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Die Gespenster – Zweiter Teil – Sechsundfünfzigste Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Zweiter Teil

Sechsundfünfzigste Erzählung

Das betende Gespenst am Kaminfeuer

Gestern, so schrieb Herr von M… an einen seiner Freunde, gestern war die Vermählung der niedlichen Vieldak mit dem liebenswürdigen Saintville. Ich habe als Grenznachbar ihren Festtag feiern helfen. Aber, so froh wie der Tag verging, so angstvoll verging mir die Nacht, denn die Erfahrung, welche ich in derselben machte, ist ohne Beispiel und eben darum fast unglaublich.

Du kennst den alten Vieldak, dessen unglückliche Physionomie uns immer so unerträglich war, und dem wir deshalb nicht recht trauen können. Ich beobachtete ihn gestern genau und hoffte gewiss, dass der Freudentag seiner einzigen Tochter seinen grämlichen Muskeln einmal einen heiteren Blick, ein freundliches Lächeln entlocken werde. Aber vergebens! Anstatt dass ihn das Entzücken seines Schwiegersohnes und die süße Rührung seiner Tochter zur väterlichen Teilnahme hätte hinreißen sollen, schien ihm vielmehr die in unseren Gesichtern lesbare Freude lästig zu sein. Es fehlte wenig, der Unnatürlichste aller Väter hätte uns fast verstimmt und die Freude dieses Tages uns verdorben.

Als die Stunde zum Aufbruch kam, wies man mir, aus Mangel an einem anderen bequemen Gelass, ein Zimmer unter dem großen Schlossturm an. Kaum war ich eingeschlummert, so glaubte ich ein dumpfes Geräusch über mir vernommen zu haben. Ich fing an zu horchen. Da hörte ich deutlich, dass jemand mit Ketten klirrte und langsam einige Stufen herabstieg. Mit einem Mal ging meine Stubentür auf. Die Ketten rasselten ganz in meiner Nähe, und das Gespenst, welches sie nachschleppte, näherte sich dem Kamin, rührte im Feuer, legte einige halb verloschene Brände zurecht, und brummte aus hohler Brust: »Hab mich lange nicht gewärmt!«

Ich gestehe dir, Freund, denn warum sollte ich es leugnen, dass mir ein kalter Schauer durch alle Glieder lief. Ich griff nach meinem Degen, um mich im Notfall meiner Haut zu wehren, und schob leise den Bettvorhang zurück. Der Schimmer von den Kohlen machte mir einen abgezehrten, halb nackten Greis, mit einem kahlen Kopf und schneeweißem Bart bemerkbar. Er hielt seine vor Kälte zitternden Hände gegen das Kohlenfeuer. Ich wurde äußerst bewegt. Indem ich ihn nun so betrachtete, blickte von Zeit zu Zeit eine Flamme von den wieder angefachten Bränden auf. Er sah gedankenschwanger zur Tür hin, zu welcher er hereingekommen war. Dann wieder starrte er unverwandten Blickes den Fußboden an. Er schien sich dem unbändigsten Schmerz zu überlassen. Unverkennbar waren auf seiner Stirn die Züge langen Harmes tief eingegraben.

Nach einigen Minuten sank er wie unwillkürlich auf seine wankenden Knie. Er schien schluchzend zu beten. Ich verstand nur die Worte »Gott, mein Gott! Wie gerecht bist du!«

Ich machte nun absichtlich einiges Geräusch mit meinen Bettvorhängen.

»Ist jemand hier«, fragte er, »ist jemand hier in diesem Bett?« »Ja«, sagte ich und zog meine Vorhänge vollends auf. »Aber wer seid ihr, alter Mann?«

Er seufzte und winkte mit der Hand, als wollte er anzeigen, dass er vor Weinen nicht sprechen könne. Endlich wurde er etwas ruhiger: »Ich bin der elendeste Mensch auf Gottes Erde«, sagte er. »mehr sollte ich Ihnen vielleicht nicht sagen, aber ich habe seit so vielen Jahren keinen Menschen gesehen, dass mich die Freude des Anblicks eines meiner Mitgeschöpfe wider Willen fortreißt. Haben Sie Mitleid mit mir, meine Leiden werden mir minder hart scheinen, wenn ich sie Ihnen erzählt haben werde.«

Mein erstes Schrecken war nun in Mitleiden übergegangen. Ich warf mir den Schlafrock über und fetzte mich neben ihn. Dieser Beweis meines Zutrauens schien ihn zu rühren. Er ergriff meine Hand, und sie wurde nass von seinen Tränen.

