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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 2 – Kapitel 10

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Zehntes Kapitel

Der Leser wird mit vergoldeten Tischfüßen, Ahnenbildern und Kammerherren bekannt gemacht

Der Prozess, den der Minister infolge dieser Ereignisse anhängig zu machen drohte, schreckte den General nicht. Er hatte seiner Schwester versprochen, die Sache nicht zur Öffentlichkeit kommen zu lassen. Seine hierauf berechneten Mitteilungen, die er dem Bruder seiner Schwiegertochter unter der Hand machen ließ, gaben ihm die sichere Hoffnung, dass dieser keine Schritte wagen würde, die ihn beim Stand der Dinge nur kompromittieren könnten. Von einem gütlichen Vertrag konnte hier nur die Rede sein. Dessen Punkte zu bestimmen, war den geheimen Vermittlern überlassen, die der General und der Minister auswählen würden. Allein wir haben gesehen, wie den Letzteren die nahe bevorstehende Volljährigkeit seines Neffen und dessen Unfähigkeit, in einer Angelegenheit wie diese zu entscheiden, bewog, den Weg der Öffentlichkeit zu wählen.

Nach dem entscheidenden Akt der Anerkennung, den wir im vorigen Kapitel beschrieben haben, blieb der General wiederum einige Tage für seine Enkelin unsichtbar. Der heftige Mann bereute es, Zeichen von Gefühl und sogar von zärtlichem Gefühl gegeben zu haben. In seinem Charakter lag es, dass hierdurch das Mädchen ihm auf einige Zeit verhasst wurde, und er Muße nötig hatte, um die Erinnerung an sie wieder ohne Groll zu ertragen. Am dritten Tag, um drei Uhr morgens, wurde Judith zu ihm beschieden. Sie fand ihn allein in seinem Zimmer sitzen, in einen weiten Überrock gekleidet und seine Morgenpfeife rauchend. Er sah sie starr an, ohne zu grüßen, und bot ihr auch keinen Stuhl an. Ebenso wenig beschwichtigte er die große Bulldogge, die bei Judiths Eintritt die Zähne fletschte und knurrte.

»Mein schönes Frauenzimmer«, hob er endlich an, »ich grüße Sie und hoffe, dass Sie in Ihrem besten Schlaf waren, als man Sie weckte und Ihnen befahl, zu einem alten, mürrischen Mann zu kommen. He? Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle getan hätte? Ich hätte mich auf die andere Seite geworfen und wäre wieder eingeschlafen. Was sagen Sie dazu, schönes Frauenzimmer?«

Judith enthielt sich aller zärtlichen Begrüßung und sagte mit einem etwas kalten Ton: »Sind Sie gewohnt, dass man auf diese Weise Ihren Befehlen nachkommt?«

»Nein, zum Teufel, das bin ich nicht; allein ich bin gewohnt, zu sehen, dass Weiber Launen haben. Still, Tartüffe! Willst du das Knurren lassen! Fürchten Sie sich vor dem Hund, Jüngferchen?«

»Durchaus nicht«, entgegnete Judith und trat an die Dogge hin, ihre Hand auf des Tieres Kopf legend.

»Siehst du, Tartüffe«, rief der General, »wir haben uns beide in diesem schönen Frauenzimmer geirrt, du, indem du sie für zaghaft hieltest, und ich, indem ich ihr Laune und Trägheit zutraute.« Er zog bei diesen Worten Judith zu sich nieder, fasste den am Nacken angebrachten Knoten ihres schönen Haares. Sie daran schüttelnd rief er: »Geben Sie mir einen Kuss, meine Dame. Hören Sie, einen Kuss will ich haben.«

Er raubte sich den Kuss, und Judith auf seinen Knien behaltend, sagte er mit abgewendetem Gesicht: »Es war eine Zeit, wo ich deine Mutter so küsste, Mädchen. Ich sage dir, ich hatte sie lieb. Als sie zum ersten Mal durch jene Tür eintrat, zitterte und bebte sie. Man hatte ihr gesagt, dass ich roh und jähzornig sei, aber als ich sie kaum, so wie jetzt dich, ein paar Minuten auf meinen Knien geschaukelt hatte, waren wir die besten Freunde.«

