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Der Detektiv – Die wandelnde Mumie – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die wandelnde Mumie

4. Kapitel

Ein nächtliches Verhör

Nachdem Harst sich auf das flache Dach geschwungen hatte, brachte ich die Leiter in den Hof zurück, verkroch mich dann in einem nahen Gebüsch, das etwa drei Meter von der Mitte der Mauer entfernt war.

Erst nach Mitternacht – inzwischen hatte es zu regnen begonnen, wenn auch nicht allzu stark – hörte ich leise Schritte. Nun tauchten zwei Gestalten auf, verschwanden dem Hof zu, kamen gleich darauf mit der Leiter zurück und lehnten sie gegen die Mauer. Der größere Mann von beiden kletterte nach oben.

Ich schob mich nun sacht hinter den, der an der Leiter lehnte und sich offenbar sehr sicher fühlte. Das Rauschen des Regens begünstigte mein Vorhaben. Ich richtete mich langsam auf, holte aus, schlug mit dem Sandsack mit aller Kraft zu. Mein Gegner knickte auch in die Knie, fuhr jedoch sofort herum, packte mich an der Kehle und warf mich hinten über. Der Mensch hatte Bärenkräfte. Sein bärtiges Gesicht lag dicht über mir. Vor meinen Augen sprühten bereits Funken.

Ich schickte einen letzten hilfesuchenden Blick zu der Leiter hin und sah eine Gestalt blitzschnell daran herabrutschen, fühlte, dass die würgende Hand losließ, hörte einen dumpfen Schlag, dann ein Ächzen und nun Harsts Stimme.

»Hier ist starker, geölter Bindfaden, Schraut! Fesseln Sie den Kerl. Der andere liegt oben …«

Er stieg schnell wieder die Leiter empor. Ich schob meinen bewusstlosen Gegner auch mein Taschentuch in den Mund. Nun war er wehrlos, und ich konnte Harst folgen. Ich wollte doch sehen, wer der andere war. Außerdem mussten wir diesen Mann doch ebenfalls nach unten schaffen.

Als ich auf das Dach kroch, bemerkte ich sofort den feinen Lichtstrahl von Harsts Taschenlampe. Er kniete neben dem ebenfalls ohnmächtigen, bereits gefesselten und geknebelten Menschen und untersuchte dessen Taschen.

Ich beugte mich tief herab. Der Mann war jung und völlig bartlos.

»Es ist der Chauffeur«, flüsterte Harst. »Der schwarze Schnurrbart mittags war nur angeklebt.«

Er zeigte mir einen aufgerollten Bindfaden, an dessen einem Ende ein zusammengefalteter Zettel festgebunden war.

»Sehen Sie, Schraut, dies ist die Nachrichtenübermittlung«, meinte er. »Wir werden sie sofort ausprobieren.«

Er legte sich nun lang auf das Dach gerade über dem mittleren Fenster des Mumiensaals, schob den Oberkörper etwas über den Dachrand hinaus und ließ den Zettel, den er vorher noch gelesen hatte, hinab. Ich hatte mich neben ihm niedergelassen. Es dauerte recht lange, ehe Harst den Bindfaden wieder hochzog. Daran hing wieder ein Zettel. Er band ihn los und überflog ihn beim Licht der Taschenlampe gab ihn danach mir, indem er flüsterte: »Der erste lautete: Wir haben beide fest und die Depesche an B. abgesandt. Du bist nun ganz sicher. Hier nun die Antwort, die Sie selbst lesen können.«

Ich las, während er mir leuchtete: »Beide waren heute hier. Aber mein Versteck ist sicher. Bis Rückkehr und der große Schlag also morgen Abend wahrscheinlich. Haltet Euch bereit. An mir soll es nicht liegen.«

Harst steckte den Zettel zu sich. Wir warteten, bis der Chauffeur das Bewusstsein wiedererlangt hatte, befreiten ihn von den Fußfesseln und zwangen ihn, die Leiter hinabzusteigen, wobei Harst ihn von oben stets festhielt, während ich vorankletterte. Eine Flucht dieses Menschen war also ausgeschlossen. Unten wurden ihm wieder die Beine gebunden. Wir trugen die beiden Gefangenen einzeln zu einer Glaslaube im rückwärtigen Teil des Gartens.

Dort nun – mittlerweile war auch der Bärtige erwacht – unterzog Harst diesen einem Verhör, das er mit den Worten einleitete: »Sie sind unser Gefangenenwärter, der angebliche Ingenieur Meinert. Sie haben nun wohl eingesehen, dass es sehr richtig von Ihnen war, mich nicht zu verhöhnen. Wollen Sie jetzt ein Geständnis ablegen?«

Der Mensch besaß die Frechheit, Harst ins Gesicht zu lachen. Wir hatten ihm den Knebel vorher aus dem Mund entfernt.

»Geständnis? Niemals! Was soll ich gestehen. Was kann man uns vorwerfen! Höchstens doch Freiheitsberaubung, weil wir Sie beide ein paar Stunden eingesperrt haben.« Er lachte abermals. Aber dieses Lachen klang doch gezwungen.

»Und der König Eneochar?«, meinte Harst gelassen.

»Wer ist das? Kenne ich nicht«, erwiderte der Mensch achselzuckend.

In unserem Gefängnis hatte er anders geredet.

Ein Versuch, den Chauffeur zum Sprechen zu bringen, scheiterte gleichfalls.

Harst entnahm nun den Taschen unserer Gefangenen alles, was sie enthielten. Da fing der Bärtige, der übrigens ein recht intelligentes Gesicht hatte, zu drohen an.

