Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Aufstand der Mucker

Der Aufstand der Mucker
Eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der deutschen Auswanderer

Novo Hamburgo ist heute die nördlichste Stadt im Ballungsraum der brasilianischen Metropole Porto Alegre, der Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, die sich inzwischen zu einem riesigen Moloch aus Beton, Glas und Stahl entwickelt hat, der ganze 81 Stadtteile umfasst.

Noch um 1680 waren dort nichts als Felsen, Urwald und wilde Tiere.

Die ersten Bewohner waren nachweislich Azoreaner, Fischer und einfache Menschen von der Inselgruppe der Azoren, die im 18. Jahrhundert ins Land kamen. Um 1824 trafen dann die ersten achtunddreißig deutschen Einwanderer in Sao Leopoldo ein, eine Enklave, circa 10 Meilen südlich von Novo Hamburgo gelegen.

Der Ort verdankte seinen Namen Maria Lepoldine Josepha Caroline von Österreich, Mitglied des Hauses Habsburg-Lothringen und Kaiserin von Brasilien.

Arbeitsam und fleißig, wie die Deutschen waren, wurde der sogenannte Hamburgerberg schnell zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Mittelpunkt.

Entgegen der landläufigen Meinung, Novo Hamburgo, also Neu-Hamburg, bekam diesen Namen deshalb, weil die ersten Siedler alle aus Hamburg stammten, verdankt die Stadt ihren Namen tatsächlich dem Umstand, das Hamburg der Einschiffungshafen für diese Siedler war, und die kamen fast alle aus dem Hunsrück.

Das aber nur so als Randnotiz.

Jedenfalls entwickelte sich Novo Hamburgo dank des bereits erwähnten Arbeitseifers der deutschen Siedler schnell zu einem wohlhabenden Städtchen, insbesondere die Enklave Sao Leopoldo.

Sie war auch der Ursprung eines bisher nie dagewesenen religiösen Fanatismus, der Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich war.

Aber der Reihe nach.

 

*

 

Im Juni 1841, andere Quellen behaupten es war Juni 1842, erblickte in Novo Hamburgo Jakobine Mentz, Tochter von André Mentz und Maria Elisabeth Müller das Licht der Welt.

Ihre Eltern waren als Angehörige der Wiedertäufer wegen religiöser Verfolgung von Deutschland nach Brasilien übergesiedelt.

Jakobine heiratete 1866 Johann Georg Maurer, der sich im Lauf der Jahre in Sao Leopoldo einen Ruf als Wunderheiler gemacht hatte. Offensichtlich mit großem Erfolg, denn anders ist es nicht zu erklären, dass ihm nicht nur die einfältigen Bauern und Siedler der Enklave ihre Aufwartung machten, sondern sogar angesehene Geschäftsleute aus Porto Alegre.

Jedenfalls floss das Geld reichlich, so reichlich, dass die Maurers, von Gier gepackt, schon bald darüber nachdachten, wie man diesen Geldfluss vermehren konnte.

Geschickt nutzte das Paar die Naivität der leichtgläubigen Landbevölkerung aus und begann um 1870 einen sektenartigen Kult um Jakobine aufzubauen.

Jakobine nannte sich fortan Christusin, erklärte öffentlich die Reinkarnation Christi zu sein und verkündete in ihrer Prophezeiung die Apokalypse.

Als Beweis für ihre angeblich übersinnlichen Fähigkeiten und ihre Nähe zu Jesus Christus wurde ihr Somnambulismus, unter dem sie seit Kindheitstagen litt, aufgeführt.

Obwohl das Paar nicht besonders gebildet war, gelang es ihm rasch, eine beträchtliche Anzahl von Anhängern aus allen Gesellschaftsschichten zu rekrutieren. Zusammen mit diesen organisierten die Maurer auf dem Leonerhof unweit von Sao Leopoldo eine andere Art des Zusammenlebens, wie man es bis dato nicht kannte.

Heute würde man es als eigenes, kollektives Sozialmodell bezeichnen.

Der Grund und Boden gehörte allen Mitgliedern der Gemeinde gemeinsam, Geld lehnte man ab, man strebte nach Autarkie, und was man nicht selbst herstellen konnte, versuchte man zu tauschen. Die Kinder waren so etwas wie Gemeinschaftsgut, für das alle verantwortlich waren, und sexuelle Freizügigkeit wurde großgeschrieben.