»Mein teurer Vater …«

Der General fuhr fort, indem er Judith forschend anblickte: »Die Weiber sagen, dass du deiner Mutter ähnlich siehst, allein ich entdecke keine Spur davon. Freilich hatte sie auch dunkle Augen und dunkles Haar, aber es war nicht dieses Haar und es waren nicht diese Augen. Dagegen hast du etwas, das mich an meinen Sohn erinnert. Es ist einfältig, dass man die Ähnlichkeit bloß in den Zügen sucht. Sie ist vielmehr in der Weise, wie wir denken und handeln begründet, und einen kräftigen Mann, der einen Feigling zum Sohn hat, wenn er auch noch so sehr seine Züge trägt, würde ich doch für einen Betrogenen halten. Ah, meine Pfeife ist ausgegangen. Willst du wohl klingeln, Jüngferchen?«

»Geben Sie her, mein Vater, ich werde die Pfeife neu mit Tabak füllen. Nicht wahr, hier dieser türkische Tabak ist es?«

»Ei, meine schöne Dame, Sie wollten? Bedenken Sie Ihre zarten Hände!«

Judith war mit dem Geschäft fertig und reichte die frisch gefüllte Pfeife dem General hin. Dieser sah sie an, lächelte und sagte nichts. Nach einer Weile rückte er mit einiger Mühe einen der schweren Polsterstühle an den Tisch und winkte Judith, darauf Platz zu nehmen, indem er zugleich auf ein Buch zeigte, das aufgeschlagen dalag. Es war die Geschichte Napoleons. Judith schickte sich an, zu lesen. Sie kam eben an die Beschreibung der Schlacht von Waterloo, als der General zornig ausrief:

»Das ist die Stelle, die mir durchaus nicht gefällt. Überhaupt kann das Buch da zu Ende sein.«

Judith sah ihn fragend an.

Der General fuhr fort: »Es ist ein Jammer und eine Schande, wie sie da kommen und über ihn herfallen, wie sie ihm seine goldenen Kleider ausziehen und ihm das kleine graue Deliquentenjäckchen anlegen. Oh, oh! Dem wäre er entgangen, wenn er nach der Schlacht von Waterloo sich eine Kugel vor den Kopf geschossen hätte. Meinen Sie nicht auch, Jüngferchen?«

»Durchaus nicht«, entgegnete Judith bestimmt. »Es gehörte viel mehr Mut dazu, nach der Schlacht von Waterloo weiter zu leben.«

»Ich sehe das nicht ein.«

»Bedenken Sie, was Montaigne sagt: Es ist die Rolle des Feigen, nicht des Tapferen, sich in die Höhle eines steinernen Grabmahls zu verkriechen, um den Streichen des Missgeschicks auszuweichen.«

Der General antwortete nichts, sondern sah Judith mit einem sonderbaren Blick an, in welchem Verwunderung und Spott sich mischten. »Übrigens«, setzte er nach einer Pause hinzu, »hat er Versuche gemacht, sich das Leben zu nehmen. Man hat in Fontainebleau Giftfläschchen bei ihm gefunden.«

Das Lesen wurde noch eine Weile fortgesetzt, dann stand der General auf und sagte: »Mein Kind, wir wollen den ruhigen Morgen benutzen, um einen Gang durchs Schloss zu tun. Du musst das Haus deiner Väter kennen lernen.«

