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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 11

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Die Enthüllungen

Monseigneur von Cambis besaß trotz der Kleinheit seiner Gestalt jene majestätische, würdevolle Miene, welche niemals verfehlte, allen zu imponieren, die in seine Nähe kamen. Er war in einen violetten Reisemantel gehüllt und trug einen runden Hut von derselben Farbe, unter welchem hervor man seine grauen durchbohrenden Augen funkeln sah.

Neben ihm ging mit demütigem Schritt der Pater Bonaventura, stets schlicht, ruhig und lächelnd wie sonst. Ein wenig Magerkeit und eine leichte Blässe verrieten allein die Prüfungen, welche er in der letzten Zeit zu ertragen gehabt hatte.

»Mein Onkel, mein Wohltäter!«, rief Leonce außer sich, »Ihr seid mir also wiedergegeben!«

Er warf sich in Tränen ausbrechend in die Arme des Priors.

Der Pater Bonaventura gab ihm, kaum weniger bewegt, seine Liebkosungen zurück und murmelte sanft: »Wie, Leonce, so zärtlich zeigst du dich gegen einen Übeltäter, gegen einen Verbrecher?«

»Mein Onkel, ich habe diesen Verleumdungen, obwohl sie mir das Herz zerrissen haben, niemals geglaubt. Ich bin überzeugt, dass es Euch keine Mühe gekostet hat, Euch reinzuwaschen.«

»Kind, glaubst du denn, dass ich deine Beweise von Liebe annehmen würde, wenn ich mich derselben nicht würdig fühlte? Doch still!«, fuhr er auf den Bischof zeigend fort, »wir befinden uns in Gegenwart eines Kirchenfürsten.«

Mittlerweile war die Herrin des Schlosses, von der Schwester Magloire begleitet, dem Bischof entgegengeeilt. Die Nonne warf sich vor ihm nieder, während Christine sich verneigte, indem sie stammelte: »Monseigneur, ich bin durchdrungen von Dankbarkeit für die Ehre …« Dann aber vermochte sie nicht mehr, sich zu fassen, sondern sank selbst auf die Knie nieder, indem sie rief: »O, Monseigneur, es ist der Himmel, der Euch in diesem Augenblick mir zur Hilfe sendet! Ihr seid allmächtig – schützt mich!« Ihre Augen strömten von Tränen über.

Der Bischof hob sie mit gütiger Miene auf. »Der Frieden des Herrn sei mit diesem Haus«, hob er in ernstem Ton an, »und Ihr, meine Töchter, demütigt Euch nur vor Gott. Selbst die, welche in seinem Namen zu handeln glauben, sind schwache, dem Irrtum unterworfene Geschöpfe. Ich habe seit Kurzem dies auf grausame Weise an mir selbst erfahren.«

Dann wendete er sich zu dem Prior, welcher sich mit Leonce näherte, betrachtete den jungen Mann mit neugierigem Blick und fragte: »Lieber Bruder, ist er das?«

»Ja, er ist es, Monseigneur.«

Der Bischof machte auf Leonces Stirn das Zeichen des Kreuzes. »Gott segne Euch, mein Sohn«, sagte er in liebreichem Ton, »und haltet stets den tugendhaften, ehrwürdigen Mann lieb und wert, von welchem Ihr die ersten Lehren empfangen habt. Ihr habt trotz meiner dringenden Einladung nicht zu mir kommen wollen. Deshalb komme ich nun zu Euch und komme zur Freude für einige, wie zur Beschämung und Verwirrung für andere. Und auch Ihr, Herr Baron«, fuhr er fort, indem er sich zu Laroche-Boisseau wendete, welcher mit Zurückhaltung grüßte, »auch Ihr seid gestern nicht zu der Versammlung in der Abtei Frontenac erschienen.«

»Eine wichtige Angelegenheit hielt mich hier zurück, Monseigneur. Aber Ihr habt wohl meinen bevollmächtigten Anwalt, den alten Legris, gesprochen?«

Herr von Cambis nickte.

»Es kommt nichts darauf an«, antwortete er. »Ihr werdet sogleich erfahren, was geschehen ist, und es ist abermals die Vorsehung, welche Euch heute in dieses Haus führt, um einem großen Akt der Gerechtigkeit beizuwohnen.«

Er setzte sich und alle nahmen um ihn herum Platz, mit Ausnahme der Schwester Magloire und des Chevaliers, welche in ehrerbietiger Haltung ein wenig abseits standen. Leonce und Christine, welche nicht wussten, um was es sich handelte, hefteten ihre Blicke abwechselnd auf die friedlichen Züge des Priors und das strenge Antlitz des Bischofs. Laroche-Boisseau, der weniger geduldig war oder irgendein für ihn schlimmes Ereignis voraussah, konnte sich nicht mäßigen.

