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Der Detektiv – Die wandelnde Mumie – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die wandelnde Mumie

3. Kapitel

Harsts Kombinationen

Wie endlos lang sich Minuten recken können, erfuhr ich heute wieder einmal. Ich wartete nämlich nun voller Ungeduld auf den Abend, auf die kleine Abwechselung, wenn wir gefüttert werden sollten. Aber mir schien es ein voller Tag zu sein, ehe die Dämmerung draußen eintrat, ehe die Schatten der Dunkelheit unser Gefängnis zu füllen begannen.

Plötzlich Harsts leise Stimme: »Geben Sie jetzt auf jedes Geräusch acht, aber Sie selbst kein Wort!«

Ich horchte, strengte meine Ohren wie nie zuvor an. Bisher war im Haus auch nicht ein Laut vernehmbar gewesen. Es dauerte recht lange, bis ich dann ein Knarren hörte – von losen Dielen vielleicht.

Da sagte Harst mit ziemlich kräftiger Stimme: »Wenn die Kerle uns nur nicht hungern lassen! Still liegen will ich ja gern, weil es eben sein muss. Aber hungern und gleich drei Tage! Nein, das …«

Die einzige Tür des Zimmers, links von mir, öffnete sich in diesem Augenblick. Ein Mann trat ein – unser Wächter. Er brachte eine brennende Laterne und einen Korb mit. Ich will hier nicht im Einzelnen schildern, wie er uns dann fütterte, jedenfalls so, dass wir ihm dabei nichts anhaben konnten.

Er warnte uns nochmals vor dem elektrischen Strom, worauf Harst erklärte: »Ich bewundere Ihre Erfindungsgabe, Mann. Diese Art, einen Fluchtversuch zu verhindern, ist recht praktisch. Was macht denn die Mumie des Königs Eneochar?«

Hinter der langen Seidenmaske kam ein kurzes Auflachen hervor. »Oh, der geht es gut, Herr Harst! Nicht wahr, Sie möchten zu gern wissen, was wir vorhaben. Nur Geduld! Noch ein paar Tage, und Sie werden mehr davon hören, als Ihnen lieb und Ihrem Ruf als genialer Detektiv dienlich ist. Überhaupt, ich hätte Sie für schlauer gehalten. Fräulein Burmeester wird Ihnen doch fraglos heute Vormittag auch erzählt haben, dass sie ständig überwacht wird. Wie konnten Sie da so gutgläubig das Auto besteigen, nur weil der Chauffeur die Leimrute mit dem Namen Koblenz legte? Wir wussten ja schon gestern Abend, dass wir es mit Ihnen zu tun bekommen würden. Das Fräulein war ja gestern gegen sieben Uhr abends bereits einmal vergeblich in Ihrer Wohnung. Damals waren Sie noch verreist. Inzwischen konnten wir dann hier alles zu Ihrem Empfang bereit machen. Ja, Sie sehen, es gibt auch noch klügere Köpfe, als Sie es sind. Sie können sich jetzt Ihr Hirn noch so sehr zermartern. Sie werden weder hinter unsere Absichten kommen noch vor der Zeit frei werden, nein, erst dann, wenn wir von auswärts die Berliner Polizei benachrichtigen, dass der berühmte Harald Harst dort und dort gebunden liegt. Und dann sind wir über alle Berge, Verehrtester! Doch ich will Sie nicht verhöhnen. Wenn Sie erst wissen, was wir planten, werden Sie selbst sagen: Der, der das ersann, war mir über. So, und nun gute Nacht, meine Herren. Morgen früh sehen wir uns wieder.«

Er nahm Korb und Laterne auf, wandte sich zum Gehen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als Harst ihm nachrief: »Sie, darf ich um eine Zigarette bitten? Ich bin leidenschaftlicher Raucher.«

Der Maskierte öffnete die Tür ein wenig. »Bedauere, das darf ich nicht gestatten«, erklärte er und schloss sie wieder.