Er stützte sich auf Judith. Vom Hund gefolgt, schritt das Paar langsam eine breite Treppe hinauf. Jeder ihrer Tritte auf den Steinboden hallte wider und schien ein Echo in einem der hochgewölbten Winkel zu finden, die von dem durchbrochenen Spitzbogen der Decke gebildet wurden. Oben angelangt, klopfte der Hausherr mit dem Stock an ein vergittertes Fenster. Sogleich ließ sich eine Klingel hören. Das Gitterfenster wurde geöffnet und zwei Diener stiegen mit großer Eilfertigkeit hervor. Ihnen folgte ein dicker unbehilflicher Mann, der einen Bund Schlüssel trug und die großen Torflügel des Saales mit einem donnerähnlichen Gepolter öffnete. Der General und seine Enkeltochter schritten hindurch und betraten eine altertümliche Halle mit sehr großartigem Schmuck und stolzem Ansehen. Zwölf schmale, aber hohe Fenster, die durch zwei Stockwerke hindurchgingen, gaben diesem imposanten Saal das nötige Licht. Er war mit Stuck und Vergoldung überladen. Altertümliche Möbel standen an den Wänden verteilt. Zwei kolossale Kamine bildeten, der eine im Grund, der andere den Fenstern gegenüber angebracht, eine architektonische Zierde im Sinn der alten ehrenhaften Zeit, denn diese Kamine endeten an der Decke mit Figurengruppen von schwebenden Engeln und Viktorien, die ihrerseits wieder goldene Fahnen und Draperien schwenkten. Der Plafond stellte eine Jagd der Diana vor. Man erblickte den Hofstaat dieser Göttin in gepuderten Perücken, in Reifröcken und in betressten Jägerkostümen. Ein Lüster aus Kristallprismen senkte sich von der Decke herab.

»Öffnet die Fenster, es ist hier übermäßig dumpf.«

Mit Mühe wurde dies bewerkstelligt. Eine warme Luft und das frische Gesäusel der Pappeln drang in den Saal. Der General und Judith schritten weiter. Die Tür, vom Zugwind erfasst, schlug zu. Ein dumpfer Donner schallte durch die Räume.

»Ich glaube nicht, dass noch ein Saal dieser Art in unseren Gegenden zu finden sein wird«, hob der Hausherr an. »Die meisten Gutsbesitzer haben ihre Schlösser modernisieren lassen. Ich allein ließ das Alte stehen. Jetzt freilich schreien sie mir die Ohren voll, sie möchten mir den ganzen Saal, so wie er da ist, abkaufen und ihn nach Berlin oder Breslau versetzen, wenn es möglich wäre. Neulich brach ein Bein einer Nymphe ab. Was haben sie nicht getan, um dieses Gipsbein zu bekommen. Endlich habe ich es wohl den Narren schenken müssen, und die Nymphe wird das Bein in ihrem Leben nicht wieder zu sehen bekommen. Sieh einmal diesen Kamin, mein Kind. Hier brannte zuletzt bei der Heirat deiner Mutter ein hübsches Feuer. Wir hatten uns hier im Saal versammelt und ich hatte einen kleinen Schmaus veranstaltet. Was meinst du, wenn wir den Saal bald wieder zu einem ähnlichen Zweck brauchten?«

»Zu einem ähnlichen Zweck, mein teurer Vater?«

»Ja, Jüngferchen. Es ist mir so etwas zu Ohren gekommen von einer Vermählung. Allein der Teufel weiß, ob es wahr ist. Wir wollen nur weitergehen.«

Trotzdem blieb er stehen und sah seine Begleiterin mit einem Gesicht voll Spottlust und Mutwillen an. Das Schreckbare, das dieser Mann für die Tochter Florentins hatte, war in diesem Augenblick gänzlich verschwunden. Ein tiefer Seufzer entquoll ihrer Brust. Sie lehnte sich, den Tränen nahe, an seine Schulter.

»Ei, Albernheiten!«, rief er und rückte zornig weg. Sie gingen weiter. Indem sie den prachtvollen Saal verließen, betraten sie eine Galerie, die mit lebensgroßen Gemälden geschmückt war.

»Das sind meine Alten«, sagte der General.

Judith sah die Reihe hinab. Sie schien nicht enden zu wollen. Bild an Bild in altersschwarzen Rahmen, einige Gestalten fast unkenntlich verfinstert, andere geisterhaft verblasst. Auch hier wurden die Fenster geöffnet, denn der Modergeruch war hier stärker als im Saal.