»Nun, Monseigneur«, fragte er mit seiner gewohnten Dreistigkeit, »was ist denn seit unserer letzten Unterredung in Frontenac geschehen? Die Dinge haben, wie es scheint, eine andere Gestalt gewonnen. Damals schient Ihr erfüllt von Abscheu gegen diese verhassten Mönche, welche ein Kind dem Tode überantwortet, um sich seines Erbteils zu bemächtigen. Ihr zermalmtet sie mit der ganzen Wucht Eures Zornes und erklärtet laut, dass Ihr die begangenen Ungerechtigkeiten wiedergutmachen und die Schuldigen ohne Erbarmen züchtigen würdet. Und dennoch begegnet Ihr jetzt mit der größten Gunst dem Haupturheber jenes entsetzlichen Meuchelmordes, dem Mönch, dessen gefährliche Schlauheit allem Anschein nach die Übrigen seiner Brüder verführt hat …«

Herr von Cambis unterbrach ihn lebhaft.

»Herr Baron«, sagte er, »hört auf, den rechtschaffenen Mann, der uns hört, und das fromme Haus zu beleidigen, dessen Ruhm und Vorbild er ist. Wie Ihr sagt, die Dinge haben seit einigen Stunden eine sehr veränderte Gestalt gewonnen. Die Wahrheit hat sich durch unleugbare Zeichen kundgegeben. Gott hat erlaubt, dass ich den Irrtum erkannte, in den ich durch übergroßen Eifer und vielleicht auch durch übergroße menschliche Anmaßung verfallen war. Die Brüder von Frontenac machten sich, als ich sie verfolgte, zu Märtyrern ihrer Pflicht. Der gute Prior, den ich in meiner Verblendung durch meine ungerechte Strenge niederdrückte, hatte nicht aufgehört, meine Achtung und Bewunderung zu verdienen.«

»Ha, das wusste ich, mein Onkel!«, murmelte Leonce, indem er die Hand des neben ihm sitzenden Bonaventura an seine Lippen drückte.

»Ach, ehrwürdiger Vater«, hob Christine an, »werdet Ihr mir wohl verzeihen, dass ich geglaubt …«

Der Prior gebot beiden durch eine wohlwollende Gebärde Schweigen.

Laroche-Boisseau hob mit Heftigkeit wieder an: »Monseigneur, Monseigneur! Man hat Euch getäuscht. Ohne Zweifel ist dieses das Werk dieses listigen Mönches, dessen Zunge die Falschheit und das Gift einer Schlange besitzt. Aber es wird nicht so leicht sein, mich abzufertigen. Noch ehe ich weiß, durch welches Gewebe von sinnreichen Fabeln man verstanden hat, Euren Scharfsinn zu täuschen, erkläre ich, dass ich von meiner Verfolgung gegen den Mörder meines jungen Verwandten nicht abstehen werde. Als Haupt der Familie kann ich mich dieser gebieterischen und heiligen Pflicht nicht entziehen. Begleitete der Pater Bonaventura seinem eigenen Geständnis zufolge nicht am Abend des Verbrechens das geheimnisvolle Individuum, welches Frau Fargeot im Garten von Varinas anredete? Jedenfalls müsste der Prior doch sagen, wer jener Elende gewesen ist und erklären …«

»Man kennt ihn jetzt, Herr Baron«, entgegnete der Prälat kalt.

» Und wer war es denn?«

»Euer Onkel, der Graf von Varinas, der Vater des verschwundenen Knaben selbst!«

Laroche-Boisseau stand betäubt da, als ob er einen Keulenschlag auf den Kopf bekommen hätte.

»Ihr zweifelt«, hob Herr von Cambis wieder an, »aber Ihr werdet nicht mehr zweifeln, wenn Ihr das letzte Kodizill des verstorbenen Grafen gesehen haben werdet, das Kodizill, welches dem ausdrücklichen Befehl des Testators gemäß erst gestern vor dem Kapitel von Frontenac verlesen worden. Der Graf erzählt darin auf die umständlichste Weise, wie er an dem fraglichen Abend sich durch eine kleine Tür, zu welcher er allein den Schlüssel hatte, in den Garten von Varinas schlich, wie es ihm gelang, unter einem Vorwand die Amme zu entfernen und sich des Knaben zu bemeistern …«

»Noch einmal, Monseigneur, man täuscht Euch«, unterbrach ihn der Baron. »Wäre wohl ein Vater, selbst wenn er an Geistesstörung gelitten hätte, wie vielleicht mit meinem Onkel der Fall war, so barbarisch gewesen, der Mörder seines jungen Sohnes zu werden?«

»Und wer sagt Euch denn, Monsieur, dass das Kind umgekommen sei? Dieses Kind existiert.«

»Das ist unmöglich!«

»Es existiert, sage ich Euch, und der Beweis ist, dass wir es alle kennen, dass es vor Euch steht.«

» Wie, es wäre …«

»Der sogenannte Neffe des Priors, der sogenannte Leonce, der endlich seinen wahren Namen und Titel als Graf von Varinas annehmen wird.«

Ausrufungen der Freude und Überraschung begrüßten diese unerwartete Enthüllung.