Harst hatte des Bärtigen Brieftasche zur Hand genommen, sah die Papiere durch, breitete sie auf dem Tisch der Laube aus und meinte nach einer Weile: »Ah, sehr interessant! Hier ist ja ein Brief, gerichtet an Herrn Elektrotechniker Franz Wilke, unterzeichnet mit Bela Matsareck; Datum vom 18. April des Jahres, Absendeort: Bad Pyrmont. Sieh da – Pyrmont! Wie gut, dass ich den Berufsdetektiv Holtz dorthin geschickt habe. Schraut, hören Sie sich den Inhalt an.

Lieber W!

Bisher alle Versuche, die H. zu erobern und auf diese Weise zum Ziel zu kommen, umsonst. Reisen demnächst ab. Werden also doch die Mumie opfern müssen. Sonst wird aus der Geschichte nichts.

Das Weitere ist unwesentlich. H. ist natürlich Hildegard. Und Herr Bela Matsareck also der ungarische Mumienhändler. Die Sache klärt sich bedeutend. Aha, hier haben wir ja auch eine vorgestern beglichene Hotelrechnung. Hotel Stadt Berlin, Mohrenstraße ausgestellt für Herrn Ingenieur Franz Wilke und Frau, Zimmer 19. Also dort wohnen Sie, Herr Wilke alias Meinert. Na, dann werden wir Ihre Frau ja auch bald festnehmen können. So, nun zu Ihnen!«

Damit befühlte er nochmals die Taschen des Chauffeurs. In der Innentasche der Weste trug dieser ein Glanzlederstück, in das außer anderen Papieren auch ein Chauffeurzeugnis für Ernst Pakschat, Berlin N., Borsigstraße 5, eingeschlagen war. Dieser Mann war also tatsächlich Chauffeur.

»Für heute genügt es«, meinte Harst. »Jetzt werde ich das Berliner Polizeipräsidium anrufen und Sie beide abholen lassen. Ich bin dort gut bekannt. Man wird mir ohne Weiteres gestatten, diesen Fall allein zu Ende zu führen. Auch Frau Wilke dürfte sehr bald ihr Zimmer 19 mit einer Untersuchungszelle vertauschen.«

Ich blieb als Wächter in der Laube zurück. Nach einer halben Stunde bereits wurden die beiden Verbündeten in aller Stille fortgeschafft.

Wir aber machten uns auf den Heimweg. Der Morgen graute bereits. Das Gewölk war verschwunden. Der neue Tag versprach das Beste.

»Nun, Schraut, jetzt werden Sie mir doch wohl als mein Schüler Ehre machen und mir Ihre Ansicht über die wandelnde Mumie auseinandersetzen können«, sagte Harst gutgelaunt, während wir durch die stillen Straßen wanderten.

»Hm«, erklärte ich zögernd. »Das beide auf den Zetteln bezog sich auf uns. Und die in dem ersten Zettel erwähnte Depesche ist wohl an den Geheimrat Burmeester gerichtet, zu dem Zweck, ihn unter einem Vorwand nach Berlin zu locken. Was aber mit dem großen Schlag gemeint ist, weiß ich nicht.«

»Ich auch nicht – Tatsache!«, gab Harst lächelnd von sich. »Aber wir werden auch hinter diese noch offene Frage kommen. Wertvoll und entlastend für Hildegard ist der Brief, den der Ungar an Wilke aus Pyrmont geschickt hat. Wenn unser Abgesandter Holtz von dort zurück sein wird, dürfte er uns Folgendes berichten, falls er bei seinen Nachforschungen einigermaßen Glück gehabt hat: Fräulein Burmeester hat in Pyrmont ohne Wissen ihres Vaters mit einem Ungarn verkehrt, der ihr sehr den Hof machte, ohne jedoch ihre Liebe erringen zu können. So ungefähr dürfte Holtz’ Auskunft lauten. Wesentlich anders kaum, denn, weshalb hat Hildegard uns verschwiegen, dass sie den Mumienhändler persönlich kannte, von dem ihr Vater den König Eneochar erwarb? Doch nur, weil sie sich scheute, zuzugeben, er hätte sich ihr schon während des Badeaufenthalts in Pyrmont genähert, wovon der Geheimrat freilich nichts wusste. Hätte dieser hiervon Kenntnis, dann würde der alte Diener Karl uns heute kaum erklärt haben: Der Geheimrat hat den Verkäufer nicht weiter nach Namen und Heimat gefragt. Hildegard an sich wohl recht harmloses Geheimnis ist damit aufgedeckt, ihre Beziehungen zu der wandelnden Mumie sind geklärt. Es muss sie ja ganz besonders erschreckt haben, dass gerade die Mumie, die von ihrem Anbeten, der sie nicht erobern konnte, herstammte, am Fenster stand und zu ihr hinüber starrte. Dass diese wandelnde Mumie der geschickt herausgeputzte Matsareck selbst ist, ahnt sie nicht. Wie sollte sie auch? Matsareck hat sich ihr ja auch fraglos nicht absichtlich gezeigt, nein, er wartete eben in der Nähe des Fensters auf eine Nachricht oder auf Lebensmittel, die seine Kumpane ihm am Bindfaden vom Dach herab zuführen sollten. Nun bleibt, wie gesagt, nur noch eins zu klären: Was hat es mit dem großen Schlag auf sich?«

»Hm – und das Versteck Matsarecks im Mumiensaal?«, fragte ich zögernd. »Ich wüsste nicht, wo sich dort ein Mensch verbergen sollte – wirklich nicht!«

»Ja, lieber Schraut, das Versteck hängt eben mit dem Trick zusammen, durch den der Ungar sich dort eingeschmuggelt hat. Doch lassen wir das für morgen.«