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Der Detektiv – Der Fluch eines Geschlechts – 5. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Der Fluch eines Geschlechts
5. Kapitel

Der lange Stock

Wir schliefen bis gegen drei nachmittags. Dann musste uns Frau Höppner eine einfache Mahlzeit zubereiten, und um vier läuteten wir an der Gitterpforte der Friedrichsburg.

Der Diener öffnete uns. Er hatte ein faltiges, glatt rasiertes Fuchsgesicht und sehr argwöhnische Augen. Harst erklärte, den Herrn Baron in einer rein persönlichen Angelegenheit sprechen zu wollen.

Der Diener ließ sich die Namen nennen, – Brüder Ernst und Oskar Hevelke, Versicherungsbeamte, – führte uns ins Haus, hieß uns in der sehr prunkvollen Diele warten, kehrte sehr bald zurück und geleitete uns in den Garten, wo der Baron in einem Liegestuhl, neben sich einen gedeckten Kaffeetisch, unter einer Kastanie saß.

Er erhob sich, war recht freundlich und fragte nach unseren Wünschen.

Harst tat nun sehr verlegen. »Entschuldigen Sie, Herr Baron, wir haben uns geirrt«, meinte er. »Wir kamen in der Hoffnung her, in Ihnen einen Bekannten begrüßen zu können. Mein Bruder und ich waren vor fünf Jahren längere Zeit im Auftrag einer englischen Versicherungsgesellschaft in Keetmannshoop, lernten dort einen Baron von Malwack flüchtig kennen und hofften nun hier in Ihnen diesen Herrn wiederzufinden, der sich dann vielleicht hätte versichern lassen. Man verdient doch gern die Provision. Entschuldigen Sie also gütigst, Herr Baron. Wir sind ganz zufällig auf Ihren Namen aufmerksam geworden. Wir wohnen als Sommergäste bei dem Maurer Höppner, und durch das gestrige Unglück mit den Hunden …«

»Oh, da bedarf es doch keiner Entschuldigungen, meine Herren wirklich nicht. Also in Keetmannshoop waren Sie mal. Na, dann haben Sie dort meinen Vetter kennen gelernt, der damals auf meiner Farm als Jagdgast weilte. Ich bin ja auch alter Transvaaler.«

Mir fiel es auf, dass er dann sofort das Thema wechselte.

Harst verabschiedete sich bald, fragte dann aber noch zögernd, ob der Herr Baron nicht doch vielleicht Lust hätte, sein Leben versichern zu lassen.

Doch der lachte zwanglos und meinte: »Für wen wohl? Ich bin Junggeselle und habe für mich genug. Nein, so leid es tut, meine Herren, aber …«

»Und Ihre Hausangestellten, Herr Baron?«

»Sie scheinen ja ein sehr eifriger Beamter zu sein«, gab der frühere Farmer lachend von sich. »Ich will sie fragen, und dann gebe ich Ihnen Bescheid.«

Wir gingen wieder.

Auf der Straße sagte Harst:  »Wir brauchen das Album nicht mehr. Deshalb habe ich von dem Diebstahl abgesehen. Wir hätten ihn vielleicht ermöglicht, wenn wir uns das Haus hätten zeigen lassen. Nun, wir sind um eine Schwierigkeit herumgekommen. Dieser Baron ist entweder nie in Afrika gewesen oder hat guten Grund, diese Erinnerungen nicht aufzufrischen. Deshalb vermied er ein Gespräch über Keetmannshoop. Die Hauptsache: Er ist harmlos geblieben und ich kann mir auch die Depesche sparen.«

Wir suchten das Postamt auf. Harst rief die Berliner Kriminalpolizei an, bat um sechs Beamte für die Nacht, denen er abends um neun Uhr auf dem Bahnhof Wannsee die nötigen Weisungen geben würde.

Bis gegen 7 Uhr abends ruderten wir auf dem kleinen Wannsee herum, lediglich, um uns die Zeit zu vertreiben. Bei Höppners fanden wir dann einen Brief des Doktors, versiegelt, darin nur seine Visitenkarte mit den Worten: »Er war selbst hier. Habe über Schlafpulver gesprochen.«

Harst nickte zufrieden. »Die Falle wäre gestellt. Der Fuchs wird hineintappen. Es fragt sich nur, welcher aus dem großen Fuchsbau es sein wird.«

Um zehn schlichen wir in das Haus des Doktors hinein. Er wohnte Hochparterre.

Heid und Frau waren noch auf. Im Dunkeln wurde die Baronesse nun auf Harsts ausdrücklichen Wunsch im Speisezimmer auf den Diwan gebettet. Heid sollte bei ihr wachen.

Dann begaben wir uns in den Salon. Harst nahm den falschen Bart ab, sodass sein glatt rasiertes Gesicht zum Vorschein kam, band um die Stirn eine Serviette, legte Jackett, Kragen und Schlips ab, versteckte dies alles, öffnete den einen Fensterflügel, setzte sich auf den Rand des Bettes, indem noch die Bezüge lagen, und hieß mich hinter dem Klavier auf einem Stuhl Posto fassen. Zwei Paar stählerne Handfesseln trug ich in der Tasche. Harst sagte, ich solle sie bereithalten, sobald er sich ins Bett lege.