Leonce – denn wir werden fortfahren, ihn bei diesem Namen zu nennen – hatte sich rasch erhoben und sah den Prior an, so, um von ihm die Bestätigung der Worte der Bischofs zu verlangen.

»Monseigneur kann nichts bestätigen, was nicht streng der Wahrheit gemäß wäre, mein Sohn«, sagte Bonaventura. »Dies ist das Geheimnis, welches ich dir so sorgfältig verschwieg, während ich dich auf deine jetzige Größe vorbereitete. Du gehörst mir durch kein anderes Band an, als durch das unserer wechselseitigen Zuneigung …«

»Und dieses, mein Vater, wird niemals zerreißen!«, rief Leonce, indem er ihm um den Hals fiel.

Aller Augen, außer die des Barons, waren tränenfeucht.

Leonce empfing die Glückwünsche des Chevaliers und der Schwester Magloire. Während er sich diesen süßen Regungen hingab, neigte sich Christine zu dem Prior.

»Mein Vater«, fragte sie, »ist dies jener reiche Bewerber von hoher Geburt …«

»Den Ihr zurückgewiesen, meine Tochter, den Ihr einer übereilten Aufwallung geopfert habt. Unglückliches Kind! Unglückliches Kind!«

Christine warf sich in ihren Sessel zurück und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.

Laroche-Boisseau hatte keine Bewegung gemacht, um sich seinem jungen Verwandten zu nähern. Nachdem er sich ein wenig von der Bestürzung erholt hatte, welche diese Entdeckung ihm anfangs verursachte, hob er mit Ironie wieder an: »Das ist allerdings alles sehr rührend, aber man erwartet doch nicht etwa, dass ich diese romanhaften Behauptungen ohne Beweise gelten lassen werde? Ich will klarsehen in dieser neuen Verwandtschaft, welche mich eines großen Erbteils beraubt.«

»Die Beweise werden Euch nicht fehlen, Herr Baron«, entgegnete der Bischof. »Sie sind klar und entscheidend. Der Pater Prior ist Überbringer authentischer Dokumente, von welchen Ihr das Recht habt, Kenntnis zu nehmen.«

In der Tat legte Bonaventura einen Stoß Papiere auf den Tisch, welche Laroche-Boisseau aufmerksam durchzusehen begann, während der Bischof die Ereignisse auseinandersetzte, welche Leonces Sohnschaft begründeten. Wir werden dieselben in wenig Worte zusammenfassen.

Wir wissen, dass der Graf von Varinas den Protestantismus abgeschworen hatte. Hieraus war eine Uneinigkeit zwischen ihm und seinem jüngeren Bruder, dem Baron von Laroche-Boisseau, dem Vater dessen entstanden, welcher in unserer Erzählung eine so wichtige Rolle spielt. Dennoch aber war der Graf, indem er sich zur katholischen Religion bekannte, nicht jenen rein menschlichen Berechnungen gefolgt, welche zuweilen zu einem Religionswechsel bestimmen. Seine Bekehrung, das Werk der Mönche von Frontenac und ganz besonders des Pater Bonaventura, war frei und aufrichtig gewesen, ja seine durch Einsamkeit und Nachdenken exaltierten religiösen Gefühle waren an jenem Punkt angelangt, welcher an den Mystizismus grenzt.

Von einer langwierigen Krankheit befallen, von welcher er wusste, dass sie tödlich war, hatte sich der Graf in die Abtei Frontenac zurückgezogen und war hier allmählich dem Einfluss einer fixen Idee unterlegen.

Die Zukunft seines einzigen, damals drei oder vier Jahre alten Kindes beschäftigte ihn unaufhörlich. Wenn er starb, so musste die Vormundschaft über dieses geliebte Kind natürlich seinem Bruder Laroche-Boisseau zufallen, welcher Protestant war. Stand nun aber nicht zu erwarten, dass Laroche-Boisseau seine Autorität über seinen jungen Mündel benutzen würde, um ihn zum Protestantismus zurückzuführen?

