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Der Spion – Kapitel 29

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 29

Condesa Armigo

Nachdem die beiden Offiziere eingetroffen waren, ließen sie sich mit Kit Andrieux und dessen Gefährten im Halbkreis vor dem Gefangenen nieder. Maurus hatte neben Nicodemo Platz genommen. Oliva verschmähte jede Bequemlichkeit. Inmitten der rauen verwitterten Männer erhob sie sich wie eine Märchengestalt. Mehr denn je zuvor, verriet sich in ihrer Haltung stolzes Selbstbewusstsein, welches durch die abgetragene Lederbekleidung und den breitrandigen formlosen Filzhut nicht beeinträchtigt werden konnte. Lang wallte das zeitweise im Wind flatternde schwarze Haar über Schultern und Rücken nieder. Kalte Ruhe thronte auf dem schönen, sonnenverbrannten Antlitz.

Mit kalter Ruhe blickten die großen dunkeln Augen, indem sie anhob: »Nach den Ereignissen, die hinter mir liegen und bei denen ich unter Beiseitesetzung aller meinem Geschlecht schuldigen Rücksichten mitwirkte, scheue ich mich nicht, mir da eine Stimme anzumaßen, wo eigentlich nur Männer sprechen sollten. Die Erfahrungen weihten mich gewissermaßen zu der mir vom Geschick zuerkannten Aufgabe. Ich stehe daher im Begriff, nur eine heilige Pflicht zu erfüllen. Ob der Mann, der hier vor uns gefesselt liegt, das Leben verwirkte, werden Sie alle längst ermessen haben. Für Sie ist er ein Mordbrenner, der sich außerhalb des Gesetzes befindet. Mir gegenüber nimmt er dagegen die Stelle eines Höllengeistes ein, der als lebendiger Fluch auf die Erde entsendet wurde, um für sich selbst immer neue Flüche vorzubereiten.«

Da richtete Quinch sein Haupt empor. Einen Blick, in welchem verhaltene Raserei sich mit Grauen einte, tierische Wut mit stumpfer Feigheit um den Vorrang kämpfte, sandte er im Kreis, bis er endlich auf Maurus haften blieb, worauf er ihn mit den Worten anredete: »Sie sind Offizier, anscheinend der Kommandant der gegen mich entsendeten Truppen. Ihnen gegenüber erhebe ich Einspruch gegen die Art, in welcher man einen durch Verrat in Ihre Gewalt geratenen Befehlshaber einer militärisch geordneten Streitmacht behandelt.«

»Eine Bande, welche unter dem Mantel der herrschenden Kriegszustände ihre Bahn durch Mord, Brand und Raub kennzeichnen, ist keine militärisch geordnete Truppe«, antwortete Maurus streng. »Sie wissen, dass, wo auch immer man Ihrer habhaft geworden wäre, man Sie standrechtlich erschossen hätte.«

Zähneknirschend warf Quinch sich wieder zurück. Oliva sprach weiter, als ob keine Unterbrechung stattgefunden hatte.