Auf dem Nachttisch brannte nur ein sogenannter Ölschwimmer, dessen Lichtkreis kaum für die Platte des Tisches reichte.

Ich saß nun, wartete und hatte dabei genügend Zeit, mir alles zu überlegen, was mit diesem Fall zusammenhing. Ich wusste nun, dass Harst den Baron beargwöhnte.

Aber ganz klar sah ich noch immer nicht.

Eine Stutzuhr auf einer Vitrine links von mir schlug zwölf. Ich saß so, dass ich mich nur halb aufzurichten brauchte, um durch die Lücke in den Büchern hindurch zu spähen. Ich tat es sehr oft. Und als die Uhr ausgeschlagen hatte, abermals.

Harst lag im Bett! Viel von ihm sah ich nicht. Er hatte die Decke bis zum Hals hochgezogen. Das Bett stand rechts von mir an der Wand. Geradeaus lagen die beiden Fenster. Ich beobachtete sie scharf. Minuten vergingen. Dann bewegte sich der Vorhang vor dem offenen Flügel, danach wurde er zurückgeschoben – ganz langsam. Die Nacht war hell und das Zwielicht im Zimmer gestattete ganz gut, die einzelnen Gegenstände ungefähr zu unterscheiden.

Abermals bewegte sich der Vorhang. Eine Gestalt erschien. Sie verharrte regungslos dicht am Fenster. Dann hantierte sie vorsichtig mit etwas herum, das wie ein Stock aussah, der sich immer mehr verlängerte. Es war fraglos ein Angelstock aus mehreren, ineinander zu schiebenden Teilen.

Harst lag mit dem Gesicht zu den Fenstern hin. Er hatte die Kopfkissen umgelegt und auch den kleinen Nachttisch umgestellt. Das fiel mir erst jetzt auf. Er konnte also ebenfalls die Fenster im Auge behalten.

Die Gestalt bewegte sich vorwärts. Ich erkannte nun recht deutlich den langen Angelstock. Jetzt machte der Eindringling halt. Der schwache Lichtschein des Schwimmerchens traf das dünne Ende des Angelstocks. Da bewegte Harst den Kopf, und blitzschnell zog die Gestalt, die etwa zwei Schritt vom Fenster entfernt tief gebückt dastand, den Stock zurück.

Wieder Stille. Nur mein Herz hämmerte.

Und dann hob der Fremde zum zweiten Mal den nun gesenkten Stock. Das dünne Ende – es war heller Bambus – leuchtete matt im Licht des Lämpchens auf, beschrieb einen Bogen auf Harsts Hals zu.

Ich wusste: Die Entscheidung war da.

Und sie kam! Harst schlug urplötzlich mit der Linken den Stock beiseite, schleuderte die Decke von sich, tat einen wahren Panthersatz und warf sich auf den im ersten Augenblick völlig Überraschten.

Doch dieser Mensch hatte Riesenkräfte. Ein Faustschlag traf Harsts Stirn, dass er zurückflog. Gedankenschnell schwang der Fremde sich auf das Fensterbrett, wollte hinausspringen.

Wollte! Harsts Hände bekamen ihn gerade noch an den Schultern zu packen, rissen ihn zurück, glitten ihm an den Hals.

Ein schweres Ächzen und dann konnte ich dem halb Bewusstlosen die Handschellen anlegen, bückte mich, drückte das andere Paar um die Fußgelenke.

»Licht!«, befahl Harst. Ich schaltete den Kronleuchter ein. Tageshelle urplötzlich. Ganz geblendet schloss ich die Augen, öffnete sie wieder.

Dort auf dem Teppich lag der Baron Gisbert von Malwack. Harst holte den Doktor, bückte sich, hob den Angelstock auf. An dessen Spitze war eine lange, dünne Nadel befestigt, deren Oberteil einen bräunlichen Schimmer zeigte.

»Es ist Gift – Curare«, sagte Harst laut.

Der Gefesselte regte sich. Über sein verzerrtes Gesicht ging ein Grinsen hin. »Das Spiel scheint aus zu sein«, meinte er mit einer Gelassenheit, die für die Abgebrühtheit des Verbrechers sprach. »Nun, was können Sie mir groß anhaben? So gut wie nichts! Was habe ich getan? Etwas versucht, das nicht zur Ausführung gekommen ist!« Da erkannte er mich. »Ah, einer der Versicherungsbeamten! Also Spione«, sprach er höhnisch.

Harst trat näher. »Ja, Spione! Und der andere bin ich. Ich heiße Harald Harst …«

Das Gesicht des Barons wurde starr und um einen Schatten blasser. Er schaute zur Seite.

