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Allerhand Geister – Die harte Kur – Kapitel VII

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Die harte Kur

VII.

Es war wirklich vieles und unter den günstigsten Umständen zusammengetroffen, um den für Agnes und die ihren so verhängnisvollen Fall auch ohne ihre Aussage aufzuklären und dem Ende entgegenzuführen. Auf drei Seiten und fast zugleich ergaben sich überraschende Offenbarungen.

Als Willmann in die Stadt zurückkam und von der Post seinem Haus zuging, begegnete ihm unterwegs ein Standesgenosse, den er zwar kannte, mit dem er aber niemals eigentlich in Verkehr gewesen war. Der Mann redete ihn an und bat, ihn ein paar Schritte begleiten zu dürfen. Er habe von dem Unfall gehört, der seiner Frau zugestoßen sei, sagte er, und durch die näheren Angaben, die Willmanns Disponent ihm gemacht hatte, und durch die Beschreibung des Verdächtigen im Steckbrief, sei er auf einen Gedanken gekommen, den er sich verpflichtet halte, ihm, Willmann, mitzuteilen. Er sei seit langer Zeit mit einem Herrn Wedening bekannt gewesen, der seit etwa fünfzehn Jahren in Nordamerika gelebt habe. Derselbe habe sich zuweilen nach dem Ergehen der Frau Agnes erkundigt, mit der er angeblich vordem bekannt gewesen sei. Aufgefallen sei ihm, dem Erzähler, dabei nichts. Die Fragen seien ihm stets unbefangen und durchaus schicklich erschienen. Nun sei Wedening aber vor etwa drei Wochen in der Stadt gewesen, habe sich angelegentlich nach Agnes und allen Verhältnissen erkundigt und dies obendrein in einem Ton getan, der zusammengehalten mit seinem ganzen, nichts weniger als angenehm veränderten Wesen, den Erzähler halb verdrossen, halb misstrauisch gemacht habe. Sie seien am Haus Willmanns vorübergegangen, und wie der Fremde sich dabei benommen und geäußert hatte, habe von Neuem auf den Einheimischen einen abstoßenden Eindruck gemacht. Der führt etwas gegen die Leute im Schilde, habe er gedacht. Als er nun von jenem Anfall eines Unbekannten auf die Dame und alles Übrige erfahren habe, sei Wedening ihm sogleich als möglicher Täter vor die Augen getreten. Zutrauen könne man ihm dergleichen, nach dem, was er an ihm beobachtet hatte. Verbindlichkeiten habe er gegen den Mann nicht, jedenfalls könne er solche, seiner Pflicht als ehrenhafter Mensch gegenüber, nicht gelten lassen. Anklagen könne er nicht, aber er wolle Willmann doch aufmerksam machen.

Damit war also jene schreckhafte Morgenszene erklärt und es war wieder der Name Wedening, der Willmann entgegentrat, dieses Mal aber in einer Weise, die seinen Verdacht zur Gewissheit steigerte. Allein damit nicht genug, fand er auf seinem Schreibtisch auch die Antwort seines Freundes, von der wir ihn zu Sophie sprechen hörten. Der Tag, an dem das Mädchen verschwunden war, sei wirklich der 23. September gewesen, der gleiche Tag, an dem Agnes ihren verhängnisvollen einsamen Spaziergang gemacht hatte. Dazu hatte der Bruder der Verschwundenen, der jetzige Müller aus der Vogelsmühle, bei dem der Briefschreiber sich erkundigte, gemeint, dass er den Mörder seiner Schwester zu kennen glaube. Unter dem Nachlass der Letzteren gebe es einen Brief mit allerhand, für ihn leider nur allzu verständlichen Andeutungen. Sein Schreiber sei ein Mann, der seit jener Zeit verschollen war, vor Kurzem plötzlich in Wolfertshausen eingesprochen habe, aber als der Müller davon erfahren hatte, bereits wieder verschwunden sei. Bis zur Entdeckung des Grabes im Wald hatte der Müller geglaubt, dass seine Schwester mit jenem Menschen entlaufen sein möge. Seitdem freilich stellte sich die Sache anders und er fragte seinen Besuch, ob er wohl die Anklage erheben dürfe. Dazu hatte Willmanns Freund, nachdem er den erwähnten Brief eingesehen hatte, ernstlich geraten.

