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Allerhand Geister – Peter und Paul -Teil 1

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Peter und Paul
Eine Erinnerung

Teil 1

Um die »gute alte Zeit« ist es ein eigen Ding. Jedermann redet von ihr, rühmt sie oder spottet über sie und sehnt sich heimlich dennoch nach ihr. Und stets klingt es aus dem allem heraus, als sei sie, Gott weiß wann, gewesen und nun vorüber für immer, und wir Jungen müssen uns mit dem begnügen, was die Alten von ihr erzählen.

So bleibt es, so lange wir jung sind und das Leben noch vor uns haben. Wenn wir aber selbst alt werden und auf die Jugend und das Leben zurücksehen, da wissen auch wir selbst plötzlich von der »guten alten Zeit!« Wir haben sie selbst erlebt und wissen nun unsererseits der heutigen Jugend von ihr wunder was alles zu berichten: Wie es dazumal so lustig hergegangen und so närrisch, so übermütig und doch so solid! Wie bescheiden man gelebt und wie zufrieden, wie billig und wie reichlich! Was man für Schrecken bestehen musste und wie tapfer man sie bestand! Was man für ausgezeichnete Kuchen zu backen verstanden und wie anhänglich und gehorsam die Dienstboten gewesen! Kurz, ein Register von unerhörten Wundern, wie nur junge, gläubige, sorgenfreie Menschen sie zu erleben glauben, und nur die Altgewordenen sie recht zu würdigen verstehen.

Das ist so fortgegangen und wird so fortgehen, so lange Menschen existieren und jung sind und alt werden. Unser aller Stammvater Adam hat mit seiner Gemahlin Eva, geborenen Adam, sicherlich gleichfalls schon oft und wehmütig genug von der »guten alten Zeit« im Paradiesgarten geredet, als das Paar später draußen sein Brot im Schweiß seines Angesichts verdienen und essen musste und die Kinder nicht mehr gemütlich nur so aus den Rippen der schlafenden Eltern herausspazierten.

So geht es denn auch mir. Vordem habe ich mir von der »guten alten Zeit« erzählen lassen und andächtig zugehört. Jetzt fange ich schon selbst an, von ihr zu reden, und sehe in ihr genau wie vor vierzig Jahren meine Eltern in der ihren, Zeichen und Wunder, und weiß Geschichten, wie »es jetzt gar keine mehr gibt!«

Darum müssen die Leser es mir denn auch zu gute halten, wenn ich ihnen heute eine solche erzähle.

Mein Vater war Landpfarrer. Da er sehr viele Kinder, aber nur ein mäßiges Einkommen und kein eigentliches Vermögen besaß, so entschloss er sich, mit Zustimmung meiner Mutter endlich dazu, Pensionäre anzunehmen, das heißt junge Leute, die gegen ein angemessenes Kostgeld ein paar Jahre lang mit seinen eigenen Kindern erzogen, unterrichtet und bis zur Reife für eine höhere Gymnasialklasse ausgebildet wurden. Die Sache gelang. Mein Vater stand als Geistlicher und Pädagoge im besten Ruf und hohen Ansehen, meine Mutter galt für eine gebildete, gütige Frau, welche obendrein ihre Hauswirtschaft auf das Musterhafteste zu führen verstand, und der Anmeldungen kamen so viele, dass man nicht imstande war, alle zu berücksichtigen. Und dies geschah nicht bloß zu Beginn, sondern blieb auch so: Sobald ein Platz frei wurde, war er auch schon wieder besetzt, und es war in den beschränkten Räumen des Pfarrhauses manche Jahre lang so voll, dass wir uns kaum umzudrehen vermochten, ohne an einen anderen zu stoßen. Wir standen dabei unter strenger Zucht und lebten ein gar bescheidenes Leben, blieben aber trotzdem guter Dinge, und ein fideleres und rührigeres Völkchen dürfte schwerlich jemals irgendwo zusammen gewesen sein.

Einmal beherbergte unser Haus auch schon wieder die bestimmte Zahl von fremden Insassen, als der Vater von einem benachbarten Gutsherrn um die Aufnahme eines weiteren Pensionärs angegangen wurde. Es war der letzte Sprössling einer unserer ältesten Adelsfamilien, der schon als Kind beide Eltern verloren und seitdem bei einem seiner Vormünder gelebt hatte. Man schilderte ihn uns als einen guten, aber leiblich und auch geistig ungemein trägen Knaben, an dem die Mühe und Kunst der bisherigen Hauslehrer erlegen und für den auch eine festere Erziehung zu wünschen sei, als er sie an seinem jetzigen Aufenthalt empfangen habe und empfangen könne.