»Meine Erinnerungen beginnen mit den Zeiten, in welchen ich als fünfjährige Tochter eines texanischen Grenzers, eines Vaqueros, ein Pferd zügeln lernte, mit unbändigen Altersgenossen um die Wette ritt und mich im Lasso werfen übte. Was auf mein früheres und frühestes Lebensalter entfällt, das sollte für mich in undurchdringliches Dunkel gehüllt bleiben. Treue Freunde sorgten dafür …« Abermals traf einer ihrer eigentümlich warmen Blicke Nicodemo. »… dass auch über jene Tage endlich keine Zweifel mehr bei mir walten konnten. Meine ursprüngliche Heimat ist das Tal des Rio Grande del Norte, wo es, von der Natur hoch bevorzugt, als der gesegnetste Teil New Mexikos bezeichnet werden darf. Dort lebte auf seinen umfangreichen Besitzungen mein eigentlicher Vater, der Abkömmling des stolzen spanischen Grafengeschlechtes der Armigos. Seine Frau war eine Mexikanerin, deren Schönheit und Anmut weit und breit gepriesen wurde. Jeder, der sie kennen lernte, huldigte ihr, so auch ein junger Amerikaner, namens Sullivan, der eine militärische Erziehung genossen hatte und aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen sehr bald wieder aus der Armee entlassen worden war. Die ehrenwertesten Ursachen können es nicht gewesen sein, denn dieser Sullivan war kein anderer, als der Mann, der hier gefesselt vor uns liegt. Der Zufall führte ihn in das Haus meiner Eltern, als ich noch nicht lange geboren war. Ihm auf dem Fuß folgte der Verrat, welchen eine glückliche Familie zum Opfer fallen sollte. Wie es diesem Sullivan oder vielmehr Quinch, wie er sich später nannte, gelang, die junge Frau zu betören und sich in ihr Herz einzuschleichen, darüber habe ich kein Urteil. Ich weiß nur aus verbürgter Quelle, dass mein Vater plötzlich starb und meine Mutter ihn aufrichtig betrauerte. Bei dem ausgedehnten Landbesitz, welchen der Vater ihr und ihrem einzigen Kind hinterlassen hatte, mochte sie es willkommen heißen, dass Sullivan sich erbot, die Verwaltung ihres Eigentums zu übernehmen. Dann aber dauerte es kein Jahr, bis sie seinem Drängen nachgab und ihn heiratete. Damit hatte sie diesem Teufel in Menschengestalt eine Macht über sich eingeräumt, gegen welche sich aufzulehnen sie weder die Kraft noch den Mut besaß. Wie er aber seine finstere Gewalt über die unglückselige verblendete junge Frau auszunutzen verstand, geht daraus hervor, dass er bald nach der Heirat deren Tochter, also mich, unter irgendeinem Vorwand von ihr nahm. Dass meine gewiss zärtliche Mutter es über sich gewann, von ihrem einzigen Kind sich zu trennen, erscheint unbegreiflich, unnatürlich, und doch ist es geschehen. Es erklärt sich daraus, dass sie Sullivan gegenüber die letzte Spur eines eigenen Willens verloren hatte, ihr jeder Verkehr mit anderen abgeschnitten wurde und sie keinen besaß, dem sie vertrauensvoll hätte nahen dürfen. Ihre Abhängigkeit, gezeitigt durch Furcht, gipfelte darin, dass sie ein von dem Ungeheuer selbst aufgesetztes Testament gerichtlich beglaubigt unterschrieb, laut dessen im Fall ihres Todes die Hälfte ihres Vermögens in seinen Besitz überging, außerdem aber auch noch die auf ihre Tochter entfallende andere Hälfte, wenn diese Tochter unverheiratet sterben sollte. Das Rätsel zu lösen, durch welches Sullivan eine so unumschränkte Gewalt über die arme junge Frau gewann, ich unternehme es nicht. Lebte zwischen ihnen ein finsteres Geheimnis, ich meine, dass meine Mutter Kunde von dem auf Sullivan ruhenden Verdacht der Ermordung meines Vaters erhielt, so fällt es allein Sullivan zur Last. In diese Richtung hin kann sie nur bis zu einem gewissen Grad, dem des Schweigens, seinen teuflischen Einflüssen erlegen sein. Und so wird sie auch, um der Qualen willen, welche sie an seiner Seite erduldete, in einer anderen Welt Vergebung dafür gefunden haben. O, der Himmel! Wie oft fragte ich, weshalb er zugab, dass eine mit allen Bedingungen zu Glück und Zufriedenheit ausgerüstete Familie den höllischen Ranken eines schwarzen Verbrechers zum Opfer fallen musste. Ich fand keine Antwort darauf. Nicht minder oft fragte ich, ob es denn keine Behörden, keine Nachbarn, keine rechtlich denkende Menschen gab, die rettend, vermittelnd hatten einschreiten können. Ich finde nur die einzige Erklärung in der gänzlichen Abgeschiedenheit, in welcher die arme Dulderin ihre wenigen Tage verbrachte. Wo kein Kläger, da ist auch kein Richter. Hätte sie aber Klagen erheben wollen, sie wären ungehört verhallt. Ich kann mir vorstellen, wie sie schon allein um ihres abwesenden Kindes willen das Bewusstsein verheimlichte, mit einem Mörder Hand in Hand durchs Leben gehen zu müssen.
Zwei Jahre waren nach der Wiederverheiratung meiner Mutter verstrichen, als der Tod sie von ihren endlosen Leiden erlöste. Sie starb nach kurzer Krankheit. Ob Gram, Reue und nie schlummernde Selbstvorwürfe sie töteten, ob ihr Ende künstlich beschleunigt wurde, wie man sich abermals zuraunte, aber sträflicher Weise vermied, der Sache auf den Grund zu gehen, darüber vermöchte derjenige allein Auskunft zu erteilen, der hier vor uns seiner Verurteilung entgegensieht. Ich selbst, ihre Tochter, ich kenne nur Trauer um die Mutter, nur kindliche Liebe zu ihr, die ich nie mit Bewusstsein sah. Was sie litt, heiligt sie in meinen Augen. Seitdem ich einen klaren Blick in die ferne Vergangenheit gewann, durchlebte ich ihre Qualen immer wieder, so oft ihre traurige Geschichte in meiner Seele auftauchte. Daraus aber konnte nur unheilbare tiefe Erbitterung hervorgehen, eine Erbitterung, welche nicht nur Jahre überdauerte, sondern mit dem Fortschreiten der Zeit noch wuchs. Ja, eine schwarze Geschichte ist es, welche seit der Geburt mein ganzes Dasein durchwebte. Der Vater von der Hand eines Meuchelmörders gefallen, die Mutter ihm nachgesendet, wenn auch nur durch die ihr aufgebürdeten Martern, ich selber aus dem Erbe meiner Eltern hinausgeworfen und um meinen Namen bestohlen, ich dächte, das wäre genug, um einen vom Himmel entsendeten Engel in ein reißendes Tier zu verwandeln. Und endgültig hinausgeworfen war ich. Denn wie sich später erwies, stand ich schon in meinem vierten Jahr im Sterberegister des benachbarten Kirchspiels als Tote verzeichnet. Es konnte dies nur auf Grund gefälschter Papiere ausgeführt worden sein, um Sullivan auch mein Erbteil in die Hände zu liefern. Wie schnell er alles verspielte und verprasste, ist heute nicht mehr von Belang. Ich hebe nur hervor, dass ihm endlich nichts anderes übrigblieb, als bei Nacht und Nebel aus einer Nachbarschaft zu verschwinden, in welcher jeder mit Verachtung auf ihn hinsah und ihn wie einen Aussätzigen mied. So viel man später auskundschaftete, hatte er sich in die Vereinigten Staaten geflüchtet, wo er verschollen oder vielmehr unter einem anderen Namen seine verbrecherische Laufbahn weiter verfolgte.«

