwas mitteilen. Ich hatte den Hörer aufgelegt und war sofort losgefahren.

Der Gang, der von der Vorhalle wegführte und dem ich jetzt folgte, war breit, durch die Fenster fiel Mondlicht auf den alten Eichenboden. Aus den Ecken und Nischen, die ich seit meiner Kindheit so gut kannte, musterten mich uralte Augen, waren Münder weit aufgerissen, glitzerten Artefakte geheimnisvoll. Wie hatte ich mich als Kind vor den Mumien und Statuen gefürchtet, aber heute war es anders; heute empfingen sie mich als Freund. Fast vermochte ich den Staub des alten Mesopotamiens zu riechen und den Sand der ägyptischen Wüsten zu spüren, der mir aus dunklen Ecken entgegenzurieseln schien. Fast kam es mir vor, als wären die Statuen lebendig, als würden Hieroglyphen und Keilschriften leuchten.

Unzählige Male hatte mir Onkel Arthur, der nach dem Tod meiner Eltern mein Vormund wurde, von mächtigen, längst untergegangenen Kulturen erzählt. Wortgewaltig hatte er mich zu den vergessenen Orten dieser Welt mitgenommen, oder zu Orten, die noch gar nicht erforscht und weiße Flecken auf der Landkarte waren. Bilder waren vor mir aufgestiegen, von Städten, die der Wüstensand zugedeckt hatte, von überwachsenen Ruinen in den Dschungeln von Afrika, von Tempeln am Grunde der Meere und abgelegenen Hochplateaus in Gebirgen in Asien. Gebannt hatte ich zugehört, während das Feuer im Kamin knisterte und der Wind um das Landhaus heulte. Wenn mein Onkel von diesen Kulturen und ihren Riten und Beschwörungen sprach, lag eine Begeisterung und Wärme in seiner Stimme, die er mir und seinen Untergebenen niemals zugestanden hätte.

Ich schüttelte die Erinnerungen ab und ging weiter durch das verwinkelte Haus. Nichts hatte sich geändert, sogar der Woodman-Spiegel hing noch am selben Platz und spiegelte das ohnehin schon kränkliche Licht des Mondes kaum wider. Ich konnte nicht glauben, dass mein Onkel den Spiegel nicht schon längst abgenommen hatte, vor allem nach dem Vorfall mit dem Dienstmädchen. Das Mädchen war ins Tollhaus eingeliefert worden und bald darauf gestorben, aber der Spiegel hing weiter an der Wand. Das war typisch für Sir Arthur Mathers: Wenn es zwischen Objekt und Mensch zu wählen galt, wählte er das Objekt.

Das Objekt, und die Sache, die dahinterstand, die für den alten Mann über allem stand.

Den Beweis für das Übernatürliche zu finden, diejenigen zu beschwören, die ihr irdisches Leben hinter sich gelassen hatten – diesem dunklen Ziel hatte sich Onkel Arthur verschrieben. Sein Wissen über uralte Rituale war umfassend, er hatte in seiner Jugend die Welt bereist und alle okkulten Schriften und Artefakte gesammelt, derer er habhaft werden konnte. Im Alter hatte er sich dann hierher zurückgezogen, in dieses Haus am Rand des Moores, mit nur wenigen, verschwiegenen Dienstboten. Die nächsten Dörfer waren weit entfernt, denn das Moor wurde gemieden; es hieß, dass darin immer noch die Geister der alten Kelten umgingen, die einst unter den Marschstiefeln der römischen Legionäre ihr Leben gelassen hatten. Auch ich hatte als Kind, wenn Nebel aufzog, oftmals Schritte im Moor gehört und mich unter dem Tisch in der Bibliothek verkrochen. Onkel Arthur lachte dann meist nur und schenkte sich einen seiner schweren Rotweine ein, manchmal öffnete er sogar ein Fenster, wie um mich zu verspotten. Der faulige Geruch des Moores und die Nebelschwaden, die ihre blassen Finger nach mir auszustrecken schienen, hatten mich erzittern lassen.

In diesem Haus, mit diesem Mann, war ich also aufgewachsen. Ich hatte niemals eine Schule besucht, war ausnahmslos von Privatlehrern unterrichtet worden. Warum mein Onkel das wollte, hatte ich mir nie so recht erklären können, denn seinem Wesen nach war er eher ein Mensch, der einen Neffen das ganze Jahr auf ein Internat schickte. Aber trotz seiner Eigenarten schien mich der alte Mann nicht ungern um sich zu haben. War es Eitelkeit, brauchte er ein Publikum für seine stundenlangen Reden und Überlegungen? Ich weiß es nicht. Und da ich ein schwacher Charakter war, blieb ich bei ihm, auch als ich von alters her auf die Universität oder einfach in die Welt hinausgehen hätte können. Doch ich blieb und half ihm bei seinen Forschungen, beim Studium der alten Schriften und Durchexerzieren unzähliger Beschwörungen, die aber keine Ergebnisse brachten.