Zu der gleichen Zeit etwa, wo Willmann dies alles vernahm, machte man in der, dem Fröbel’schen Gut benachbarten Stadt eine andere Entdeckung. Man erfuhr, dass jener verdächtige Postreisende am Tage vor Agnes’ Unfall in einem gleichfalls nahe gelegenen Dorf mit einem Hausierer angelangt war, den er wegen angeblicher Unzufriedenheit mit dem Kutscher entließ. Er blieb in dem ärmlichen Wirtshaus und wollte am folgenden Tag die Post zu erreichen suchen. Er hatte sich mit dem von uns erwähnten, dort gleichfalls ein gekehrten »Fischfahrer« unterhalten, was den Wirtsleuten auffiel, da der rohe Geselle, wie wir wissen, nicht gerade als umgänglich bekannt war. Am folgenden Morgen ging er angeblich der Post entgegen, allein schon früh und mehrere Stunden, ehe es nötig war.

Daraufhin wurde der Fischfahrer vernommen und schneller als man gehofft hatte, zu dem Geständnis vermocht, wie der Fremde sich von ihm über die Umgebung des Fröbel’schen Hauses habe unterrichten lassen und von ihm durch das Versprechen einer reichen Belohnung erlangt habe, dass er mit seinem Fuhrwerk den hinteren Waldweg einschlage und dort warte, bis der Fremdling zu ihm komme und vielleicht unter der Plane des Wagens irgendetwas oder jemand zu verbergen habe. Der Fremde sei jedoch nicht gekommen, und er habe ihn auch nicht wiedergesehen.

Das Wichtigste von allem war jedoch, dass man den sogenannten Kaufmann Freudenberg selber auf einem Rheindampfer entdeckt und verhaftet hatte und ihn nun der verfolgenden Behörde zusandte. Diese Nachricht ging Willmann mit der Aufforderung zu, dass er sich selbst wieder drüben einstellen möge, um seiner Frau bei den bevorstehenden Verhandlungen zur Seite zu stehen. Der ganze Fall hatte die Teilnahme aller Welt für Agnes und die ihren in ungewöhnlichem Grad in Anspruch genommen, sodass selbst die Behörden, ganz abgesehen von den überhaupt damals noch vorherrschenden patriarchalischen Zuständen, ein »menschliches Rühren« empfanden und sich beinahe einer Art von Herzlichkeit befleißigten.

Als Willmann in der Stadt anlangte, fand er den Fremden bereits vor, ja man hatte schon durch die Konfrontation mit dem Kondukteur und Postillon, den Wirtsleuten und dem alten Fischfahrer die Identität desselben mit dem verdächtigen Postreisenden völlig festgestellt. Das außerordentliche Selbstbewusstsein, mit dem er auftrat, nützte ihn ebenso wenig, wie die Berufung auf seine Eigenschaft als amerikanischer Bürger. In der abgelegenen Provinzstadt machte dieselbe einen bei Weitem geringeren Eindruck, als es in den, von Rücksichten aller Art beherrschten Residenzkreisen der Fall gewesen sein dürfte. Seine Verteidigung war trotz alledem eine so geschickte, wie man sie am Ende von einem gebildeten Mann erwarten durfte, der Zeit genug gehabt hatte, sich vorzubereiten. In seiner Darstellung ertappte man ihn auf keinem Widerspruch, und seine Berufung auf die völlige Vernunftwidrigkeit des ihm schuldgegebenen Entführungsversuchs machte anscheinend einen gewissen Eindruck selbst auf den Richter.