Dieser Gedanke quälte den armen Kranken Tag und Nacht. Ohne Zweifel konnte er, wenn er einen andern Vormund für seinen Sohn ernannte, ihn dem gefürchteten Einfluss entziehen. Der Graf aber, der im höchsten Grade furchtsam war, stellte sich das Ansehen seines Bruders größer vor, als es war. Er fürchtete, dass es dem tätigen und gewandten Laroche-Boisseau gelingen würde, das Testament für ungültig erklären zu lassen, wodurch er dann die Vormundschaft über seinen Neffen bekommen hätte oder dass er im entgegengesetzten Fall, um sich zu rächen, heimlich den Knaben vom Katholizismus abwendig zu machen versuchen würde.

Diese Schwierigkeiten waren seinen Gedanken fortwährend gegenwärtig. Der Graf ersann, um sie zu beseitigen, ein Mittel, welches allerdings höchst bizarr genannt werden musste.

Es handelte sich darum, seinen Sohn zu entführen, welcher sich damals auf dem Schloss Varinas befand, und ihn für tot auszugeben. Da die Besitzung Varinas der Familienerbfolge nicht unterworfen war, so konnte der Graf sie den Mönchen von Frontenac unter der Form eines Fideikommiss vermachen. Sie sollte auf eine bestimmte Zeit in ihrer Obhut bleiben.

Was den jungen Vicomte betraf, so sollte er unter einem angenommenen Namen in der Abtei bleiben und für den nahen Verwandten eines der hochwürdigen Väter gelten. Man sollte ihn sorgfältig in der katholischen Religion erziehen und ihm seinen eigentlichen Namen und Rang verschweigen. Erst an dem Tag, wo er sein zwanzigstes Lebensjahr erfüllte, sollte man ihm seine wahre Stellung offenbaren, was dann infolge der ihm beigebrachten vortrefflichen Grundsätze ohne Gefahr für ihn würde geschehen können.

Das erste Mal, als der Graf von Varinas sich über dieses Projekt gegenüber seinem Freund und Vertrauten, den Pater Bonaventura, aussprach, bemühte sich dieser, ihm die Gefahren und selbst Unmöglichkeiten desselben vor Augen zu führen.

Der Graf schien sich anfangs diesen Vorstellungen zu fügen, bald aber kehrte er zum Angriff zurück. Er hatte lange über alle Eventualitäten nachgedacht, er hatte alles vorgesehen, alles berechnet. Er wendete bald Vorstellungen, bald Bitten an, um seinem Plan Eingang zu verschaffen. Die fieberhafte Aufregung seiner Gedanken war von der Art, dass ein allzu langer Widerstand ihm verderblich werden konnte.

Seinen Bitten nachgebend zog Bonaventura endlich das Kapitel der Abtei über den Vorschlag des Grafen zu Rate. Nach langem Zögern kam man überein, dass man versuchen wolle, ihn auszuführen, mit dem Vorbehalt, ihn aufzugeben, wenn diese Ausführung unübersteigliche Hindernisse darböte.

Alles gelang über Erwartung. Der Graf wollte trotz seiner Schwäche sich selbst mit der Leitung des Unternehmens befassen. Er reiste heimlich mit dem Pater Bonaventura und zwei vertrauten Dienern von Frontenac ab. Abends erreichte er das Tor des Gartens von Varinas. Nachdem er die Wärterin durch eine geschickte Lüge weggeschickt hatte, bemächtigte er sich seines Sohnes, der, da er ihn erkannte, sich ohne Widerstand forttragen ließ. Dabei trug er Sorge, den Hut des kleinen Vicomte auf der Erde liegen zu lassen. Einige Stunden später trieb man die Vorsicht so weit, dass man die Leiche eines anderen Kindes, welche man sich in der benachbarten Stadt verschafft und die man mit den Kleidern des jungen Varinas bekleidet hatte, in den Abgrund warf.

Alle diese seit langer Zeit kaltblütig überlegten Maßnahmen mussten natürlich die arme Wärterin mit Verzweiflung erfüllen, indem sie ihr die Überzeugung gaben, dass ihr Pflegling ums Leben gekommen sei. Von welchem Gewicht aber konnten die Tränen einer schlichten Bäuerin sein, wenn es sich in den Gedanken des armen, geisteskranken Vaters um die Zukunft und das ewige Seelenheil des Erben der Varinas handelte? Übrigens war Margaretha Fargeot dem Pater Bonaventura empfohlen worden. Zur Entschädigung für ihre Angst sollte sie mit den ihren der Gegenstand einer fortwährenden Fürsorge sein.

Infolge dieser überaus vorsichtigen Maßnahmen ahnte kein Mensch die Wahrheit. Die Justizbehörde selbst gewann die Überzeugung, dass der junge Graf zufällig in den Abgrund neben dem Schloss gestürzt sei.