Wahrscheinlich wäre alles immer so weiter gegangen, wenn nicht sie in mein Leben getreten wäre. Deshalb wohnte ich nicht mehr hier, und deshalb war ich heute zurückgekommen.

 

Die Tür zum Arbeitszimmer meines Onkels stand offen. Er saß hinter dem Schreibtisch aus Mahagoni, der von Papieren und aufgeschlagenen Büchern übersät war. Das unvermeidliche Kaminfeuer brannte, flackerndes Licht fiel auf die meterhohen Bücherwände und den kunstvoll gewobenen Teppich, der einen großen Teil des Bodens bedeckte. Onkel Arthur hatte ihn vor Jahren von einem irakischen Händler erworben, unweit des alten Hatra-Tempels.

Durch das Fenster in der Mitte der südlichen Wand konnte ich das Moor erkennen. Die dicken, samtenen Vorhänge der anderen Fenster waren zugezogen.

Als er mich sah, sprang Onkel Arthur auf. Das immer noch volle, weiße Haar war ordentlich zurückgebürstet, aber das schmale, asketische Gesicht war von einem ungesunden Rot, die Stirn glänzte von Schweiß, die Augen irrten hin und her. »Clive! Ich danke dir, dass du gekommen bist, mein Junge. Setz dich!«

Ich blieb stehen. »Was willst du, Onkel Arthur?«

Er verzog unwillig das Gesicht. »Ich dachte, ich hätte dir bessere Manieren beibringen lassen.« Er rieb sich mit der Hand über den Mund, verharrte kurz. »Ich habe das Automobil nicht gehört. Wie …«

»Der Morris ist auf dem Weg hierher auf einmal stehen geblieben, gleich nach der Brücke. Ich bin zu Fuß gekommen.«

»Man hätte die Kutschen behalten sollen«, murmelte der alte Mann. »Einem Pferd kann man zumindest die Peitsche geben, wenn es störrisch ist.«

»Das bist du ja gewohnt, Onkel Arthur, nicht nur bei einem Pferd.« Ich räusperte mich. »Also, was willst du?«

Er nahm etwas vom Schreibtisch, das nach einem kleinen Bilderrahmen aussah. »Ich glaube, ich habe es geschafft. Endgültig.«

»Endgültig, wie die unzähligen Male davor?«

»Spar dir deinen Hohn!«, herrschte er mich an. Dann hob er den Rahmen in die Höhe. Ich sah, dass es kein Bild war, sondern ein vergilbter Papyrus, in Glas gefasst. Im Licht des Kaminfeuers vermeinte ich die jahrtausendealte Schrift des Alten Reiches zu erkennen, Ägyptens Goldenes Zeitalter, als die Pharaonen ihre Pyramiden in Sakkara und Gizeh hatten errichten lassen. Seitdem reckten diese Grabmäler ihre gewaltigen, steinernen Leiber in den Wüstenhimmel und würden dies bis in alle Ewigkeit tun.

»Keine Zeremonie, kein okkultes Ritual, kein Hokuspokus, wie du es nennen würdest.« Onkel Arthur wischte sich fahrig über die Stirn. »Nur Worte. Geschrieben vor über 4000 Jahren, mit dem Blut eines Mannes, der so brennend liebte, dass er alles für diese Liebe tat.«

»Liebe? Dieses Wort aus deinem Mund?« Meine Stimme triefte vor Ironie.

»Ja«, fuhr er unbeirrt fort. »Die Liebe eines Herrschers, der für seine verstorbene Geliebte die Grenze zwischen den Welten niederriss und die Frau mithilfe seiner Hohepriester aus dem Reich der Schatten zurückbrachte. Als man davon erfuhr, erhob sich das Volk, und der Herrscher, seine Frau und die Hohepriester wurden getötet. Ihre Namen wurden aus den Aufzeichnungen gelöscht, auf dass niemand jemals von ihrem blasphemischen Werk erfahren sollte. Doch ich habe davon erfahren, und es hat mich fast mein ganzes Vermögen gekostet, den einzigen Beweis für das, was damals geschehen ist, zu erwerben.« Fast zärtlich blickte Onkel Arthur den Papyrus in seiner Hand an, dann kam er näher zu mir, sodass ich die Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte. »Ich wollte auf dich warten, aber ich konnte es nicht, ich musste diese Worte aussprechen, und das habe ich vorhin getan, und nun …«

»Liebe«, sagte ich abwesend.