»Darin haben Sie recht, Herr Freudenberg«, sagte der Letztere achselzuckend. »Die Unternehmung scheint allerdings eine solche zu sein, dass man sie einem mit Vernunft begabten Wesen eigentlich kaum zutrauen kann. Und ich gestehe es Ihnen zu, dass, wenn sich nicht ganz besondere Motive …«

»Was sollten das für Motive sein«, unterbrach ihn der Angeklagte in einer fast verachtungsvollen Weise, »die mich zu einem so verrückten Anfall auf eine mir völlig unbekannte Person veranlassen könnten?«

Der Richter zuckte von Neuem die Achseln. »Danach suchen wir ja eben, Herr Freudenberg«, sprach er kaltblütig. »Doch ich wollte sagen: Falls wir nicht dergleichen entdecken und das Zeugnis des Jakob Bräuer das Einzige wider Sie bliebe, so würde Ihre Sache ein ganz anderes Ansehen gewinnen. Hier kann natürlich nur Frau Willmann selber das endgültige Zeugnis abgeben.«

Der Inquisit lächelte überlegen. »Ich hörte, dass die Wunde der Dame — sie ist ja bei jenem Überfall auch wohl schwer verwundet worden — noch immer an ihrer Rettung zweifeln lässt«, sagte er trotzdem in einer Art von bedauerndem Ton. »Da werde ich also wohl noch lange Zeit mich bis zu Ihrer sogenannten Entscheidung gedulden müssen?« Da er keine Antwort erhielt, fügte er wieder vornehm, gleichgültig hinzu: »Übrigens muss ich schon jetzt das Zeugnisse einer notorischen Geisteskranken für völlig irrelevant erklären. Unsere Gesandtschaft wird mir sicher beipflichten.«

»Notorische Geisteskranke?«, wiederholte der Richter anscheinend verwundert. »Wer hat Ihnen denn das aufgebunden? Mir ist davon nichts bekannt. Und auch Sie hätten vorhin, denke ich, gesagt, dass Sie nichts von der Dame wüssten?«

Es musste in diesen Worten etwas einen unbehaglichen Eindruck auf den Angeklagten machen. Er presste wie unwillkürlich für einen Augenblick die Lippen zusammen, meinte jedoch im nächsten Moment schon in seiner bisherigen Weise, dass er nur, wie es auch vollständig richtig, behauptet habe, sie nicht zu kennen. Gehört aber habe er schon von ihr.

»So?«, fragte der Beamte kurz. »Nun, warten wir in Geduld. Beiläufig«, setzte er, das Verhör beendend und sich erhebend hinzu, »sind Sie in Amerika nicht zufällig einmal einem gewissen Wedening begegnet, der gleichfalls vor 15 bis 16 Jahren in der Umgegend von Wolfertshausen lebte?«

Ein jähes, blitzgleich vorüberfliegendes Zucken — und der Inquisit versetzte mit einer gewissen, verdrießlichen Verwunderung: »Gleichfalls? Wieso? Ich weiß nicht, was Wolfertshausen ist, und ein Mann oder Herr Namens We… Wedening, oder wie Sie ihn sonst hießen, ist mir nicht bekannt geworden.«

»So? Nun denn, bis zum nächsten Verhör!«, erwiderte der Beamte kurz.

Am nächsten Morgen stand der Richter vor Agnes, welche am Arm ihres Gatten aus dem Krankenzimmer in den Saal getreten war, um auf die ihr vorgelegten Fragen zu antworten und eine Darstellung des ihr Begegneten zu geben. Sie war ersichtlich sehr angegriffen, und ihre Hand zitterte in der Willmanns, der neben ihrem Stuhl stehen geblieben war. Allein sie blieb gefasst und klar und stärkte sich, wo ihre Kräfte nachzulassen schienen, alsbald wieder durch einen Blick in die freundlichen Augen des Gatten. So genügten ihre Mitteilungen dem Verhörenden denn auch vollständig.

»So bleibt mir nur noch eine Frage übrig«, redete er, nachdem er ihr seine Befriedigung ausgesprochen hatte, voll Teilnahme weiter, »dann darf ich Sie für lange Zeit in Ruhe lassen. Haben Sie ihren Angreifer gekannt, Frau Willmann, oder würden Sie ihn wenigstens wiedererkennen?«

Es ging ein Erbeben durch ihren Körper und sie erhob die Augen mit einem Ausdruck der quälendsten Angst zu ihrem Gatten. Aber sein leises Muth, Muth, mein Herz! und ein fester Händedruck gaben ihr auch nun die Fassung wieder. Wenn auch mit gesenktem Blick und zitternden Lippen versetzte sie vernehmlich: »Beides.«

»War es ein Herr Freudenberg?«

Sie sah überrascht, ungläubig auf. »Freudenberg?«, flüsterte sie.