Der General stellte sich kräftig und derb hin und warf mit großer Selbstzufriedenheit den Blick auf die Gemälde. Judith betrachtete ihn, während er seine Ahnen betrachtete. Es war nicht zu leugnen, es lag ein und derselbe Stempel auf dem Leben wie auf dem Tod. Die große feste Gestalt, fest hingestellt, in dem kurzen Samtrock, der markige, entblößte Hals, das weiße Haar, unter einem Käppchen hervorrollend, und das Gesicht mit den schroffen Zügen, die eine eiserne Willenskraft anzeigten, dies war unverkennbar ein Kind der stürmischen und wilden Jahrhunderte, deren Repräsentanten in verblassten Abbildern an den Wänden standen. Der Herr des Hauses schien sich hier ganz unter den seinen zu fühlen. Er ging umher, blieb stehen, machte ein spöttisches Gesicht, wenn er an der großen Haube einer Ahnfrau vorbeischritt, und winkte dann mit einem kurzen soldatischen Gruß einem alten Helden zu, der aus seiner Sturmhaube, wie eine Eule aus einem geborsten Baumstamm, hervorschaute. Endlich schien er sich zu erinnern, dass sich noch jemand außer ihm in der Galerie befand. Er rief Judith heran und sagte: »Chèr comtesse, jai l’honneur de vous presenter le comte Gosvin de Windeck. C’est lui qui à fondé notre chateau. Un beau garçon, comme vous voyes.«

Es war ein Herr in einem samtenen Überzug über eine sehr hell polierte Rüstung. Er hielt das Modell eines kleinen Schlosses in der Hand und sah sehr zufrieden aus dem Bild heraus.

»Der gute Junge hat es aber in seinem selbsterbauten Schloss nicht zum Besten gehabt«, sagte der General. »Er wurde vergiftet, und das auf Anstiften einer Bestie, eines Ordens-Komturs, der einen Hass auf ihn geworfen hatte. Das war zu der Zeit, als der kluge Luxemburger, Carl IV. sich von Otto dem Faulen die Mark verpfänden ließ und sie nachher ganz behielt. Ein hübsches Stückchen vom Wuchertalent eines Fürsten!«

Diese letzteren Worte sprach der General in einer Weise, dass Judith sie nicht unbeachtet lassen konnte. Der gewohnte Ausdruck von Spott und Hohn, der in seinem Antlitz lag, war hier auch im Ton der Stimme durchzufühlen. Die Tochter Florentins hatte zu viel Grund, diesen Mann, an den ihr Geschick nun geknüpft war, in seinen kleinsten Besonderheiten zu beobachten und zu studieren, um sich nicht Rechenschaft von dem Eindruck jeder Miene, jedes Wortes, das ihm entschlüpfte, zu geben. Der General schien diese gespannte Aufmerksamkeit wohlgefällig aufzunehmen. Er erklärte seiner Begleiterin Bild für Bild die Eigenschaften und die Lebensstellung der Originale. Immer jedoch, wo es nur irgend möglich war, fügte er eine spöttelnde Bemerkung über die Fürsten ein. Als die Reihe zu Ende war, sagte er, sich umwendend, zu Judith: »Nun, Jüngferchen, was sagst du zu meinen Alten

Judith zeigte auf ein Bild, über das der General beim Erklären hinweggeschlüpft war, und das einen schönen Mann im Hofkostüm Ludwigs XIV. zeigte, und bemerkte zugleich, dass sie über diesen Herrn nichts erfahren habe.

»Ich spreche nicht gern von ihm«, erwiderte der General. »Er war ein Hofschranz. Einer von den Bestien, die den Königen die Hände lecken und sich von diesen mit Füßen treten lassen. Von allen meinen Alten ist er der Einzige, dessen Gesicht ich ungern hier erblicke. Ich meine, man sieht es ihm auch an, dass er seine Beine unter den Tisch der Fürsten setzte, dass er ihr Brot aß und aus ihrem Weinfass trank. Es ist ein Zug höfischer Schurkerei um seinen breit aufgeschlitzten Mund.«

»Soll denn der Edelmann nicht seinem König dienen?«, fragte Judith.

»Wenn er es vermeiden kann, so soll er es nicht«, entgegnete der General rasch. »Denn der König ist auch nichts weiter als ein Edelmann, und es ist schlecht, wenn ein Bruder des anderen Knecht ist. Ich wenigstens glaube das.«

Diese Worte waren in einer Weise gesagt, die da anzeigte, dass keine Antwort weiter darauf erwartet wurde. Judith schwieg und die Wanderer setzten ihren Gang fort. An der Tür der Galerie trat ihnen Franz entgegen. Er eilte auf den General zu und küsste seine Hand. Dann erst wandte er sich zu Judith und machte ihr eine respektvolle Verbeugung.

