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Der Detektiv – Die verschwundene Million – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die verschwundene Million

1. Kapitel

Wir saßen in Harsts Arbeitszimmer beim ersten Frühstück. Die Fenster standen offen. Nach einer regnerischen Nacht strömte nun bei klarem Sonnenschein die gereinigte, erquickende Luft eines bereits von Herbstahnen erfüllten Septembertags herein.

Draußen klappte die Pforte des Gitterzauns im Vorgarten.

»Der Briefträger kommt, und zwar ist es der alte Schmiedicke«, meinte Harst. »Nur er versetzt der Zauntür stets einen Stoß mit dem Fuß, sodass sie nachher mit allzu viel Schwung zufällt. Das gibt ein anderes Geräusch beim ins Schloss fallen ab, als ob die Pforte nur durch den Federtürschließer zugeworfen wird. Der Unterschied liegt in den Nebengeräuschen der stets quiekenden Angeln. Bitte, vielleicht siehst du einmal nach, ob Schmiedicke für uns Post hat, lieber Schraut.«

Ich bezweifelte ein wenig, ob Harst recht hätte. Ich hatte ja die Pforte auch bereits unzählige Male zufallen gehört, aber noch nie eine Verschiedenheit in dem Kreischen der Angeln wahrgenommen. Harsts Personenbestimmung lediglich nach diesen die Nerven angreifenden Tönen erschien mir etwas gewagt.

Aber natürlich hatte er wieder recht! Es war Schmiedicke. Er reichte mir einen einzigen Brief, brummte was von schönem Wetter, Herbst klarem Himmel und stapfte wieder davon. Ich rief ihm noch nach: »He, bester Schmiedicke, schonen Sie doch unsere Gartenpforte.«

Wenn man wie ich Privatsekretär eines so berühmten Liebhaberdetektivs ist, gewöhnt man es sich bald an, selbst die harmlosesten Dinge als Prüfsteine für seine eigene Intelligenz, was hier so viel wie Detektivbegabung bedeutet, zu benutzen. Während ich dem Kaffeetisch zuschritt, schaute ich mir den Brief von beiden Seiten an.

Blaugrüner Geschäftsumschlag, kleines Format; Adresse mit Maschine geschrieben; Aufgabeort Berlin; abgestempelt gestern zwischen 9 bis 11 Uhr abends; Briefklappe sehr sorgfältig zugeklebt; auf der Rückseite kein Absender vermerkt, auch kein Firmenstempel oder dergleichen.

Harst besichtigte nun gleichfalls den Brief, ließ sofort ein Hm, hm! hören. »Die für die Aufschrift benutzte Schreibmaschine kenne ich«, meinte er. »Sie steht im Schreibzimmer des Universum-Klubs. Marke Habicht. Sie lässt das kleine a ein wenig über die Zeilenhöhe hinausschnellen. Ich weiß nur nicht, wer sie benutzt haben kann. Sie ist eher zum Staat da. Nur ich habe zuweilen aus Langeweile darauf herumgetippt. Ich spiele ja so gern Klavier. Und ich könnte dir hier einen langen Vortrag darüber halten, dass Tippen und Klavierspielen unsere Gedanken …« Er hatte inzwischen den Umschlag aufgeschnitten und ein rechteckiges Blättchen Papier, etwa 7 mal 9 Zentimeter groß, herausgezogen und die Anschrift schnell überflogen.

Das, was er da gelesen hatte, musste wohl recht merkwürdig sein, denn er führte den begonnenen Satz nicht zu Ende, sondern rief nun: »Entweder ein Ulk oder eine unerhörte Frechheit!«

Er reichte mir das Blättchen. Es war der obere Teil eines gestempelten Briefbogens des bekannten Klubs. Ich las. Es war wieder Maschinenschrift:

Ich bereite Sie auf den Besuch des Kommerzienrats Kammler, des Beauftragten Ihrer Wettgegner, vor. Kammler dürfte im Laufe dieses Tages merken, dass er gestern Abend seine Pflichten grob vernachlässigt hat. Ich könnte Ihnen jetzt schon sagen, welche Aufgabe Ihnen Ihre Wettgegner als Letzte stellen werden. Natürlich die, herbeizuschaffen, was verschwunden ist. Die Herren waren fest überzeugt, dass Sie siegen würden, und hatten daher alles für Ihre Niederlage schon bereit, um Ihnen feierlich die Siegespalme überreichen zu können. Zwei von diesen Herren unterhielten sich vor ein paar Tagen im Café des Westens darüber. Diese Anregung genügte mir, dem zufällig in Berlin Anwesenden, Ihnen, sehr verehrter Herr Harst, zu einer Schlussaufgabe zu verhelfen, die die Aussichten Ihrer Wettgegner wieder beträchtlich bessert. Ich möchte sogar behaupten, nicht nur bessert, sondern geradezu todsicher macht. Ich bin ein bescheidener Mensch. Aber jeder weiß, was er kann. Manche tun nur so, als ob sie noch mehr können. Das sind Leute Ihres Schlages – Leute, die eben Glück haben. Und Glück haben sie bei dieser Wette insofern gehabt, als sie es wirklich stets nur mit halben Dilettanten des Verbrechertums aufzunehmen hatten. Beweisen Sie mir, dass Sie tatsächlich so viel können, wie die ganze Welt glaubt, die in Ihnen eine Art Überdetektiv anbetet. Beweisen Sie es, und es soll mich freuen. Denn ich liebe die Intelligenz in jeder Form.

BKPKSABKMHNALGALB.

So lautete der Inhalt dieses Zettels. Sonst enthielt er nichts außer dem Klubstempel links oben in der Ecke. Von den 17 großen Buchstaben der Unterschrift war der erste, B, durchgestrichen. Dass diese Unterschrift kein Name sein konnte, war mir sofort klar. Sie musste zweifellos eine andere Bedeutung haben. Harst hatte mein Gesicht beobachtet, lachte jetzt herzlich auf. »Du schaust etwa so drein, als hätte ein Zauberer plötzlich das Steinbild der ägyptischen Sphinx, dieses Symbols des Rätselhaften, vor dir aufgebaut. Dabei ist die Geschichte doch recht einfach. Entweder hat ein Klubmitglied sich einen Scherz machen und mich etwas in Unruhe versetzen wollen oder die Million ist tatsächlich gestohlen.«

»Welche Million?«, platzte ich heraus.

»Aber Schraut, aber Max Schraut, du Leuchte aller Privatsekretäre! Lies doch nochmals den Zettel! Der Inhalt weist doch darauf hin, dass jemand die Siegespalme gestohlen hat, meine Siegespalme, eben die Million, die mir meine Wettgegner zu zahlen haben, wenn ich …«

Draußen war ein Auto vorgefahren. Harst schwieg plötzlich, eilte ans Fenster. Da hörte ich schon eine Stimme.

»Dem Himmel sei Dank, dass Sie daheim sind, bester Harst!«

Ich trat neben Harald, sah, wie Kommerzienrat Kammler den Chauffeur bezahlte, wie er dann, uns erregt zuwinkend, durch den Vorgarten dem Haus zustürmte. Ich ließ ihn ein. Ganz atemlos sank er in den nächsten Klubsessel, warf den Hut achtlos auf den Teppich, trocknete sich die vom Schweiß feuchte Stirn und schaute Harst mit Augen an, in denen meines Erachtens ein viel zu starker Ausdruck hellen Entsetzens lag, als dass es sich hier nur um eine gestohlene Million handeln könnte. Die Mitglieder des Universums-Klubs waren ja sämtlich reich! Was konnte es den Wettgegnern Harsts da ausmachen, ihre Anteile an der Wettsumme auf diese Weise eingebüßt zu haben!

»Aber bester Kammler, wegen einer Million!«, meinte er achselzuckend.

Der Kommerzienrat schnellte hoch. »Sie … Sie wissen bereits?«, stieß er hervor. »Ja von wem denn? Ich habe ja noch keinem Menschen etwas …«

Harst reichte ihm die seltsame Benachrichtigung mit der nicht minder seltsamen Unterschrift. Kammler überflog die getippten Zeilen, stotterte dann, abermals mit einem so furchtbaren Grauen im Blick, dass ich mich auf Außerordentliches gefasst machte.

»Das … das ist ja nicht alles. … Unten … im Tresor … lag – nein, liegt noch … die Leiche des Klubdieners Häske. … Ich … ich habe die Tür … wieder zugeworfen und bin … hier zu Ihnen gefahren …«

Harsts Gesicht straffte sich. Die Wangenknochen traten schärfer hervor. Die Lippen schienen zu verschwinden, so fest presste er sie aufeinander. Dann ein Sprung zu dem Fenster.

»Chauffeur, Chauffeur, warten Sie!«

Der Mann hatte sich beim Anzünden einer Zigarette, die er heimlich und schnell genießen wollte, etwas länger aufgehalten.