Nach einer Weile sagte Harst: »Ich bin hundemüde, will zu schlafen versuchen. Gute Nacht, Schraut! Morgen bitte ich den Mann, uns die Hände vorn zu fesseln. Ich muss immer halb auf der Seite liegen. Gute Nacht!«

Nach abermals einer geraumen Zeit glaubte ich wieder ein Knarren von Dielen zu hören. Und gleich darauf vernahm ich Harsts Flüstern: »Schraut, der Kerl hat jetzt wieder das Haus verlassen. Nun kann es also losgehen. Sie werden fragen: Was? Natürlich der Befreiungsversuch!«

»Um Himmels willen, denken Sie an die Gefahr, die …«

»Oh, daran habe ich schon gedacht. Bereits, als es noch ganz hell war, als der Kerl die Gummihandschuhe überzog. Ja, Gummi schützt vor elektrischen Schlägen, isoliert. Ganz gefährliche Halunken sind es, mit denen wir es zu tun haben. Aber doch nicht schlau genug, mein lieber Schraut! Unser Wächter hat eins übersehen, dass ich zu meinem Gasarbeiterkostüm Segeltuchschuhe mit Gummisohlen trage. Ich kann also ganz getrost mit meinem Körper so herumwirtschaften, dass die Kopfplatte umkippt. Meine Gummisohlen verhindern ja den Stromschluss. Und die Stricke, die mir unter den Armen durchgezogen sind, hoffe ich schon klein zu kriegen. Warten Sie …«

Es war nun ganz dunkel geworden. Ich hörte verschiedene scharfe Rucke, dann Harsts Stimme: »Verdammt, sie halten! Nun ist soeben auch die Platte umgekippt. Sie liegt mir auf der Stirn. Von elektrischem Strom keine Spur. Gepriesen seien die alten Tennisschuhe! Jetzt probiere ich es mit der Fußplatte. Vielleicht lassen sich dort die Stricke hochstreifen.«

Ich spürte an den Füßen wieder verschiedene Rucke.

Dann: »Ich bin frei, Schraut!« Harsts Stimme gab deutlich den Triumph wieder. »Das heißt, ich bin noch immer an den Händen und an die Mauer gefesselt. Aber von der Mauer werde ich sofort los sein.«

Tatsächlich trat er sehr bald an das Kopfende meines Lagers, bückte sich und sagte: »Lieber Schraut, ich muss Sie jetzt allein lassen. Ich werde irgendein Fenster mit dem Kopf eindrücken, denn meine Stahlfesseln sind besser als das elektrische Hinrichtungsbett, werde zur nächsten Polizeistelle oder sonst wohin eilen, wo man mir die Dinger durchfeilt, und hole Sie dann. Auf Wiedersehen …«

Er blieb eine halbe Stunde etwa weg. Ich hatte deutlich das Splittern von Glas gehört, als er das Zimmer verlassen hatte. Nun Schritte draußen, nun ein Lichtschein.

Es war Harst in Begleitung von zwei Kriminalbeamten. Gleich darauf konnte auch ich mich erheben, wurde schnell von meinen Handfesseln befreit. Harst gab den beiden Beamten noch verschiedene Verhaltungsmaßregeln. Sie sollten hierbleiben und jeden festnehmen, der das Haus betrat. Dann ging Harst voraus; erst in einen Flur, nun vier Stufen abwärts; dann links in eine Kellerwohnung. Hier krochen wir durch ein Fenster. Wir befanden uns nun in einem großen Park. Ich sah ringsum in der Ferne Lichter schimmern.

»Das Haus gehört zu der Villa des Herrn von Henkerling«, sagte Harst. »Wir befinden uns hier auf heimatlichem Boden, in Alt-Schmargendorf. Ein gewisser Meinert hat das Haus heute früh gemietet. Ich habe Henkerling vorhin ausgefragt. Meinert hat sich als Ingenieur ausgegeben. Er wollte es mit seiner Frau bewohnen, aber erst nach ein paar Tagen einziehen. Heute Nachmittag hat er etwas von seinen Sachen bereits hergeschafft – Teppiche, das waren wir, Schraut! Eine tolle Geschichte. Wer weiß, wie sie endet.«

Wir gingen einen Fahrweg entlang, kamen an der Villa vorüber und betraten die Straße. Eine Elektrische ratterte herbei. Ah, das war es also gewesen, was ich gehört hatte. Wir stiegen ein, und eine Viertelstunde später standen wir in Harsts Arbeitszimmer.