Er sah mich verständnislos an. »Ja, verstehst du denn nicht, was –«

»Oh, ich verstehe sehr gut, Onkel Arthur, mehr als du glaubst.« Ich lächelte, aber es war ein kaltes Lächeln, und der alte Mann wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Doch was weißt du schon von Liebe? Du, der du mich und alle in diesem Haus niemals auch nur den leisesten Hauch von Liebe hast spüren lassen?«

»Mein Junge …«

»Du«, meine Stimme wurde schneidend, »der du die einzige Frau, an der mir etwas lag, vertrieben hast? Nur weil sie dir für mich nicht standesgemäß genug war?«

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du hättest nicht bei mir bleiben müssen.«

»Das stimmt, ich hätte gehen sollen.« Ich seufzte. »Aber ich war schwach. Und als ich ging, war es längst zu spät.« Onkel Arthur starrte mich an. Seine Augen schienen mich zu durchbohren, wollten mich in die Knie zwingen, wie sie es mein ganzes Leben lang getan hatten. Aber nicht heute.

»Clive!«, sagte er eindringlich. »Ich habe dich nicht gerufen um über irgendeine …« Er brach ab. »Bist du dir darüber im Klaren, was meine Entdeckung bedeutet?«

»Weißt du, dass sie gestorben ist?« Jetzt war meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Vor ein paar Tagen, ich erfuhr es erst heute. Deswegen wäre ich so und so zu dir gekommen.«

Onkel Arthur öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Dann räusperte er sich. »Das wusste ich nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte ich verächtlich. »Nachdem du sie entlassen hattest, kehrte sie zu ihrem Vater zurück, der schon bald an der Schwindsucht erkrankte. Sie pflegte ihn bis zu seinem Ende, und danach dauerte es nicht lange, bis sie sein Schicksal teilte. So starb die Frau, die ich liebte und die ich aufgab, weil ich mich nicht gegen dich durchsetzen konnte.«

Der Mond schien durch das Fenster herein. Es war sehr still im Raum.

»All das wäre nicht geschehen, wenn du dich anders verhalten hättest, Onkel Arthur.« Zum ersten Mal sah ich in seinem Gesicht so etwas wie Zweifel. »Aber mit einer Sache hast du recht – die Toten kehren zurück. Doch nicht alle kommen aus Liebe, auch wenn Liebe eines der stärksten Gefühle ist.« Ich hielt kurz inne. »Aber stärker noch, das stärkste aller Gefühle«, meine Stimme wurde lauter, »ist Hass.«

Mein Onkel riss die Augen auf. Als ich auf ihn zuging, wich er zurück. Und als er sah, wie sich mein Gesicht veränderte, als er sah, was ich wirklich war, begann er zu schreien.

 

John Meade, der Polizist des nahe gelegenen Ortes, horchte auf. »Hast du das auch gehört, Bill?«

Der vierschrötige Bauer blickte ihn fragend an. »Nein, was denn?«

Meade zögerte, schüttelte den Kopf. »Klang wie ein Schrei. Aber ich hab mich wohl getäuscht.«

Der Polizist beugte sich wieder über das Wrack des Autos, das in der Kurve lag, direkt nach der Brücke. Das Auto war offenbar von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Bill McGregor, der Bauer, der das Wrack gefunden hatte, konnte seine Augen nicht von dem Leichnam abwenden, der verkrümmt über dem Lenkrad hing.

Meade seufzte und richtete sich auf.

»Ist er es?«, grunzte McGregor.

»Ja. Schreckliche Sache.« Meade kratzte sich an der Stirn. »Dann werde ich dem Alten wohl Bescheid sagen müssen. Du bleibst hier, bis ich wieder zurück bin.«

Der Bauer nickte stumm.

John Meade blickte in den Himmel. Wolken zogen auf und verdeckten den Mond. Bald würde es zu schneien beginnen.

Er zog den Kragen seiner Uniformjacke enger und blies sich in die Finger. Dann stieg er auf sein Rad und fuhr die Straße entlang, die zum Landhaus von Sir Arthur Mathers führte. Erst langsam, dann immer schneller.

Ein Käuzchen schrie. Der Polizist verschwand hinter dem nächsten Hügel und ließ Bill McGregor und das Wrack mit dem Leichnam von Clive Mathers hinter sich.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Autors