Nun dachte der Graf, der sein Ende herannahen fühlte, an nichts weiter als an die Vollendung seines Werkes. Da er fürchtete, dass man später seinem Sohn den Namen und den Titel, auf welchen er ein Recht hatte, streitig machen könne, so traf er die umfassendsten Vorkehrungen, um jeden Zweifel unmöglich zu machen. Er ließ in dreifachen Exemplaren ein Protokoll über die von ihm selbst bewirkte Entführung aufnehmen. Zwei Exemplare wurden bei verschiedenen Notaren deponiert und das dritte im Archiv von Frontenac aufbewahrt. Jedes wurde von ihm, den beiden Notaren und den sechs ersten Vätern des Klosters mit Einschluss des Abtes und des Priors unterzeichnet. Dann setzte er zwei Testamente auf, von welchen das eine zur Zeit seines Ablebens und das andere an dem Tag, wo sein Sohn das zwanzigste Lebensjahr erfüllt haben würde, eröffnet werden sollte. Überdies verlangte der Graf von den Vätern, welche Kenntnis von seinem Geheimnis hatten, einen feierlichen Schwur, durch welchen sie sich verbindlich machten, den Namen und den Rang ihres Mündels und Schülers nicht eher als bis nach Ablauf der festgesetzten Frist bekannt werden zu lassen.

Nachdem er alle diese Maßregeln getroffen hatte, starb er ruhig und in der Gewissheit, dass sein Wille in jeder Beziehung erfüllt werden würde.

Wir wissen, mit welcher gewissenhaften Genauigkeit die Mönche von Frontenac unter dem Einfluss des Priors in der Tat ihren Schwur gehalten hatten. Sie hatten sich lieber verfolgen und schmähen lassen, als dass sie das Geheimnis ihres verstorbenen Freundes verraten hätten. Nun aber lief die vorgeschriebene Frist ab. Das Testament war geöffnet und die Wahrheit sollte für niemand mehr ein Geheimnis sein.

So lautete der Bericht des Bischofs. Leonce hatte, indem er ihn anhörte, zahlreiche Zeichen von Rührung gegeben.

Monseigneur von Cambis sagte, indem er seine Erzählung schloss, zu ihm: »Ihr seht, mein teurer Sohn, welche Opfer Eure fromme, tüchtige Erziehung Eurem Vater, Euren Freunden gekostet hat. Lasst daher das gute Samenkorn in Eurem edelmütigen Herzen nicht ersticken. Die glänzende Existenz, welche Euch erwartet, lasse Euch nicht die bescheidene Einfachheit Eurer ersten Jugend vergessen. Ganz besonders hört nicht auf, Eure Wohltäter von Frontenac und ganz besonders den würdigen Prior zu schätzen, der für Eure Erziehung so große Sorgfalt getragen hat …«

»Ach, Monseigneur«, unterbrach ihn Leonce mit überwallendem Gefühl, »mein unglücklicher Vater selbst, wenn er noch lebte, könnte eifersüchtig auf die Achtung, Dankbarkeit und grenzenlose Liebe sein, welche ich für diesen unvergleichlichen Freund empfinde.«

Er schloss den guten Prior, dem die Tränen in den Augen standen, abermals in seine Arme.

»Ich allein bin also bei dieser ganzen Sache strafbar gewesen«, hob der Bischof an, »ich, der ich einen Augenblick glauben konnte, dass friedliche, durch ihre Weisheit und Frömmigkeit berühmte Mönche ein abscheuliches Verbrechen begangen hätten. Schon in den ersten Tagen, als ich sah, mit welcher schlichten und rührenden Ergebung sie die harte Behandlung ertrugen, erwachten in mir Zweifel über die Rechtmäßigkeit dieser Strenge. Später als Herr von Varinas versuchte, seinen vermeinten Onkel, der sich aber weigerte, zur Flucht aus der Abtei zu bewegen, wurden diese Zweifel noch bestimmter. Aber erst gestern bei Eröffnung des Testaments des seligen Grafen habe ich wirklich die Größe meines Unrechts eingesehen. Auch habe ich nicht gezögert, es in Gegenwart des ganzen versammelten Kapitels einzugestehen und den vortrefflichen Prior um Verzeihung zu bitten, wie ich es auch in diesem Augenblick wiederholt tue.«

»Ach, Monseigneur«, unterbrach ihn Pater Bonaventura in demütigem Ton, »könnt Ihr Euch so erniedrigen? Der Schein war einmal gegen uns und Ihr habt uns mit Nachsicht behandelt, wenn man die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens erwägt, dessen man uns anklagte.«