Zuerst lachte man über die Sekte, denn nichts anderes waren die Muckerer, und ließ sie weiterhin ungestört ihren Hokuspokus treiben. Jedenfalls wurden ihre Versammlungen als solche betrachtet, in denen Jakobine stets in weißem Gewand und mit einer Krone aus Goldpapier auf dem Haupt ihre Anhänger darauf einschwor, dass nur sie und ihre Anhänger die wahren Christen sein konnten und so lebten, wie es die Bibel wirklich vorschrieb.

Gehet hin und mehret euch schien dabei die Leitthese von Jakobine zu sein, die in Liebesdingen für die damalige Zeit eine wahre Sensation gewesen sein musste. Eine Behauptung, die auch heute noch Gültigkeit hat, denn bis dato haben weder Wissenschaftler, Politologen oder andere Gelehrte keine andere Erklärung dafür, dass eine gänzlich ungebildete Frau – Jakobine Maurer konnte nicht schreiben und kaum lesen und hatte den geistigen Horizont einer Zwölfjährigen – über einhundertfünfzig männliche Anhänger um sich scharen konnte, die sie regelrecht verehrten. Männer aus wohlhabenden Familien, die noch vor geraumer Zeit als rechtschaffene und gesetzestreue Bürger galten und jetzt bereit waren, für ihre Jakobine, wenn es sein musste, bis zum letzten Tropfen Blut zu kämpfen.

Das erzeugte zusammen mit ihrer wirtschaftlichen Autarkie Misstrauen. Die Mucker, wie sich die religiöse Gemeinschaft um Jakobine Maurer nannte, wurden alsbald von ihren Nachbarn ausgegrenzt und es dauerte dann nicht lange, bis Gewalt gegen sie als selbstverständlich hingenommen wurde.

Das führte dazu, das sich die Mucker auch selbst immer mehr radikalisierten. Wer ihrer Gemeinschaft nicht beitreten wollte, musste Abgaben bezahlen, wurde bekämpft und auf Anweisung von Jakobine Maurer zum Teil brutal ermordet.

Zeitgenössischen Berichten nach begannen die Sektierer bereits kurz nach ihrer ersten Zusammenkunft mit der Erbauung eines gewölbten Gebäudes ohne erkennbare Türen und Fenster, mit drei bis vier Fuß starken Sandsteinmauern versehen, und Räumlichkeiten, die nur durch unterirdische Gänge miteinander verbunden waren.

Kurz nach der Fertigstellung um 1874 nahmen dann die Ereignisse, die heute noch als Aufstand der Mucker bekannt sind, ihren Anfang.

 

*

 

Das erste Opfer war ein junger Bursche namens Haubert.

Der fünfzehnjährige Waisenjunge wurde, da sein Vormund der Sekte angehörte und er ihn in deren Treiben mit einbezog, von Gerichts wegen in die Obhut eines Schneidermeisters überstellt. Mit dem Ergebnis, dass er eines Abends, als er noch in der Schneiderstube saß, von einer Kugel, die durch das Fenster schlug und ihn mitten ins Herz traf, getötet wurde. Keine Woche später wurde ein weiterer Siedler namens Kassel, der sich von den Mucker losgesagt hatte, in der Nacht zum 12. Juni 1874 durch das Gebell seiner Hofhunde geweckt. Als er nach draußen ging, sah er mehrere Gestalten um seinen Hof schleichen, die aber bei seinem Erscheinen in die nahen Wälder flohen.

Kassel eilte am nächsten Tag zu den örtlichen Behörden, um Schutz für sich und seine Familie zu erbitten, aber während die Obrigkeit noch unentschlossen weitere rechtliche Schritte abwägte, wurde Kassels Haus in der Nacht zum 14. Juni angezündet und alle Familienmitglieder teils getötet, teils lebendig in die Flammen geworfen.

Die Spirale der Gewalt begann sich immer schneller zu drehen.

Waren es an einem Tag die Mucker, die ihren Nachbarn abends die Bäuche aufschnitten und sie wie Schweine ausweideten, waren es am anderen Tag Siedler, welche die Häuser der Mucker anzündeten und zusahen, wie die Menschen darin in den Flammen umkamen.

Dort wurden einer Frau bei lebendigem Leib die Brüste abgeschnitten, da ein siebzigjähriger Greis wie ein Holzscheit im Bett verbrannt.

Nach diesen blutigen Ereignissen zogen sich die Mucker an den Fuß des Ferrabraz zurück, ein steiler Berg inmitten des schwer zugänglichen Urwalds in einer Sumpflandschaft, die nur durch zwei schmale Waldwege zu erreichen war. Hier befand sich das bereits erwähnte gewölbte Hauptquartier der Sekte mit seinen dicken Mauern und den unterirdischen Gängen.