»So«, meinte er, »nun können wir wieder wir selbst werden. Und dann zum Museum. Vielleicht bringt uns diese Nacht schon einen besseren Erfolg, als dieser Anfang heute ihn verhieß.«

Gegen zehn Uhr brachen wir auf, fuhren mit einem Auto zur Grunewaldkolonie und gingen dann zu Fuß zu einer Straße, deren eine Villa mit der Rückfront an die Burmeesters grenzte. Wir kletterten über den Zaun, schlichen durch den fremden Garten und kletterten wieder über einen Zaun. Nun befanden wir uns auf dem Grundstück des Geheimrats.

Die Nacht war dunkel; der Himmel dicht bewölkt. Hin und wieder fielen ein paar Tropfen. Aber zu einem Regenguss kam es zum Glück nicht. Harst bog in den Hof ein.

Wir sahen, dass Hildegards Fenster hell erleuchtet waren.

»Der Lichtschein stört«, flüsterte Harst. »Wir müssen warten. Stellen wir uns dort in die Haupttür des Museums.«

Ich hatte keine Ahnung, was er eigentlich beabsichtigte.

Er war ja nie sehr redselig. Und dabei hätte ich so viel zu fragen gehabt – so sehr viel! Ich wusste bisher ja nichts von den Zusammenhängen der einzelnen Ereignisse, die mit diesem neuesten Fall verknüpft waren. Harst hatte mir vorhin daheim nur gesagt, dass der Maskierte seine Taschen durchsucht und ihm den Schlüssel der Villa abgenommen hätte. Ich freute mich daher, als er nun wenigstens etwas den Schleier lüftete.

»Nun, Schraut wie denken Sie über diese ganze Geschichte?«, begann er. »Wir haben jetzt die beste Zeit, die Dinge einmal kritisch zu beleuchten. Wir haben bisher Folgendes festgestellt oder aber uns erzählen lassen: Der Geheimrat kauft vor zehn Tagen etwa eine ägyptische Mumie. Dann verreist er nach Schweden, und die Mumie wird nachts lebendig, stellt sich ans Fenster und wird von zwei einwandfreien Zeugen gesehen. Da nun in das Museum, wie wir heute nachgeprüft haben, unmöglich heimlich einzudringen ist – ich betone dies besonders – muss man annehmen, dass ein Fremder durch einen schlauen Trick sich in den Mumiensaal eingeschmuggelt hat und sich dort noch immer aufhält, denn hinaus kann er so ohne Weiteres nicht, eben auch nur durch einen neuen Trick. Ich sage: Er hält sich dort noch immer auf. Und ich habe auch Beweise dafür. Dieser Mensch spielt also nächtlicherweile die Mumie des Königs Eneochar. Wozu? Weshalb lässt er sich tagelang dort einschließen? Nun, ich glaubte zunächst, er wollte dem Tresor zu Leibe gehen. Aber der Stahlschrank zeigt nirgends Spuren einbrecherischer Tätigkeit. Derartige Versuche wären auch aussichtslos. Der Tresor ist das Beste vom Besten – unangreifbar, selbst für Dynamit oder andere Sprengmittel. Ich bin daher anderer Meinung geworden. Hier wird irgendetwas vorbereitet, was so fein ausgeklügelt ist, dass meine bisherigen Feststellungen nicht dazu ausreichen, durch bloße logische Schlüsse das Richtige zu finden, obwohl – Fräulein Hildegards Benehmen heute Vormittag bei uns einen gewissen Anhalt dafür gibt, dass sie irgendwie zu dieser Sache in einer etwas fragwürdigen Beziehung steht. Vielleicht kennt sie gar den, der dort im Mumiensaal herumgeistert – vielleicht! Liebe ist manchmal erfinderisch! Das Fräulein kam ja erst zu uns, als auch der alte Karl den toten König am Fenster gesehen hatte, besser den, der ihn nachts darstellt. Andererseits deutet aber Hildegards offenbare Angst vor der wandelnden Mumie auch wieder darauf hin, dass es sich nicht um einen heimlich dort oben von ihr versteckt gehaltenen Liebhaber handelt. Wir sehen uns hier also in einem bösen Labyrinth, lieber Schraut. Ich möchte nun eine Liebesgeschichte auch deshalb ausschalten, weil mir dabei zu viel Personen beteiligt sind: erstens doch der Mumiendarsteller, dann die schwarze Frau, die Verfolgerin, weiter noch der Chauffeur und unser kräftiger Gefangenenwärter. Der Chauffeur war nämlich einer der beiden, die uns mit Revolvern bedrohten. Er hatte nur schnell eine Seidenmaske vorgebunden. Weiter auch, weil diese Bande mit recht kostspieligen Mitteln arbeitet: Auto, gemietetes Haus, und weil schließlich die stete Überwachung Hildegards beweist, dass die Bande fürchtete, das Fräulein könnte sich an die Polizei wenden, nachdem sie den Mumienkönig zum ersten Mal am Fenster gesehen hatte. Von dieser steten Beobachtung merkte Hildegard ja erst vor einigen Tagen etwas. Vorher werden die Leute sie nicht für nötig gehalten haben. Dann aber hat der Mumiendarsteller seinen Verbündeten Nachricht gegeben, dass er sich leider hat blicken lassen, und nunmehr setzt die Überwachung ein.«