»Guter Mann«, sagte er, »zuerst befriedigen Sie meine Neugierde. Sagen Sie mir, warum Sie heute dies abscheuliche Zimmer hier, das sonst öde steht, bewohnen? Was war das für ein ungewöhnliches Geräusch mit Wagen, welches ich diesen Morgen im Schloss vernahm? Was ist hier Außerordentliches vorgefallen?«

Da ich ihm sagte, dass die Vermählung des Fräuleins Vieldak gefeiert worden sei, streckte er seine Arme empor und sagte: »Vieldak hat eine Tochter? Sie ist verheiratet? Gott im Himmel! Segne sie und erhalte ihr Herz rein, rein von den Lastern der ihren! Ich bin Vieldak des Fräuleins Großvater! Ich habe ein Scheusal von Sohn. Doch nein, ich, sein Vater, klage ihn nicht an, ich habe kein Recht dazu!«

Du kannst leicht denken, Freund, dass mein Erstaunen beim Anhören dieser Bekenntnisse unbegrenzt war. Ich wusste, dass Vieldak, der Vater, vor zwanzig Jahren gestorben und beerdigt worden war, und nun um Mitternacht sah ich ihn vor mir. Ich sprang auf, wich einige Schritte zurück, starrte das Gespenst an, wollte reden und konnte nicht.

Die Frage, Alter, lebt Ihr wirklich oder seid Ihr ein Gespenst, schwebte mir auf der Zunge, aber dabei blieb es.

Der Alte mochte sie aus meinem Benehmen lesen und sagte: »Kein Gespenst, was Sie hier vor sich sehen, sondern ein wirklicher lebendig begrabener Mensch! Bei Gott! Ich bin der lebendig tote Großvater der Braut, deren Freudentag Sie heute feierten. Der schändliche Eigennutz meines unnatürlichen Sohne, sein hartes Herz, das die milden Empfindungen der Liebe und Freundschaft nie gekannt hat, verhärtete sich gegen die Stimme der Natur. Er legte mich in Ketten, um meine Güter an sich reißen zu können. Einst hatte er einen Herrn in der Nachbarschaft besucht, dessen Vater vor einiger Zeit gestorben war. Er traf ihn mitten unter seinen Untergebenen an, die ihm seine Einkünfte brachten und ihre Pachtbriefe unterschreiben ließen. Mit irrem Blick verschlang Vieldak dieses Schauspiel, das den scheußlichsten Eindruck auf ihn machte. Schon längst nährte sein Herz den Wunsch, Herr seines väterlichen Erbes zu sein. Nun wurde er trauriger und düstrer, als je. Nach vierzehn Tagen drangen des Nachts drei vermummte Männer in mein Zimmer, zogen mich fast nackend aus und schleppten mich in diesen Turm. Wie Vieldak mich für gestorben hat ausgeben können, weiß ich nicht, aber an dem Läuten der Glocken und an dem fernen Klang einiger Totengesänge vernahm ich, dass mein Begräbnis gefeiert wurde. Die Vorstellung dieser Beerdigung erfüllte meine Seele mit Todesschmerz. Ich bat und flehte nur um die Gnade, Vieldak sprechen zu dürfen, aber umsonst. Diejenigen, welche mir seit zwanzig Jahren Brot und Wasser bringen, um mein elendes Leben zu fristen, halten mich vermutlich für einen Verbrecher, der in diesem Turm zu sterben verurteilt ist. Diesen Morgen wurde ich gewahr, dass der, welcher mir zu essen brachte, die Tür nicht fest verschloss. Ich erwartete voll Sehnsucht die Nacht, um sie mir zunutze zu machen. Entwischen mag ich nicht. Allein schon die Freiheit, einige Schritte weiter gehen zu können, als gewöhnlich, ist einem Eingekerkerten viel wert.«

Wie ich mich von meinem Erstaunen ein wenig erholt hatte, war mein erster Gedanke, den Unglücklichen aus dieser abscheulichen Gefangenschaft zu befreien.

»Gott schickt Ihnen in mir einen Befreier«, sagte ich. »Im Schloss liegt alles im tiefsten Schlaf. Folgen Sie mir, ich will Ihr Verteidiger, Ihr Wegweiser, Ihr Rächer sein.«

Anstatt zu antworten, versank er in ein tiefes Nachdenken. »Die lange Absonderung von aller menschlichen Gesellschaft«, begann er endlich, wie aus einem Traum erwacht, »hat meine Vorstellungsart und meine Begriffe sehr geändert. Es besteht alles in der Einbildung. Nun bin ich völlig an alles, was meine Lage herb und schrecklich macht, gewöhnt. Warum sollte ich sie gegen eine andere vertauschen? Mein Los ist geworfen. Ich beschließe mein trauriges Leben in diesem Turm.«

Dieses melancholische Nachdenken, diese Verachtung der Freiheit, diese mir höchst unerwartete Sprache, verbunden mit einigen anderen Äußerungen, ließen mich ein tief verborgenes Geheimnis ahnden. Und dennoch wusste ich durchaus nicht, wie ich mir das alles reimen sollte; es war mir unbegreiflich.