Der Antrag wurde meinem Vater auf das Dringendste gemacht. Der Nachbar, gleichfalls ein Vormund des jungen Menschen, stand mit uns in der freundschaftlichsten Verbindung und verdiente, dass man seine Wünsche nach Kräften berücksichtigte. Da meine beiden älteren Brüder vor Kurzem das Haus verlassen hatten und es somit an Platz für einen weiteren Bewohner nicht gerade fehlte, so gab mein Vater nach und versprach wenigstens, einen Versuch zu machen, den Verwaisten und – so wurde er denn doch geschildert – Verwahrlosten auf einen besseren Weg zu bringen. Zu Ostern rückte der neue Gast denn auch bei uns ein und wurde zu mir in das Zimmer quartiert, das ich seit dem Abgang der älteren Brüder mit einem jüngeren allein bewohnt hatte.

Peter – er trug diesen »plebejischen« Namen trotzdem nach einem alten Familienherkommen – war gewissermaßen eine lebendige Bestätigung jener Beobachtung, nach welcher die alten Geschlechter, zumal wenn sie, wie es hier der Fall war, Verwandtenheiraten begünstigen, allmählich leiblich und geistig in Abnahme zu geraten pflegen. Peter war von der Natur, wenn auch nicht geradezu verwahrlost, doch in hohem Grade vernachlässigt. Was man unter einem »dicken Kopf« zu verstehen pflegt, war oder besaß er im allerhöchsten Grad: Es ging kaum etwas hinein und es haftete noch weniger etwas darin – es war wirklich zuweilen ein Jammer, mit anzusehen, wie er sich plagte, der einfachsten Aufgaben Herr zu werden und in welchem beschränkten Maße ihm dies selbst in seinen besten Stunden gelang. Dazu war auch sein Begriffsvermögen ein unendlich schwerfälliges und sein Verstand alles eher als ein heller. Ähnlich stand es auch, um mich so auszudrücken, mit der Körperlichkeit. Es war ein kleiner, den Gesichtszügen nach keineswegs hässlicher, aber grausam dicker und ungelenker Bursche, der gelegentlich über seine eigenen Beine fiel, stets in erschrecklicher Verlegenheit mit seinen dicken Armen und großen Händen war, daher auch jede Bewegung scheute und, wenn es nun einmal nicht ohne eine solche abging, alsbald den Atem verlor und in Schweiß zerfloss. Auch hier half alle Mühe, welche die Eltern und wir, seine unbarmherzigen Kameraden, uns gaben, wenig oder nichts. Als er nach vier Jahren unser Haus verließ, war er wohl gewachsen, aber trotz knapper und frugaler Kost und aller gelegentlichen Motion kaum weniger dick und noch ebenso unbeholfen wie zu Anfang.

Dessen ungeachtet hatten wir alle unseren Peter im Grunde gern. Wenn man ihn in seiner Ruhe und Bequemlichkeit ließ, seine äußerst empfindlichen Ohren nicht durch allzu großen Lärm verletzte und an sein Denk- und Überlegungsvermögen nicht gar zu lebhafte Ansprüche erhob, befand er sich ausnehmend wohl, war in seiner Weise ganz umgänglich und kein Spielverderber und ließ sich unser Lachen, unser Spotten und Necken mit anerkennungswerter Geduld gefallen, ja entwaffnete hier das Zürnen und die Ungeduld, dort den Spott und die Neckerei gewöhnlich bald und vollständig durch sein unzerstörbares, höchst komisches Phlegma und seine unbesiegliche Gutmütigkeit.

Was von allen Übrigen galt, gilt natürlich auch, und zwar in erhöhtem Grad, von mir, der ich mit Peter ja in genauester Verbindung stand, und zwar nicht bloß durch das gemeinsame Zimmer und unser gemeinsames Arbeiten, sondern auch durch das gleiche Alter und selbst durch den Namen. Wir waren im gleichen Jahr und an gleichen Tagen geboren, und zwar am 29. Juni, am berühmten Peter und Paul.