»Nachricht gegeben«, warf ich zweifelnd ein. »Der Mann kann ja doch nicht heraus, sagten Sie vorhin, Herr Harst!«

»Aber Schraut, die Leiter, die wir gleich benutzen werden! Die Leiter! Und die Eindrücke der Leiterenden, die ich hinter dem Museum in der Erde fand, ferner auf dem flachen Pappdach des Museums sandige Fußspuren. Da ging mir ein Licht auf …« Harst fuhr schon fort: »Schließlich auch noch die Leitersprosse, von der ich doch einen Span abschnitt. Vorhin daheim, als Sie sich umzogen, habe ich ihn untersucht. Wissen Sie, was daran klebte? Nicht etwa Blut! Nein, talgig gewordene Bratentunke, ein Beweis, dass der Eingeschlossene von seinen Genossen recht gut verpflegt wird. Sie haben ihn ein warmes Gericht bringen wollen. Beim Erklettern der Leiter muss der Topf oder der Kessel umgekippt sein und etwas von der Tunke floss heraus. Dieses warme Gericht, lieber Schraut, zwingt uns nun auch, den Gedanken völlig fallen zu lassen, Hildegard könnte einen Liebsten dort oben verbergen. Den würde sie ja auch selbst verpflegen. Alles in allem: Die Sache bleibt dunkel! Da hat der stiernackige Prahlhans heute vorläufig – also vorläufig – ganz recht gehabt. Fein ersonnen ist dieser Plan! Aber wir werden ja sehen, ob nicht ich derjenige bin, der ihm über ist! Ah, Hildegards Fenster sind dunkel. Nun schleunigst die Leiter geholt und hinauf aufs Dach! Wenn ich oben bin, tragen Sie die Leiter wieder zurück. Dann verbergen Sie sich an der Rückseite des Museums in den Büschen. Wahrscheinlich wird einer der Kerle nachher unten an der Leiter Wache halten. Den nehmen Sie aufs Korn. Entkommen darf er auf keinen Fall. Hier – dieses Instrument genügt. Versuchen Sie ihn von rückwärts niederzuschlagen.« Er reichte mir ein Leinentuch, in das feuchter Sand oben eingebunden war. Er hatte daheim zwei von diesen Totschlägern hergestellt.