Der Alte minderte indessen mein Erstaunen, als er fortfuhr: »Für die wenigen Tage, die ich noch zu leben habe, hat die Freiheit keinen Reiz mehr für mich. Ist mein Sohn ein ruchloser Bösewicht, so hat mir doch seine schuldlose Tochter nichts getan. Sollte ich sie in den Armen ihres Gemahls mit der Schande ihrer Familie verfolgen? Ach, ich möchte sie lieber an mein Herz drücken und über sie meinen Jammer ausweinen! Aber ich darf, ich werde sie nie, nie sehen! Leben Sie wohl! Der Tag bricht bald an. Ich gehe in mein Grab zurück.«

Ich widerlegte mich ihm hierin und versicherte, dass ich dies nie zugeben würde. »Die Unterdrückung «, sagte ich, »hat nur Ihre Seelenkräfte geschwächt; aber ich will Ihren gesunkenen Mut wieder stählen. Lassen Sie uns nun nicht überlegen, ob Sie sich zu erkennen geben sollen. Dazu ist nachher Zeit genug. Für heute wollen wir nur diesen Ort des Schreckens verlassen. Mein Schloss, mein Ansehen und mein Vermögen stehen zu Ihrem Dienst. Verlangen Sie es, so soll kein Mensch erfahren, wer Sie sind, und Vieldaks Verbrechen mag, wenn Sie es wünschen, ein ewiges Geheimnis bleiben. Was benötigen Sie nun noch?«

»Ich erkenne Ihre Güte. Ach Gott, möchte ich nur Gebrauch davon machen können, aber ich kann, ich darf Ihnen nicht folgen.«

»Nun, dann bleiben Sie hier zurück, aber ich melde dem Gouverneur der Provinz Ihr grässliches Schicksal, und wir entreißen Sie dann mit Gewalt Ihrem unnatürlichen Sohn.«

»Um alles in der Welt, machen Sie keinen Missbrauch von meinem traurigen Geheimnis! Lassen Sie mich Ungeheuer hier sterben! Ich verdiene nicht, je wieder an das Tageslicht zu kommen. Das schändlichste, das schrecklichste, das unmenschlichste Verbrechen, welches je ein Bösewicht verübt hat, habe ich zu büßen. Sehen Sie hier, mit Entsetzen zeigt es Ihnen diese verseuchte Hand. Sehen Sie hier Spuren von verspritztem Blut! Es ist das Blut meines Vaters. Ich Auswurf der Hölle ermordete ihn, um früher als ich sollte, in den Besitz der väterlichen Güter zu kommen. Ha, noch sehe ich das Bild des sterbenden Vaters. Noch streckt es liebevoll die blutigen Arme nach mir hin, um mich zurück zu halten, der Hölle mich zu entreißen – aber ach! Es sinkt – Vater, Vater! Dein Rächer ist Verzweiflung!«

Der Greis war zur Erde gesunken und raufte sich die dünnen Haare aus dem grauen Schädel. Seine Verzuckungen waren grässlich; er wagte es nicht mehr, mich anzublicken. Und ich stand wie versteinert da. Nach einer Stille, die über alle Beschreibung grauenvoll war, vernahmen wir einiges Geräusch. Auch fing der Tag schon an zu grauen. Der Greis richtete sich langsam und erschöpft in die Höhe. »Sie sind mit Abscheu gegen mich erfüllt«, sagte er. »Leben Sie wohl, vergessen Sie, wenn Sie anders können, dass Sie mich gesehen haben. Ich steige nun in mein Grab zurück und schwöre, es nie wieder zu verlassen.«

Ich vermochte weder zu antworten noch von der Stelle zu gehen. Alles, was ich nun in diesem Schloss sah, erregte ein Grausen in mir. Ich verließ es mit Tagesanbruch und mache nun Anstalt, nach einem meiner anderen Güter zu ziehen. Ich mag das rächende Werkzeug, dessen sich die Vorsehung bedient, nie wieder sehen und selbst nicht ferner in seiner Nachbarschaft wohnen.