»Aber ich hätte nicht auf den bloßen Schein hin urteilen sollen«, sagte der Prälat in strengem Ton. »Das öffentliche Ärgernis, welches ich dadurch gegeben habe, wird während meines ganzen künftigen Lebens ein Gegenstand bitterer Reue sein. Jedoch, wie dem auch sei, ich habe meinen Irrtum wiedergutmachen wollen und trotz der ungünstigen Jahreszeit, trotz der Gefahren der Reise gewünscht, den Prior selbst in dieses Haus zu begleiten, wo dieses öffentliche Ärgernis so viel Unheil angerichtet hat, obwohl vielleicht nirgends der Name der Väter von Frontenac ein größeres Recht hatte, geehrt zu werden.«

Während dieses Gespräches hatte der Baron sich bald zerstreut, bald aufmerksam gezeigt. Dennoch hatte er nicht verfehlt, die vom Prior mitgebrachten Aktenstücke genau durchzusehen, als ob er einen Vorwand zu Ausstellungen gesucht hätte, den er aber nicht fand.

»Wohlan«, sagte er endlich, indem er mit jovial philosophischer Miene die Papiere hinwegschob, »meine Grafschaft hat allerdings der Teufel geholt. Doch gleichviel! Ich bin immer noch Laroche-Boisseau und das ist auch etwas. Mein lieber kleiner Cousin«, fuhr er mit ironischem Ton fort, »empfangt meine Glückwünsche! Morbleu! Eben noch, als ich Euch die Ehre eines Versuchs einräumte, welcher von uns beiden dem anderen die Kehle durchschneiden würde, ahnte ich nicht, dass die Ehre so gut geteilt wäre.«

»Ein Duell, Leonce!«, sagte der Prior. »War es das, was du mir versprochen hattest?«

»Verzeiht mir, lieber Vater. Nun begreife ich, warum Ihr mir so dringend empfahlt, jeden Zwist mit Herrn Laroche-Boisseau zu vermeiden! Aber, « setzte er sogleich hinzu, »es muss mir daran liegen, fortan mit dem Herrn Baron in gutem Einvernehmen zu leben, wie es unter so nahen Verwandten sich geziemt. Zum Pfand biete ich ihm meine Hand …«

Der Baron zuckte die Achseln. »Dies würde Euch mit Euren Freunden veruneinigen«, entgegnete er mit höhnischem Lächeln. »Die Hand eines Ketzers könnte Euch die Ansteckung mitteilen, welche Euer Vater so sehr für Euch fürchtete. Es wird besser sein, wenn wir jeder für sich leben – Ruhm und Gedeihen dem neuen Grafen von Varinas! Was mich betrifft, so werde ich dank dem glücklichen Büchsenschuss, den ich gestern Abend getan habe, ihn um nichts zu beneiden haben!«

»Ha! Ihr habt recht!«, rief Leonce. »Gern würde ich mein Vermögen und meinen Titel hingeben, wenn ich …«

»Um was handelt es sich denn?«, fragte Bonaventura mit Erstaunen.

Leonce teilte ihm in wenig Worten mit, auf welche Weise Laroche-Boisseau die Bestie des Gévaudan erlegt habe.

Diese Nachricht machte den Prior und selbst den Bischof, welcher das Lieblingsprojekt der Väter von Frontenac kannte, nicht wenig bestürzt. Dennoch aber entgegnete Herr von Cambis nach einigem Nachdenken mit Festigkeit: »Diese Ehe kann nicht vollzogen werden und die Kirche wird sich niemals dazu verstehen, sie einzusegnen. Fräulein von Barjac, eine gute Katholiken, kann keinen Protestanten heiraten. Der unbesonnene Schwur, den sie ausgesprochen, muss daher mit Fug und Recht für ungültig erklärt werden.«

»Das nenne ich doch mönchische Finessen!«, rief Laroche-Boisseau in heftigem Zorn. »Dieser Fall ist aber bei jenem Schwur nicht vorgesehen worden, und Protestanten und Katholiken sollten gleiche Rechte haben. Zum Beweis«, setzte er sich zu Christine wendend hinzu, »appelliere ich noch einmal an Fräulein von Barjacs Rechtlichkeitsgefühl. Dieses Rechtsgefühl wird, wie ich bestimmt weiß, sich nicht verleugnen.«

Christine schwieg.

»Sprecht, meine Tochter«, sagte Monseigneur von Cambis. »Wenn Ihr damit einverstanden seid, so wird man Euch dieses unheilvollen Schwures ohne Mühe entbinden.«

Das unglückliche Mädchen wurde von unaussprechlichen Qualen der Angst und Unschlüssigkeit gefoltert. Endlich jedoch antwortete sie: »Ich gehöre einer Familie an, wo Treue und Festhalten an dem gegebenen Wort seit Jahrhunderten ein Erbteil gewesen sind, welches von einer Generation auf die andere übergegangen ist. Ich werde daher keine Gebärde machen und kein Wort sprechen, um mich den Folgen meines unseligen Gelübdes zu entziehen.«

Diese Erklärung wurde mit düsterem Schweigen aufgenommen.