Hier ließ Oliva eine Pause eintreten. Wie um ihr Gedächtnis zu klären, strich sie mit der Hand über ihre Stirn. Ihr Antlitz hatte bis dahin nicht die leiseste Erregung verraten. Erst als sie auf Quinch hinabsah, der schwer atmend mit geschlossenen Augen dalag, anscheinend vollständig abgestumpft dagegen, wie bald der letzte vernichtende Schlag ihn traf, sprühte es unheilverkündend aus ihren Augen. Mehrfach hatte er wohl eine Bewegung ausgeführt, wie um sie zu unterbrechen, war jedoch bald wieder in seine tückische Verschlossenheit zurückgesunken. Ob die Blicke aller Anwesenden mit gleichsam atemloser Spannung an ihren Lippen hingen, ob in deren Haltung sich ernste Teilnahme, sogar mit Bewunderung gepaarte Achtung verriet, das eine wie das andere ging spurlos an ihm vorüber. Es war die Stunde gekommen, welche sie seit Jahren mit krankhafter Sehnsucht sich vergegenwärtigte, eine Stunde, die sie wohl tausendmal im Voraus durchlebte, oder es wäre ihr kaum möglich gewesen, eine derartige Selbstbeherrschung zu bewahren, eine kaltblütige Überlegung, die so weit über die Grenzen weiblichen Denkens, Handelns und Empfindens hinaus reichte.