Aufgeschreckt durch das blutige Geschehen begann die Obrigkeit in Novo Hamburgo und Porto Alegre endlich zu reagieren.

Patrouillen zogen Tag und Nacht durch die Straßen der Städte, um die Anwohner gegen weitere Übergriffe der Mucker zu schützen. Der Präsident der Provinz schickte Oberst Genuino, der sich in den Paraguaykriegen mehrfach ausgezeichnet hatte, mit einhundertzwanzig Infanteristen, zwei Geschützen, siebzehn Kanonieren und weiterem Bedienungspersonal am 28. Juni Richtung Sao Leopoldo, um dem Treiben der Sekte ein Ende zu bereiten.

Der erste Feldzug gegen die Mucker endete jedoch in einem einzigen Fiasko.

Das Gelände war weitgehend unbekannt, die Waldwege zur Festung der Mucker nicht geeignet, um die schweren Geschütze dorthin zu transportieren, und die teilweise unerfahrenen Soldaten den fanatischen Sektenmitgliedern, die vornehmlich nachts und im Schutz des undurchdringlichen Urwalds ständig angriffen, hoffnungslos unterlegen.

Als die Soldaten schließlich den Rückzug antraten, waren die Pferde entweder tot oder fortgelaufen, die Kanonen unbrauchbar und ein Mayor, zwei Hauptmänner und über dreißig Infanteristen tot oder schwer verwundet.

Oberst Genuino telegrafierte nach Rio de Janeiro, um Hilfe zu erbitten, und am Morgen des 19. Juli 1874 stürmte eine fast sechshundert Mann starke Eliteeinheit der brasilianischen Armee das erste Mal auf die Mauern der Muckerfestung zu.

Dieser Angriff dauerte von etwa 7.00 Uhr bis 11.00 Uhr und forderte allein aufseiten der Soldaten über vierzig Opfer. Nachdem eine Granate das Haus zerstört und in Brand gesetzt hatte, flohen die überlebenden Sektierer, jetzt noch etwa siebzig an der Zahl, in den undurchdringlich scheinenden Urwald.

Von dort aus attackierten sie die Soldaten tagelang, um den Rückzug von Jakobine Maurer und einer Schar auserwählter Anhänger zu decken. Bei einem dieser Angriffe fiel Oberst Genuino.

Am 2. August 1874 kam schließlich das Ende der Mucker.

Die Soldaten, die durch Verrat das Versteck von Jakobine und ihren letzten Getreuen kannten, stürmten die verborgen gelegene Waldhöhle und töteten gnadenlos sämtliche Sektenmitglieder.

Rudolph Sohn, ein sehr vermögender, junger Mann aus bester Gesellschaft und mit fantastischen Zukunftsaussichten, der Jakobine durch ihre Liebeskünste hörig und zeitweilig sogar ihr zweiter Gatte war, versuchte sie, nach ihrer Entdeckung durch die Soldaten mit seinem Leib zu schützen und umklammerte seine Prophetin und Geliebte so, dass die Bajonette eines Soldaten sie beide gleichzeitig durchbohrten.

Mehrere Kugeln bereiteten ihrem Leben schließlich ein Ende.

Eine dunkle Seite der Kampfhandlungen waren die nachfolgenden Verstümmelungen, welche die Soldaten an den Leichen der Mucker ausübten. Nasen und Ohren wurden abgeschnitten, Gesichter bis zur Unkenntlichkeit zu Brei zerschlagen oder zerschnitten und die Leiber mit Dutzenden von Bajonettstichen durchbohrt.

Die Grausamkeiten kamen aber nicht von ungefähr.

Wie sich erst nach den Kampfhandlungen herausstellte, waren nicht alle der Mucker Männer. Es waren auch viele Frauen und halbwüchsige Mädchen darunter, und gerade sie kämpften mit einem Fanatismus und einer Grausamkeit, die nur schwer zu begreifen ist. Als Männer verkleidet stürzten sie sich teilweise mit bloßen Händen auf die Soldaten und rissen ihre bedauernswerten Opfer regelrecht in Fetzen.

Wie viele Menschen bei dem Muckeraufstand ihr Leben ließen, ist bis heute nicht bekannt, Schätzungen nach müssen es aber Hunderte gewesen sein.

Treffender als die Worte einer Frau Roland, die diese blutigen Tage miterlebt hatte, könnte der Schluss dieses Beitrages nicht sein.

»Religion, wie viele Verbrechen begeht man in deinem Namen!«

Quellenhinweis:

(gs)