»Morbleu!«, sagte Laroche-Boisseau endlich, indem er sich die Hände rieb, »ich kann mich über viele fehlgeschlagene Berechnungen trösten. Behaltet Eure Titel und Eure Reichtümer, Vetter Varinas. Ich werde etwas Besseres haben als dieses. Und dennoch scheint es mir, als hätte ich die Bestie des Gévaudan gar nicht zu gelegenerer Zeit erlegen können.«

»Unglücklicherweise aber habt Ihr sie noch nicht erlegt, mein Lieber« sagte eine spöttische Stimme hinter ihm.

Zwei Personen hatten sich, ohne bemerkt zu werden, in den Salon geschlichen. Die eine war Legris, der Vertraute des Barons, die andere Leonces alter Piqueur.

Die durch Legris, welcher die mitgeteilten Worte gesprochen hatte, erregte Neugier verhinderte an das Unziemliche einer so unvermuteten Störung zu denken.

Der Baron lief mit vor Zorn purpurrotem Gesicht seinem Freund entgegen.

» Was wollt Ihr?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. »Wie könnt Ihr wagen, hier zu erscheinen?«

»Mit Eurer Erlaubnis«, hob Legris sehr laut wieder an und ohne vor den drohenden Gebärden seines Gönners zu erschrecken. »Ihr habt die Bestie des Gévaudan nicht getötet. Ich eilte herbei, um jedem Missverständnis, jedem übereilten Schritt zuvorzukommen.«

»Wie, Monsieur, Ihr, der Ihr mich gestern das Herz dieses verwünschten Tieres durch eine Kugel durchbohren saht, Ihr könnt zweifeln …«

»Fragt diesen wackeren Mann«, sagte Legris ruhig. »Wohlan, Denis«, fuhr er fort, indem er sich zu dem Jäger wendete, der, ohne sich um so viele angesehene Personen zu kümmern, begonnen hatte, den neben der Tür liegenden Wolfskopf zu betrachten, »solltet Ihr Euch geirrt haben?«

»Im Gegenteil, Monsieur«, entgegnete Denis, »ich habe ganz richtig vermutet. Dieser Kopf und dieser Fuß haben der Bestie des Gévaudan niemals angehört.«

Ein allgemeiner Aufschrei begrüßte diesen Ausspruch. Man überhäufte den Piqueur mit Fragen und er wusste nicht, wem er antworten sollte. Laroche-Boisseaus Stimme übertönte alle anderen.

»Was bedeutet dieser dumme Scherz?«, fragte er. »Wer ist dieser alte Lümmel, welcher einen Edelmann sogar im Salon einer Dame meistern will?«

»Mein Platz ist nicht hier, Herr Baron, das weiß ich wohl«, entgegnete der Piqueur, »aber dennoch sage ich nichts, dessen ich nicht gewiss bin und was nicht mein Fach beträfe. Der Wolf, dessen Kopf und Fuß hier liegen, ist nicht die Bestie des Gévaudan, sondern ein anderer alter großer Wolf, welcher in der letzten Zeit sich in den benachbarten Wäldern umhertrieb und welchen man den schwarzen Wolf nannte. Er war sehr wild und hat viele Untaten begangen, die man nicht verfehlt hat, der Bestie beizumessen. Mehrmals habe ich seine Spur im Wald gefunden und wäre beinahe selbst da durch getäuscht worden. Sein Fuß misst aber zwei Linien weniger als der der Bestie. Monsieur Leonce, mein Herr, kann sich erinnern, dass ich ihm den Unterschied der Spuren gezeigt habe.«

»Das ist wahr, das ist wahr«, rief Leonce. »Übrigens sehe ich jetzt, wo ich mir die Sache recht betrachte, auf dem Kopf dieses Wolfes auch nicht die Spur von dem Bajonettstich, den ihm der kleine Knabe von Chananeilles beibrachte. Diese Narbe ist aber von allen Jägern bemerkt worden.«

»Und ich«, sagte Legris, »ich, den die Bestie an einem gewissen Tag in der Eberschlucht über den Haufen warf, kann versichern, dass sie ein weit hellfarbigeres Fell hatte.«

»Das ist wahr«, sagte der Chevalier.

Laroche-Boisseau verstummte vor der Einmütigkeit dieser Aussagen.