»Schon so früh aus dem Bett, Herr Baron!«, fragte der General spöttisch.

»Exzellenz werden entschuldigen«, nahm der junge Mann das Wort, »die Fürstin sendet mich, um Ihre Befehle in Betreff des Frühstücks entgegenzunehmen. Der Morgen ist so schön. Soll es im Gartenpavillon eingenommen werden?«

»Und warum nicht, mein Junge?«, erwiderte der General munter. »Ein alter Knabe wie ich isst sein Stück Brot überall, wo er es findet. Aber ich will Ihro Durchlaucht gebeten haben, meinetwegen von ihrer Gewohnheit spät aufzustehen, nicht abzulassen.«

»Die Fürstin hat sich noch gar nicht zu Bett gelegt«, sagte Franz. »Sie wird erst nach dem Frühstück ihre Nachtruhe halten.«

Der General lachte laut auf. »Das ist etwas anderes!«, rief er. Als der Baron sich entfernt hatte, sagte er, zu Judith gewendet und auf den Abgehenden zeigend: »Das ist auch so ein Haselant und Speichellecker. Er würde jenem Ahnherrn sehr ähnlich werden, wenn ich es erlaubte. Es gibt Leute, die mit krummen Rücken schon geboren werden, und die man mit aller Gewalt nicht gerade aufrichten kann. Lieber zerbrechen sie, als dass sie sich aufrecht stellten.«

Der Gang wurde nun durch mehrere Gemächer fortgesetzt, die indes nichts Auffallendes darboten. Man gelangte in einen Korridor, der in den Seitenflügel führte und mehrere ansehnliche Gemächer enthalten musste. Judith lenkte dorthin, allein ihr Führer zog sie leise zurück, indem er mit einer Stimme sagte, die ganz ungewöhnlich klang: »Nicht dorthin. Da wohnte jemand, den ich gekannt habe, und der gestorben ist.«

Ein Schauer füllte Judiths Brust, als sie diese Worte hörte. Sie warf einen Blick auf die verschlossene Tür, sie hatte ein unheimliches Ansehen. Es war, als müsste sie sich öffnen und Gestalten des Grabes über ihre Schwelle schicken. Der Gang zu dieser Tür war einsam und düster. Halb verwitterte und zerstörte Jalousien hingen vor den Fenstern und ließen den heiteren Morgenstrahl nur gebrochen einfallen.

Die Lichter, die auf dem Boden spielten, sahen wie irrende Seelen aus, die nach Ruhe suchten. Ein Teil des Stucks an der Decke war herabgefallen und lag den Eintretenden vor den Füßen. Der General sah zur Decke hinauf. Sie hing so lose, dass sie ebenfalls herabzustürzen drohte. Die Wanderer zogen sich unwillkürlich zurück, als fürchteten sie, vom Schutt begraben zu werden.

»Wie schnell doch ein Haus einstürzt, wenn man den Bewohner fortgetragen hat«, sagte der General und stieg die Treppe, die in das Erdgeschoss führte, langsam hinab. Hier schied er von seiner Gefährtin, um seine Toilette zu machen.

Man fand die Fürstin in dem kleinen Salon eines wohlverschlossenen Pavillons sitzen, denn ihren Grundsätzen folgend, kam sie nie an die freie Luft, ebenso wenig, wie sie dem Licht freien Zugang gestattete. Hier saß sie in einem rosenroten Lichtschimmer bei einer Masse funkelnden Silbergeräts. Eine dampfende Teevase sandte ihre Wölkchen in die Höhe. Franz wurde beauftragt, während des Frühstücks die Nachrichten der Staatszeitung vorzulesen. Man teilte sich hierüber nicht seine Ansichten mit, das hätte Meinungsverschiedenheiten gegeben. Jeder Streit, er mochte heißen, wie er wollte, war aus diesem Kreis verbannt. Der General, weil er sich nicht zu rauchen erlaubte, saß steif da und außer einigen französischen Komplimenten, die er der Fürstin zuwandte, gab er kein Lebenszeichen von sich. Die Fürstin ließ sich durch einen bedeckten Gang wieder forttragen und das Frühstück im Garten war beendet.