Peter trug seinen Namen, wie schon gesagt, gemäß der Familiensitte. Ich verdankte den meinen ausdrücklich dem Tag. Denn es war meinem Vater nach den ersten drei oder vier Kindern langweilig geworden, für die kleinen Weltbürger noch immer etwas besonders Schönes und Melodisches auszusuchen. Er gab ihnen daher ohne Weiteres den Namen des Tages, vorausgesetzt, dass derselbe nicht gar zu alttestamentlich war. So kam ich zum Paul, denn Peter hat bei uns zu Lande allerhand Nebenbedeutungen, die man einem Kind doch nicht gern anzuhängen pflegt. Nun hatten wir aber, wie mein Vater lachend erklärte, wirklich »den ganzen Tag im Hause«. Man kann sich denken, dass dies häufig genug Gelegenheit zu guten und schlechten Witzen, zu Neckereien und Spaßen aller Art gab.

So lebten wir denn in ziemlich gutem Einvernehmen und auch im Ganzen recht zufrieden mit einander weiter. Von Zank und Streit war keine Rede, da Peter sich auf derartige Emotionen nicht einließ oder – wenn man so will – nicht verstand und mein Ärger und ein gelegentlich geplanter Schabernack regelmäßig, wie schon oben gesagt, an seiner Unangreifbarkeit erlagen. Ja, er hing sehr an mir, und wie sehr auch ich mich an den dicken Burschen und seine originelle Weise gewöhnt hatte, erfuhr ich überzeugend genug, als ich nach drei Jahren gleichfalls von Zuhause fort ins Gymnasium der Stadt kam und ihn nicht mehr immer um mich hatte. Er, der noch ein Jahr bei den Eltern blieb, soll zu dieser Zeit ganz melancholisch und noch viel, sage ich nur, konfuser geworden sein, als er sonst schon war. Er raffte sich sogar zu ein paar Briefen an mich auf – meine Eltern wollten ihren Augen und Ohren nicht trauen, da sie von diesem Aufschwung seines Geistes erfuhren – und leistete darin das Unglaubliche an kühner Geringschätzung der Grammatik, der Orthografie und des Satzbaus. Für mich und, wie ich bekennen muss, auch für meine neuen Bekannten, waren sie trotzdem eine Art von belebender Mixtur: Wir lachten wochenlang darüber und sahen mit wahrer Sehnsucht nach einer neuen Dosis aus. Für mich persönlich blieben sie umso wertvoller, als mir aus ihnen jedes Mal das Porträt Peters in der wünschenswertesten Vollständigkeit und Anschaulichkeit entgegentrat.

Es vergingen allmählich zwölf Jahre, ohne dass wir uns auf längere Zeit wieder begegnet wären. Ich machte in diesem Zeitraum den gewöhnlichen Weg durch die Studien und Examina, bis ich mich endlich, vorläufig als Hilfslehrer, an eben dem Gymnasium angestellt fand, an welchem ich meine gelehrte Laufbahn begonnen hatte. Mit Peter stand es ähnlich. Auch sein Leben war verflossen, wie man es etwa vorausgesetzt hatte. Er hatte sein Militärjahr gedient – wie er die dazu nötigen Kenntnisse nachzuweisen vermochte, weiß ich nicht –, einen Anlauf zum Gardeoffizier gemacht, der misslungen war, dann sich, natürlich unter Aufsicht, auf Reisen begeben hatte, auf irgendeiner Universität ein paar Vorlesungen besucht, überall sehr viel Geld ausgegeben, endlich die väterlichen Besitzungen übernommen und sich, weil das nun einmal nicht zu vermeiden war, auch standesmäßig verheiraten lassen.

Ich will es hier nur gleich als einen höchst malerischen Charakterzug von ihm anführen, dass er sich zwar in die ihm zudiktierte Heirat mit anerkennenswerter Geduld ergeben und sich ziemlich gut in alles geschickt hatte, was am Hochzeittag von ihm verlangt wurde. Nur bei der Traurede sollte er gar zu häufig und offener gegähnt haben, als wir anderen uns dergleichen erlauben. Er hatte früher aufstehen müssen als gewöhnlich, war den Morgen über wenig zur Ruhe und noch weniger zu dem angenehmen kleinen Schlaf gekommen, durch den er sich zum Mittagessen zu stärken pflegte. Dass er nach solchen Strapazen bei Tisch keinen großen Aufwand an Unterhaltung machte, lässt sich begreifen. Zu der jungen Frau soll er sogar nichts weiter als die gedankenvolle Frage haben laut werden lassen, ob sie wohl meine, dass er nach Tisch eine »Partie« werde zusammenbringen können.

