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Aus dem Wigwam – Der Piasafels

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Der Piasafels

n der Nähe der Vereinigung des Illinois River mit dem Mississippi wird der Reisende eine lange Reihe auffallend gebildeter Felsengruppen bemerken, an deren Füßen sich das kleine Flüsschen Piasa-Krihk mühsam zum Vater der Ströme windet. Hat der Wanderer einen Indianer bei sich, so wird ihn derselbe bald mit einer Miene scheuer Wichtigtuerei auf das monströse Bildnis eines kolossalen Vogels aufmerksam machen, das in ungeheurer Höhe an einer flachen Felswand prangt. Dieses Schreckbild wird von ihm mit dem Namen Piasa belegt, was der Vogel, der die Menschen verschlingt bedeutet.

Folgende Erzählung knüpft er daran:

Zu der Zeit, als noch kein Mensch an ein Bleichgesicht dachte, als das Wild noch allenthalben in Hülle und Fülle umherlief und die berühmten Häuptlinge Megalonga und Mastadin noch ihre Tomahawks schwangen, erschien plötzlich ein Vogel von nie gesehener Größe. Er war so stark, dass er einen Büffel mit Leichtigkeit wegtragen konnte. Sein Magen schien bodenlos zu sein, denn er verschlang alles, was ihm in die Quere kam. Eine Familie nach der anderen packte ihren Wigwam aus Birkenrinde zusammen, um ihn eiligst in einem schützenden Dickicht aufzuschlagen. Auch hatte seit einiger Zeit jenes beflügelte Ungetüm angefangen, nur Menschenfleisch zu seiner Sättigung einzunehmen. Anderes Fleisch mundete ihm seither nicht mehr. Unversehens überfiel er die arme Rothaut, schleppte sie mit sich weg in seine grausige Höhle und verspeiste sie dann mit aller Behaglichkeit. Ganz Illinois weinte und wehklagte. Ein Wigwam nach dem anderen wurde leer, kein Krieger, der sich unterstand, seine Pfeile auf den Piasa zu richten, kam mit dem Leben davon.

Ein tapferer Jäger namens Owatoga lebte zu jener Zeit. Er führte Bogen und Skalpmesser mit Glück und Sicherheit und hatte nach einer Schlacht stets die zahlreichsten Skalpe vor seinem Wigwam flattern. Als dieser die Not und das Elend sah, das der höllische Piasa über seine Brüder gebracht hatte, verbarg er sich an einem einsamen Ort und bestürmte mit Fasten und Beten den Meister des Lebens so lange, bis dieser sich genötigt sah, ihm in höchst eigener Gestalt zu erscheinen und ihm folgenden Rat zu geben . Er sollte sich zwanzig der sichersten Schützen aussuchen und jeden mit den schärfsten Pfeilen bewaffnen. Einer davon habe sich alsdann dem Vogel als Beute hinzustellen, während die anderen schussfertig im Dickicht lauern, um den Piasa zur rechten Zeit zu treffen.

Der edle Krieger tat, wie ihm befohlen, und setzte sich selbst den Klauen des teuflischen Vogels aus. Piasa schoss wütend auf ihn los. Als er eben sein Opfer packen wollte, stürzte er, von sicheren Pfeilen getroffen, röchelnd zur Erde nieder und verschied. Owatoga war gerettet.

Danach wurde die Gegend wieder bewohnbar und allenthalben zeigten sich die alten Zelte wieder.