»Oder ein Herr Wedening?«

Sie sank in den Sessel zurück. Ihre Augen schlossen sich. Aber sie nickte leise.

Der Beamte klingelte. Eine Seitentür ging auf, der Gefangene trat, von einem Gendarmen gefolgt, ein. Seine großen dunklen Augen flogen mit einem blitzenden Blick unter den zusammengezogenen dichten Brauen hervor über das Gemach und die Anwesenden und blieben dann an Agnes mit einem Ausdruck haften, als ob der Mann sich kaum zu überzeugen vermöge, dass sie es wirklich sei.

»Haben Sie die Güte, verehrte Frau, diesen Herrn anzusehen«, sagte der Richter zu Agnes, deren Augen sich nach dem ersten Blick wieder gesenkt hatten. »Und

 Sie schaute erbebend auf. Das Auge des Gefangenen ruhte auf ihr mit einem drohenden und so festen Blick, als wolle er durch denselben zugleich ihren Willen und ihre Kraft in Fesseln schlagen und noch einmal seiner Herrschaft unterwerfen. Es schien fast, als solle ihm das gelingen. Agnes haschte nach Luft. Ihre Augen schlossen sich. Ihr Körper zitterte wie im Fieberfrost. Sie brachte keinen Laut hervor. Über das Gesicht des Gefangenen zuckte ein verächtliches Lächeln.

»Mut, Mut!«, flüsterte Willmann in diesem Augenblick Agnes zu.

Da schlug sie noch einmal die Augen auf, sah und sprach kaum vernehmbar: »Er ist es, Wedening, mein …!« Sie fuhr jäh vom Stuhl auf und warf sich an des Gatten Brust. »Rette uns, rette uns!«, stammelte sie in den Tönen jener furchtbaren Angst, die sie vordem, in den Jahren der Krankheit, zuweilen so erschreckend gepackt hatte.

»Er tötet uns!«

Man schaffte die Bewusstlose fort.

 

*

 

Wir haben wenig hinzuzufügen, am wenigsten über Wedening, dessen Geschick sich erfüllte, wie er es gewissenlos und barbarisch und dennoch voll jener rätselhaften, auch an den schlauesten Verbrechern fast immer wahrgenommenen Unvorsichtigkeit und sich selbst verblendenden Sicherheit heraufbeschworen hatte. Das alte Verbrechen wie das neue wurden jetzt mit Leichtigkeit vollständig aufgedeckt. Aber dass er ein Geständnis abgelegt hätte, erreichte man nicht. Bis zum letzten Augenblick beteuerte er seine Unschuld und erhob wider seine Richter die Anklage, dass es eine Geisteskranke sei, die ihn verderbe.

Wir haben nicht zu entscheiden, ob Agnes jemals wirklich eine solche gewesen war. Aber selbst wenn man dies annehmen dürfte, müsste man doch einräumen, dass sie gegenwärtig genesen zu sein schien. Die furchtbare Kur, so dürfen wir wohl sagen, der sie halb vom Geschick, halb von den ihren unterworfen worden war, hatte trotzdem zum günstigsten Erfolg geführt. Der Anfall von Angst und Schwäche, der sie beim letzten Anblick Wedenings niedergeworfen hatte, blieb der letzte. Als sie die Folgen der heftigen Erschütterung nach einigen Tagen überwunden hatte, machte ihre Genesung, wenn auch nicht rasche, doch sichere Fortschritte. Eine heitere Frau wurde sie freilich niemals. Aber voll Frieden war sie und frei von den alten Schrecken und den qualvollen Banden. Und sie hat ihr Leben lang mit aller Kraft gestrebt, dem Gatten durch erhöhte Dankbarkeit, durch rückhaltloses Vertrauen und hingebende Liebe Ersatz zu bieten für all die schweren, vergangenen Jahre.

Dass Willmann ganz der Mann war, eine solche Hingebung zu lohnen und eines solchen Glückes froh zu werden – brauchen wir das noch zu sagen? Die letzte, kaum geahnte und doch so feste Scheidewand zwischen Agnes und ihm war gefallen. Es war ihm, als sei die Gattin erst jetzt die seine geworden. Und so sind sie einander geblieben.