Weiter aber reichte seine Nachgiebigkeit nicht. Eine Hochzeitsreise zu machen, hatte er schon vorher bestimmt abgeschlagen. Er sei mehr als genug in der Welt draußen gewesen und begreife nicht, was dort anders zu holen sei, als ganz unerhörte Strapazen und die furchtbarste Langeweile. Am Morgen nach der Hochzeit erschien er sehr früh bei seinem Vormund und erklärte kategorisch, dass ihn kein Engel und kein Teufel dazu bringen werde, noch einmal eine ähnliche Nacht zu verleben. Er sei es nicht gewohnt, zu zweit in einem Zimmer zu schlafen. Das sei ein Stöhnen und Seufzen, »sogar Schnarchen«, eine Unruhe und ein Rühren gewesen, dass er kein Auge habe zutun können. Dann müsse sein Diener nebenan schlafen, daran habe er sich gewöhnt.  Das solle nun auch wieder nicht sein, er solle sich im Schlafzimmer vielmehr durch die »Kammerkatze« bedienen lassen, und das sei ihm eklig. Kurz und gut, hätte man ihm dies alles vorausgesagt, so würde er kein Narr gewesen sein und sich zu solchem Sklaven haben machen lassen. Gefallen lasse er sich dies nimmermehr, so könne er nicht leben.

Mit einem Wort, er war ganz gewaltig entrüstet, ließ sich auch in keiner Weise beschwichtigen und erwies sich endlich von einer Hartnäckigkeit und Willenskraft, die noch kein Mensch an ihm wahrgenommen hatte. Daheim, in seinem Schloss, denn sein Haus war ein solches, setzte er seinen Willen denn auch durch. Seine Frau bezog den einen Flügel, er den anderen, beide sahen sich fortan nicht leicht anders als mittags bei Tisch und nannten einander Sie, wenn sie überhaupt miteinander redeten.

Wie die junge Frau über diese Einrichtung und Lebensweise dachte, erfuhr man nicht, wie denn überhaupt so gut wie nichts von ihr verlautete. Sie stammte aus einer alten und armen Familie und war von jung auf an etwas wie eigenen Willen und Selbstbestimmung niemals gewöhnt gewesen. So lebte sie auch jetzt gehorsam und demütig in ihrem Flügel und übte nach Kräften eine weitverbreitete Wohltätigkeit, sodass man sie in Kurzem auf Peters Besitzungen ganz außerordentlich verehrte und für sie durchs Feuer gelaufen wäre.

Auf Peters Seite ging es nicht ganz so einfach und still her. Es gab in der Stadt und auch sonst in feiner Nachbarschaft einige »Freunde«, die sich schon vor seiner Heirat zu ihm gefunden hatten und nun, da er vollends selbstständig geworden war, noch zärtlicher zu ihm hielten, ihm sein Geld abgewannen oder abborgten, bei ihm tafelten, für ihn jagten und auf der Rennbahn erschienen, kurz, den armen Burschen nach dem sehr prägnanten Volksausdruck jener Gegend, wie eine »milchende Kuh« behandelten, die sie nach Kräften und so rasch wie möglich ausnutzten. Dass Peter ihnen keinen Widerstand leistete und keine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt und dem Wert seiner Gesellschafter hatte, brauche ich nicht erst zu sagen. Er war glücklich über die Unterhaltung und das gute Leben, in die er ohne fein Zutun versetzt wurde, und nahm reißend zu an Dicke und Bequemlichkeit. Anderen, vernünftigen Menschenkindern jedoch erschien das Ding einigermaßen anders. Da die Einnahmen nicht mehr reichten, die Schulden sich einfanden und alsbald häuften, Einreden und Vorstellungen, statt zu bessern, Peter nur immer eigensinniger machten, so schritten zuletzt, d. h. schon zu Ende des zweiten Jahres nach seiner Vermählung, die Lehnsvettern ein und erreichten es, dass Peter unter Kuratel gestellt wurde. Vernünftigerweise hätte man ihn nie ohne eine solche leben lassen sollen. Er nahm das Ding daher auch durchaus nicht tragisch und war nur ganz zu Anfang und für eine kurze Zeit äußerst verdrießlich und widerwärtig. Dann fügte er sich mit immer leiserem Brummen und beruhigte sich um so leichter, als man ja weder eine Tätigkeit von ihm verlangte noch seine Bequemlichkeit störte.