Franz und Judith blieben allein. Der Erstere warf die Zeitung weg und näherte sich mit leidenschaftlicher Bewegungen seiner Cousine. »Meine liebenswerte Diane«, hob er an, »ich bin entzückt, dass mein Glück mir endlich eine ruhige Stunde gönnt, um mein Herz zu öffnen und dessen kleine Geheimnisse vor Ihnen auszuschütten. Ach, Cousine, wo sind meine schönen Hoffnungen, meine Träume hin? Ich sehe nichts mehr, was mich ans Leben noch bindet. Ich könnte heute, in dieser Stunde sterben.« Bei diesen Worten brachte er einen Brief hervor und warf ihn unwillig vor sich auf den Tisch.

»Was ist Ihnen, lieber Franz?«, fragte Judith, indem sie mit einem freundlichen Lächeln in die düsteren Augen des jungen Mannes sah.

»Lieber Franz?«, wiederholte er in sehr weichem Ton. »Ach, Diane, bin ich noch Ihr Freund, Ihr Vertrauter? Schenken Sie mir noch dieselbe Hingebung, die mein Glück auf dem Schloss meiner Tante ausmachte? Damals war ich noch etwas für Sie. Unsere einsamen Mittagsmahle, unsere Abendpromenaden, ach, sie waren durch das Geplauder der glücklichen Vertraulichkeit gewürzt. Hier ist es anders. Sie sehen mich nicht mehr an, Sie sprechen selten mit mir, alle unsere kleinen Scherze haben aufgehört. Sie existieren nur, um ihm sich gefällig zu zeigen, um ihm zu leben.«

»Wem?«, fragte Judith.

»Meinem Großoheim«, erwiderte Franz, sich scheu umsehend, ob er nicht belauscht werde. »Aber Sie haben ganz recht. Er ist Ihr Vater, Ihr Schicksal, Ihr Gott. Er kann Sie in den Staub treten, wie er uns alle in den Staub tritt. O, meine teure Cousine, ich versichere Ihnen, gab es jemals einen tyrannischen Charakter, so ist es dieser. Mich schaudert, wenn ich denke, dass es dem Himmel hätte gefallen können, diesem ein Schwert und eine Krone zu geben! Welch ein Entsetzen für die Welt. Er, der nur seinen Willen kennt, würde mit der Existenz anderer gespielt haben, wie ein Knabe mit einem Federball spielt.«

»Sie beurteilen ihn falsch«, sagte Judith, »ich glaube, so wenig ich ihn auch kenne, bemerkt zu haben, dass er streng, aber auch gerecht ist. Freilich, seinen eigenen Willen zu haben, ist in der Welt ein sehr kostspieliger Luxus.«

»Wie verstehen Sie das?«, fragte der Baron verwundert.

»Weil es sehr bequem und sogar einträglich ist, den Willen anderer zu dem seinen zu machen.«

»Aber Sie predigen der Herrschsucht, dem Eigensinn das Wort?«

»Nein, nur der Tatkraft.«

»Ich sehe, Sie sympathisieren mit diesem rohen, stolzen Mann. Die Frauen lieben das. Sie wollen zu Zeiten lieber misshandelt als geliebkost sein.«

Judith lachte und antwortete nicht. Sie nahm ihre Stickerei zur Hand und setzte sich ans Fenster. Franz folgte ihr dorthin, indem er sich mühte, den roten Vorhang aufzuziehen. »Wir wollen den ewigen Rosenduft meiner guten Tante zerstreuen«, sagte er dabei lächelnd. »Jetzt, da die Fee nicht da ist, kann auch die Wolke schwinden.«

»Ach«, rief Judith, das Fenster aufstoßend, »frische Luft, wie labend ist das!«

Franz setzte sich hin und sah mit einem Seufzer seine Cousine an. »Warum«, hob er an, »hat Sie das Schicksal in eine aristokratische Wiege gelegt, arme Cousine. Sie gehören dem wilden modernen Leben an, dem Leben, das sich durch lauter vorgesteckte Lanzenspitzen hindurchhäkelt. Sie bringen das Geräusch der Landstraße, die Streitigkeiten des offenen Marktes in die tiefe musikalische Ruhe unserer Adelspoesie, in die stillen, dumpfen Gemächer unserer Ahnensäle. Sie sind die Muse der Gegenwart, keck, wild und flüchtig. Die aufgeregten Ideen wählten sie zu ihren Missionaren, um in die festen Schlösser des Vorurteils zu dringen. Aber Sie werden untergehen, Sie werden ihr Werk nicht durchsetzen können, man wird Sie als einen kecken Eindringling abweisen.«

Judith sah Franz überrascht und aufmerksam an.