»Also Harald Harst bin ich, den die Baronesse zu Hilfe gerufen hat gegen Sie und Ihre Verbündeten. Sie Massenmörder. Ich kenne Ihr geheimes Laboratorium. Dort fand ich ein Gestell mit Reagenzgläsern – Cholera Bazillen und Tetanus- oder Wundstarrkrampfbazillen, dort aber auch den zerrissenen, blutigen Mantel der Baronesse. Sie Ungeheuer! Sie haben absichtlich die Hunde auf den Fuchs scharf gemacht, haben dann dem Mantel durch irgendein Mittel dieselbe Raubtierausdünstung so kräftig beigebracht, dass die Bulldoggen nicht die Witterung der Komtesse gestern Nacht bekamen, sondern die des ihnen verhassten Fuchses. Und da sind sie auf die arme Frau losgestürzt, ließen erst von ihr ab, als sie am Boden lag und als nun die menschliche Witterung die andere übertäubte. Ich habe noch deutlich den Raubtiergeruch am Mantel gespürt. Nur deshalb haben Sie ihn in das Geheimgemach getragen, weil Sie diesen Geruch als verräterisch fürchteten. Der Mantel sollte eben verschwinden. Sie wussten, dass die Baronesse mich treffen wollte. Sie oder einer Ihrer Kumpane hat ja den Brief geöffnet und mir dann die gefälschte Depesche gesandt. Sie wollten Thora ermorden, ebenso wie Sie ihren Verlobten beseitigen wollten und – wie Sie den Studenten Malwack, die ältere Baronesse und all die anderen Mitglieder der Familie schon beseitigt haben, um Erbe des großen Familienvermögens zu werden.«

»Lächerlich!« rief der Gefesselte dazwischen. Aber es Klang sehr kleinlaut.

»Ihnen wird das Lachen vergehen. Sie sind ein Betrüger, sind nicht Baron Gisbert. Wer Sie sind, wird wohl einer Ihrer Komplizen angeben, um den eigenen Kopf zu retten. In diesem Augenblick sind Ihre drei Helfershelfer, der Diener, die Köchin und der Gärtner, bereits verhaftet.

Diese drei haben Sie ja sofort nach Übernahme der Vormundschaft eingestellt und das altbewährte Personal entlassen. Wäre es nicht besser, Sie legten ein Geständnis ab?«

»Da können Sie lange warten«, zischte der Verbrecher in ohnmächtiger Wut.

Draußen ein Trillerpfiff. »Aha, Kommissar Bechert«, meinte Harst. »Holen Sie ihn herein, Schraut.«

Der Kriminalkommissar raunte mir schon im Flur zu: »Der Gärtner hat alles gestanden. Nun ist die Bande geliefert!«

Bechert warf einen langen Blick auf den Daliegenden.

»Schade, dass die Folter abgeschafft ist«, sagte er zu ihm voller Abscheu. »Sie hätten sie verdient, Sie Bestie in Menschengestalt! Sie heißen in Wirklichkeit Paul Melzer, waren Arzt in Keetmannshoop, wurden wegen allerlei Betrügereien eingesperrt, entwarfen dann den Plan, sich des großen Vermögens der Malwacks zu bemächtigen, dangen sich drei ebenso verdammte Existenzen zu Verbündeten, rüsteten sie mit Giften aus, schickten sie hierher und ließen durch den jetzigen Diener erst den alten Baron und dann das Ehepaar beseitigen. Einzelheiten will ich mir jetzt schenken. Sie kannten den Baron Gisbert persönlich, wussten auch, dass er hier Vormund werden sollte. Als er nach Deutschland abreisen wollte, haben Sie ihn in Kapstadt ermordet, ihm sein Geld, seine Papiere abgenommen, haben sich als Baron ausgegeben, konnten es auch ganz ruhig, da dieser seit zwanzig Jahren dauernd in Transvaal gelebt hatte und weil eine entfernte Ähnlichkeit mit ihm diesen Betrug erleichterte. Die ältere Baronesse haben Sie mit eigener Hand im Badehäuschen der Friedrichsburg ertränkt, den jungen Baron, den Studenten, durch Cholerabazillen hingemordet, Baronesse Thora sollten die Hunde zerfleischen, und ihren Verlobten sollte gestern der Gärtner vergiften. Auch darin stimmt Herrn Harsts Vermutung, dass Sie Thora von Malwack das Tetanusgift in die Wunden bringen wollten, damit sie an Wundstarrkrampf eingehe. Jeder von Ihnen hat gemordet oder zu morden versucht, nur des Dieners Frau, die Köchin noch nicht. Aber auch sie sollte gleich schuldig werden und später die Jüngste der Schwestern irgendwie den anderen folgen lassen. Um diesen Morden ein abergläubisches Mäntelchen umzuhängen, erfanden Sie die Geschichte vom Fluch des Geschlechts derer von Malwack. So, nun wird die Welt von Ihnen befreit werden – endlich, und das haben wir nur Harald Harst zu verdanken. Ein verbrecherisches Genie wie Sie konnte auch nur durch ein Genie entlarvt werden.«

Harst und ich gingen durch die stillen, friedlichen Straßen Wannsees heim zu unserem Sommerquartier.

Und Harst sagte: »Bechert hat recht: Der Mensch war ein Genie in seiner Art. Wer wäre wohl so leicht auf die Idee gekommen, die Bulldoggen als Mörder zu benutzen?«

Dann rauchte er seine Mirakulum weiter.