»Gehen wir, lieber Kammler«, wandte Harst sich nun an den Kommerzienrat. »Im Auto erzählen Sie die Einzelheiten. Vorher aber noch ein Gläschen Sherry. Keine Widerrede! Sie müssen. Sie sind ja vollständig verstört. So wie heute habe ich Sie noch nie gesehen.«

Gleich darauf fuhren wir zum Haus des vornehmsten Klubs der Reichshauptstadt. Kammler hatte nun etwas von seinem seelischen Gleichgewicht wiedergewonnen und berichtete Folgendes.

 

*

 

Gestern gegen sechs Uhr nachmittags hatte er allein im Vorstandszimmer des Klubs gearbeitet, Rechnungen geprüft, die Bücher in Ordnung gebracht und dabei aus dem halb in die Wand eingemauerten Stahlschrank wiederholt dies und jenes von Papieren herausgenommen. Dabei hatte er zweimal nach dem im ersten Stock bedienenden Häske, einem älteren Mann mit graublondem Vollbart geklingelt und sich Erfrischungen bringen lassen. Der Klub war gestern von keinem anderen der Mitglieder um diese Zeit besucht worden, weil in Hoppegarten ein Rennen stattfand. Um sieben etwa war Kammler mit seiner Arbeit fertig geworden, hatte die Bücher und Papiere wieder in den Tresor eingeschlossen und sich in die Ecke des Ledersofas gesetzt, weil er sich abgespannt fühlte. Er war dann eingeschlafen und erst munter geworden, als ein anderes Vorstandsmitglied, der Freiherr von Bolly, das Zimmer betreten und ihn wachgerüttelt hatte. Dies geschah gegen viertel zehn.

Kammler war dann sofort mit Herrn von Bolly, dem bekannten Universitätsprofessor für orientalische Sprachen, in die unteren Klubräume gegangen, wo sich etwa zwanzig Herren befanden. Er hatte mit wenig Appetit im Speisesaal mit Bolly zusammen noch zu Abend gegessen und war schon um halb zwölf zu Hause, ging zu Bett und wurde erst gegen acht Uhr morgens von seinem Diener geweckt, der ihm meldete, dass die Frau des Klubdieners Häske ihn sprechen wolle. Ihr Mann sei gestern nicht aus dem Klub heimgekehrt, obwohl sein Dienst doch schon um neun Uhr abends beendet gewesen wäre.

Kammler beruhigte die Frau, begab sich denn auch, um sofort über den Verbleib dieses ältesten Angestellten des Klubs Nachforschungen anzustellen, nach dem von außen so schlichten, aber infolge des als Baumaterial überall mitverwendeten Sandsteins, außerordentlich vornehm wirkenden Eigenheim des Klubs und sehr bald in das Vorstandszimmer, da er von dem Pförtner nur das eine hatte in Erfahrung bringen können, dass der alte Häske, wie er allgemein genannt wurde, kurz nach acht Uhr bereits das Haus verlassen hätte. Der Zufall wollte es, dass Kammler, kaum im Vorstandszimmer angelangt, durch einen der Diener eine Rechnung eines Weinhauses vorgelegt erhielt und sofort das Geld dem Boten mitgeben wollte. Er schloss den Tresor auf, gab dem Diener die Summe und wollte die Tür schon wieder zudrücken, als ihm auffiel, dass aus einem der Mittelfächer ein Blatt Papier ein Stück hervorschaute.

Kammler, die Ordnungsliebe in Person, wusste nun ganz genau, dass er gestern alles ganz sorgfältig weggepackt hatte und dass ihm schon gestern Abend diese Papierecke hätte auffallen müssen, die sich von dem dunklen Anstrich der Innenfächer so deutlich abhob. Ein unbestimmter Argwohn ließ ihn nun den Tresor auf den Inhalt hin genauer prüfen. Zu seinem Schreck hatte er denn auch bald festgestellt, dass die in einem besonderen Fach niedergelegte Million, 1.000 Banknoten zu tausend Mark in einem versiegelten Päckchen, verschwunden war. Als er nun in wilder Hast auch alle anderen Gelasse des fast drei Meter hohen und etwa anderthalb Meter breiten Panzerspindes durchsuchte, als er schließlich sogar die untere, nur für Geschäftsbücher bestimmte Hälfte des Schranks öffnete, war er mit einem Schrei zurückgeprallt, denn eng zusammengepresst hatte er darin einen Mann erkannt, dessen wachsbleiches verzerrtes Totengesicht ihn aus verglasten Augen wie ein furchtbarer Spuk angegrinst hatte.

Aber es war kein Spuk gewesen! Es war Georg Häske, der treue, erprobte Klubdiener.