»Also«, fragte Fräulein von Barjac zitternd, »es waltet hier Irrtum oder Betrug ob? Es ist nicht die Bestie? Aber dann ist die gestellte Bedingung nicht erfüllt und ich bin wieder frei …«

»Noch nicht, Fräulein«, unterbrach sie der Baron in heftiger Aufregung. »Ich behaupte, dass das Tier, dessen Kopf und Fuß ich hier vorlege, wirklich die Bestie des Gévaudan ist. Um mich zu nötigen, meinen Irrtum anzuerkennen, bedürfte es positiverer Beweise.«

»Positiverer Beweise verlangt Ihr deren, Herr Baron?«, fragte Denis mit etwas spöttischer Miene. »Wohlan, ein Tier, welchem ich seit diesem Morgen nachstelle, ist endlich aufgescheucht. Ich habe so glücklich manövriert, dass es nun in dem Augenblick, wo ich spreche, in die großen Steinbrüche von Montfichet am Fuß der Monadière eingeschlossen ist. Hart gedrängt hat es die Unklugheit begangen, sich in diese Art Sackgasse zu flüchten. Ich habe Gervais und einige entschlossene Bauern zurückgelassen, um den Eingang dieses Engpasses zu bewahren und bin in aller Eile herbeigelaufen, um Monsieur Leonce in Kenntnis zu setzen. Dieses Tier nun, welches wie in einer Falle gefangen ist, ist die einzige und wahrhafte Bestie des Gévaudan.«

» Was sagt Ihr, Denis?«, rief Leonce ungestüm. »Es wäre möglich …«

»Monsieur, als ich hierher kam, habe ich befohlen, dass man Euer Pferd, Eure Kugelbüchsen und Eure ganze Equipage in Bereitschaft setze. Habt die Güte, mir zu folgen. In weniger als einer halben Stunde werde ich Euch in unmittelbare Nähe des Tieres gebracht haben.«

»Rasch! Rasch!«, rief Leonce. »Gott will ohne Zweifel nicht, dass mein Glück unvollständig sei. Verlieren wir keinen Augenblick. Wenn das Tier uns entwischen sollte!«

»Das steht nicht zu fürchten, wohl aber müsst Ihr Euch auf einen harten Kampf gefasst machen, denn …«

»Gleichviel! Rasch zu Pferde, Denis, zu Pferde!«

Er näherte sich dem Prior und dem Bischof.

»Mein Vater! Monseigneur!« sagte er in großer Aufregung, »segnet mich, betet für mich!«

Dann wendete er sich zu Christine.

»Fräulein, ich werde die Bedingungen, die man von dem fordert, der Euch besitzen soll, erfüllen oder sterben!«

Er eilte zur Tür, deren Schwelle der Piqueur schon überschritten hatte.

»Mut, Leonce, Mut!«, rief Fräulein von Barjac, »und der Himmel lasse Euer Vorhaben gelingen!«

Der Wucht, so lange andauernder Gemütsbewegungen erliegend, sank sie ohnmächtig in die Arme der Schwester Magloire.

Während man sich beeilte, ihr beizuspringen, stand Laroche-Boisseau düster in einem Winkel des Salons neben Legris, der sich an seiner Bestürzung zu weiden schien.

»In Teufels Namen«, sagte endlich der Baron, indem er den Kopf emporrichtete, »heute erklärt sich ja jedes Glück für diesen Gelbschnabel von Damenritter! Aber warum soll ich nicht auch versuchen, die Gelegenheit zu benutzen, welche sich darbietet? Ich bin auch ein Jäger, und zwar keiner von den Ungeschicktesten. Meine Pferde und Leute erwarten mich im Hof, die Partie ist vielleicht noch nicht verloren.«

Er gab Legris einen Wink ihm zu folgen.

»Lasst mich«, sagte dieser schroff, »Ihr habt mich betrogen. Wir haben nichts mehr mit einander zu tun.«

»Aha!«, sprach der Baron in verächtlichem Ton, »sollte Euer Vater Euch schon meinen vollständigen Ruin und den Umsturz meiner Hoffnungen geschrieben haben? Aber kommt, sage ich Euch, wir werden uns anderwärts erklären. Glaubt Ihr denn, man werde Euch in diesem Salon dulden, wenn ich nicht darin bin? Seht, seht, mit welchen Augen der Chevalier Euch schon betrachtet!«

Dieses Argument schien Legris zu bestimmen und sie gingen miteinander hinaus. Es dauerte nicht lange, so sahen der Prior und der Bischof sich miteinander allein.

»Monseigneur«, sagte der Pater Bonaventura, »dieser Augenblick ist ein feierlicher. Vielleicht führen unsere Bemühungen, unsere Opfer, um das Glück einiger armen Geschöpfe Gottes zu sichern, zu einer furchtbaren Katastrophe! Leonce verlangt es – beten wir für ihn.«