»Warum blicken Sie mir so starr ins Auge?«, fragte dieser.

»Weil ich Sie zum ersten Mal als Propheten sprechen höre.«

»O, ich kann noch ganz andere Dinge prophezeien. So prophezeie ich Ihnen Ihre baldige Vermählung, Diane.«

»Sie kennen den Grafen Windeck?«

»Der Glückliche«, erwiderte der Baron düster, ohne auf die Frage zu achten. »Dieser Brief meldet seine Ankunft. Ihm, der den Namen der Familie trägt, ihm sind Sie aufgespart. Ein anderer würde vergeblich nach Ihrem Besitz ringen.«

»Ich muss glauben, dass diese Pläne noch sehr in weiter Zukunft stehen«, bemerkte Judith.

»Aber Sie irren, meine teure Cousine. Diese Heirat beschäftigt den General ausschließlich. Er wird mit Ihrer Realisierung nicht warten. Es liegt in seiner Weise, dass er niemanden dabei zu Rate zieht, auch Sie selbst nicht, Cousine. Seien Sie versichert, dass er auf ihren blinden Gehorsam zählt. Durch diese Heirat erklärt er Sie zu seiner Erbin. Sie sind unauflöslich an die Familie gebunden, um dann nicht wieder verloren zu gehen, Sie Böse, wie Sie uns anfangs verloren gingen.«

Judith kämpfte mit heftiger Aufregung. Sie ließ eine Pause vergehen, dann sagte sie: »Sie haben mir nicht geantwortet, kennen Sie diesen Grafen?«

»Ob ich ihn kenne«, rief Franz verwundert. »Wir studierten miteinander und waren uns vollkommen ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass er etwas lernte und ich nichts. Ich werde ihn nicht weiter porträtieren, denn ich will Ihnen die Freude der Überraschung nicht rauben. Was ist Ihnen, Cousine? Welche Farbe suchen Sie?«

»Die violette.«

»Mein Himmel, die liegt Ihnen ja ganz bei der Hand. Ach, Sie sind zerstreut. Das ist etwas Seltenes bei Ihnen. Wie schön diese Hand ist! Wollen Sie sie nicht in Gips abformen lassen und dann mir geben. Ich könnte dann sagen, ich hätte Sie um Ihre Hand angesprochen und Sie hätten Sie mir gegeben. Das ist ein trauriger Scherz. Aber was sehe ich! Wo ist der Brillant hin, den Sie hier am kleinen Finger trugen?«

Judith erwiderte, dass sie ihn verschenkt habe.

»Das erinnert mich«, fuhr Franz fort, »dass auch ich einen sehr schönen kostbaren Ring einbüßte. Er lag auf meinem Schreibtisch und verschwand plötzlich. Der Argwohn, ihn mir geraubt zu haben, fällt auf jenen frechen Abenteurer und Dieb, der die arme Frau von Traubenstein so arg geplündert hat, und dem die Gerichte bis jetzt erfolglos nachgespürt haben. Meine Tante kann es mir noch nicht vergeben, dass ich diesem Menschen Zutritt in das Schloss gestattete, und vor allen Dingen, dass er sich Ihnen, Cousine, hat nähern dürfen. Sie ist außer sich, dass der Pesthauch eines gemeinen Diebes an Ihre Wange hat hinstreichen dürfen. Du lieber Himmel! Im öffentlichen Leben kommen noch ganz andere plebejische Berührungen vor. Ich erinnere mich, auf der Universität mit zwei edlen Jünglingen Brüderschaft getrunken zu haben, von denen der Erstere einen Platz auf der Galeere, der andere an einem englischen Galgen fand.«

Judith war froh, als Franz sich entfernte, um in der Einsamkeit, die finsteren Geister zu beschwören, die jene absichtslos hingeworfenen Mitteilungen in ihrer Fantasie hatten aufsteigen lassen.