Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Aus dem Wigwam – Der Jungfernfels

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Der Jungfernfels

ie lieblichen Ufer des Pepinsees in Mississippi waren von jeher der Lieblingsaufenthalt der Indianer. In der Mitte dieses Sees steht ein großer Felsen, der sogenannte Maiden Rock an den sich folgende Sage knüpft:

Sechzig Meilen unterhalb des erwähnten Sees steht das alte Dakotadorf Wabascha, wo viele Jahre vorher, ehe das Blassgesicht jene Gegend entheiligte, der mächtige Häuptling Keora lebte. Keora hatte eine wunderliebliche Tochter, Wenona oder die Erstgeborene genannt. Als dieses Mädchen einst einsam im Wald spazieren ging, gesellte sich ein blühender jungerMann zu ihr, mit dem sie sich so angenehm unterhielt, dass er ihr versprechen musste, sie am folgenden Tag wieder an einem bezeichnten Ort zu treffen. Der junge Krieger hieß Talangamana oder der rote Flügel, und war Spion des feindlichen Menomenistammes. Das holde Lächeln seiner Freundin und Geliebten machte ihn aber seine Aufgabe vergessen.

Täglich streiften beide Arm in Arm im Wald umher und gewannen sich dabei so lieb, dass sie sich ewige Treue schworen.

Aber die häufige und längere Abwesenheit Wenonas schien ihren Brüdern verdächtig. Sie schlichen ihr daher einst nach, nahmen Talangamana gefangen und verurteilten ihn zu einem grausamen Tod. Er wurde in ein dunkles, von alten Indianern bewachtes Gefängnis geworfen und erwartete da die Vollstreckung des scheußlichen Urteils.

Nun ist es bei den Rothäuten Sitte, dass jedermann den Gefangenen am Abend vor seiner Hinrichtung besuchen darf. Auch Wenona machte von diesem Recht Gebrauch. Die Wache ließ sie gern ein und sah sie auch, ohne dabei etwas Anfallendes zu bemerken, wieder fortgehen.

Der Morgen erschien und brachte eine Menge ungeduldigen Volkes vor das Gefängnis. Als man aber die Tür öffnet, um das unglückliche Opfer herauszuführen, steht die blasse Wenona da. Der feindliche Krieger war in ihren Kleidern entflohen. Der stolze Keora schäumte vor Wut, fasste sich jedoch bald wieder und befahl seiner Tochter, nach Hause zu gehen und sich auf ihre Vermählung mit Tahunker oder dem Büffel vorzubereiten.

Aber Wenona wollte lieber den Scheiterhaufen besteigen, als in dieses Bündnis einwilligen. Darauf wurde nun der alte Vater so wütend, dass er sicher sein Kind umgebracht, wenn sie noch länger mit ihrem Jawort gezögert hätte. Die nötigen Vorkehrungen wurden denn getroffen, um die Hochzeit am Fuß des erwähnten Felsens im Pepinsee mit großem Pomp abzuhalten.

Wenona, die bis dahin in trüber Stille verharrt, schlich sich, als alle ihre männlichen Begleiter auf die Jagd ausgezogen waren, mit den Geschenken ihres beliebten Talangamana geschmückt, ungesehen auf die steilste Felsenspitze, wo sie ein herzzerreißendes Klagelied ertönen ließ. Sie sang von ihrem zerstörten, hoffnungslosen Liebesglück, verabschiedete sich von Vater und Brüdern und stürzte sich dann hinunter in die grässliche Tiefe. Keine Spur wurde mehr von der Unglückseligen gesehen.

Dieser Felsen heißt seit jener Zeit der Jungfernfels (Maiden Rock).