»Während Eltern, Heimat, Geburtrecht und Name nur ruchlos geraubt wurden«, nahm sie ihre Enthüllungen wieder in ruhigem Erzählerton auf, »während mein Erbteil, was ich am geringsten schätze, schamloser Vergeudung anheimfiel, lebte ich selbst friedlich und glücklich in den bescheidenen Verhältnissen, in welche ich über mehr als hundert Meilen hinweg gewissenlos hineingestoßen worden war. Ich fühlte mich tatsächlich überglücklich, wenn ich als heranreifendes Mädchen in Männertracht auf meinem Renner die unserer Obhut anvertrauten Viehherden umkreiste; glücklich in der Gewandtheit, mit welcher ich das Lasso den Rindern über die Hörner, den Pferden über die Köpfe warf; glücklich im Verkehr mit Altersgenossen und Genossinnen; glücklich im Kampf mit winterlichen Schneestürmen und sommerlicher Gluthitze, mit Hunger, Durst und Beschwerden, wie solche einen weniger zähen Körper hätten aufreiben müssen, den meinen dagegen stählten. Es war eine Schule, in welche ich gewissermaßen vom Geschick getan worden war, um mich auf das vorzubereiten, was mir dereinst als eine heilige Aufgabe zuerkannt werden sollte. Ich nenne sie heilig, mögen andere nach Belieben darüber urteilen.
Sonst entfällt auf die ersten sechzehn Jahre meines Lebens nichts, was gerade hier des Erwähnens wert wäre. Die vermeintlichen Eltern, deren beide Kinder im frühen Jugendalter einer Seuche zum Opfer gefallen waren, gaben mir täglich die Beweise ihrer zärtlichen Zuneigung, die von mir aus vollem Herzen erwidert wurde, sodass nach meinen damaligen Begriffen mir nichts zu wünschen übrig blieb. Trotz der schwierigen Verhältnisse sorgten sie sogar dafür, dass ich wenigstens notdürftig schreiben und lesen lernte. Bei meinem unwiderstehlichen Hang zum freien Umherschweifen betrachtete ich die zum Lernen anberaumte Zeit zwar als eine Belästigung, als eine harte Einschränkung meiner Unabhängigkeit. Mit umso größerem Eifer verlegte ich mich dafür später auf eine Bereicherung meiner Kenntnisse, soweit eine solche mir zu meinen Zwecken geboten erschien. Ich erwähne dies beiläufig, um vor denjenigen, die ich hier mit Recht meine Freunde nenne, die redlich errungenen Erfolge des geheimnisvollen Spions des Wunderbaren zu entkleiden.
Lebhaft schwebt mir vor, dass eines Tages auf dem kleinen Rancho der Pflegeeltern ein Fremder einkehrte, welchem die beiden alten Leute, wie ich leicht unterschied, mit unzweideutiger Ängstlichkeit begegneten. Heute ist die Ursache ihrer Unruhe mir kein Rätsel. Der Fremde war kein anderer als Sullivan, derselbe Mann, der mich einst ihrer Obhut übergab und von welchem sie fürchteten, dass er gekommen sei, um mich abzuholen. Ihre Besorgnis war übertrieben. Nach kurzem Aufenthalt entfernte er sich wieder, aber bis auf den heutigen Tag meinte ich in meinen Träumen noch oft die seltsam durchdringenden, wahrhaft beleidigenden Blicke zu fühlen, mit welchen er mich fortgesetzt prüfte. Dadurch aber prägte sein Bild sich meinem Gedächtnis so unauslöschlich ein, dass ich ihn nach Jahren auf den ersten Blick sofort wiedererkannte. O, unter Tausenden und Tausenden hätte ich ihn herausgefunden, trotz der Wandlung, welchen die Zeiten eines zügellosen Lebens in seinem Äußeren bewirkten. Später begriff ich, dass er, von seinem belasteten Gewissen und unbestimmter Furcht getrieben, nur gekommen war, um sich von meinem Leben oder Tod zu überzeugen, und das war der erste Schritt zur heutigen Vergeltung. Denn ohne jene flüchtig geschlossene Bekanntschaft würde ich schwerlich in die Lage geraten sein, wie jetzt, auf den Elenden hier vor uns zu weisen und zu sprechen: Das ist Sullivan, der Räuber, Sullivan, der Mörder, ein Ungeheuer, welches wie ein giftiges Reptil zertreten zu werden verdient.«

Einen kalten Blick warf Oliva auf den Gefesselten, sah aber, wie von seinem Bild angewidert, sogleich wieder von ihm fort. Ruhig, beinahe versöhnlich klang ihre Stimme in der Fortsetzung ihrer Mitteilungen: »Ich hatte eben mein siebzehntes Jahr vollendet und kannte kein anderes Wünschen und Hoffen, als dass mein freies, ungebundenes Leben nie eine Wandlung erfahren möge, als der Zufall mich mit einem jungen Landbesitzer zusammenführte, dessen Gehöft sich in der Entfernung zweier Tagesreisen von uns inmitten einer grasreichen Ebene erhob. Mein Pflegevater und ich hatten in Begleitung mehrerer Knechte ihm eine Herde Rinder zugetrieben. Da mochte ich trotz der Verkleidung – mein Geschlecht zu verheimlichen, gab es für mich ja keinen Grund – seine erste Aufmerksamkeit erregt haben. Wir wechselten wenige Worte miteinander. Das genügte mir, aufrichtiges Wohlgefallen an seiner äußeren Erscheinung wie an seinem ruhigen, ernsten Wesen zu finden. Wie er trotz der Verschiedenartigkeit unserer Lebensstellung über mich dachte, ging daraus hervor, dass er uns nach einiger Zeit besuchte. Dann dauerte es nicht lange, bis er die ehrliche Absicht aussprach, mich, die vermeintliche Tochter eines einfachen Vaqueros, zu heiraten. Ich sagte nicht sogleich zu. Indem er aber seine Besuche wiederholte und mit Vertrauen erweckender Güte mir die Wege anbahnte, auf welchen ich mein dürftiges Wissen zu bereichern vermochte, entwickelte sich allmählich das innigste Verhältnis zwischen uns, sodass ich mit stillem Entzücken des Tages gedachte, an welchem ich als seine Frau bei ihm einziehen würde. Dieser Zeitpunkt wurde immer wieder noch etwas weiter hinausgeschoben, weil meine Pflegemutter gestorben war und ich den Vater auf seinem kleinen Grundbesitz nicht allein lassen wollte. Da erkrankte auch er und zwar in einer Weise, dass seine Tage nur noch kurz bemessen erschienen. Er selbst befand sich am wenigsten in Zweifel über sein bevorstehendes Ende. In diesem Bewusstsein trug er mir auf, meinen Verlobten zu uns bescheiden zu lassen. Lebewohl wollte er ihm sagen, ihm meine Zukunft noch einmal dringend ans Herz legen.
Als er eintraf, hatte der Zustand des alten Mannes sich sehr verschlimmert. Glücklicher- oder unglücklicherweise – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll – besaß er noch hinlänglich Kräfte, um in seiner ehrlichen Art zu uns zu sprechen. Hand in Hand saßen wir neben seinem Lager. Heute noch meine ich in seine traurigen Augen zu blicken, seine stockende Stimme zu hören, indem er anhob: ›Ob es besser für euch wäre, das mir aus der Seele lastende Geheimnis mit fortzunehmen, mag Gott wissen. Ich meine aber, nicht ruhig vor meinen letzten Herrn und Richter hintreten zu können, wenn ich nicht zuvor mein Gewissen erleichtere.‹ Eine Weile säumte er, um ein wenig Kräfte zu sammeln, dann fuhr er mit einer Hast fort, als hätte er befürchtet, dass ihm der Atem zu früh versagen würde. ›Wenn je ein Kind von seinen Eltern zärtlich geliebt und gewissenhaft gepflegt wurde, so bist du es, obwohl du nur ein uns anvertrautes Gut gewesen bist. Woher du stammst, ich weiß es nicht. Als kleines Kind wurdest du uns von einem Fremden, demselben Mann, welchen du vor anderthalb Jahren hier kennen lerntest, zusammen mit einer Summe von zweitausend Dollar zur Pflege übergeben. Daran knüpfte sich die Bedingung, dass wir dem gänzlich verwaisten Kind unseren Namen geben sollten. Nur den Vornamen Oliva durftest du behalten, weil derselbe sich bereits in deinem jungen Gedächtnis festgesetzt hatte und du auf ihn hörtest. Wir hatten unsere eigenen Kinder verloren – du weißt es – da hießen wir das Anerbieten willkommen und nie fanden wir Ursache, es zu bedauern. Wohl fürchteten wir lange Jahre, dass Du uns wieder entrissen werden könntest, beruhigten uns aber gänzlich, nachdem jener Fremde sich noch einmal nach Dir umgesehen hatte. Wo du deine wirklichen Eltern oder Verwandten, wenn solche noch leben sollten, zu suchen hast, ist auch uns ein Geheimnis geblieben. Ich kenne nur die Richtung, aus welcher der Unbekannte hierherkam, und das habe ich unserem Geistlichen samt meinem heilig beschworenen Bekenntnis anvertraut, auf dass er dich nach meinem Tod über alles genau unterrichte. Die zweitausend Dollar sind noch vorhanden und sicher angelegt, wie ihr aus den Papieren ersehen werdet, die ich dem frommen Geistlichen einhändigte. Die Summe ist sogar noch gewachsen. Denn wir hätten dich weniger lieben, weniger Freude an dir erleben müssen, um auch nur einen Cent deines Eigentums für dich zu verwenden. Eine vornehme Erziehung – und ich meine, du stammst aus einem vornehmen Haus, konnten wir dir freilich nicht angedeihen lassen. Auch gedachten wir Eitelkeit und Hochmut von dir fernzuhalten, weil es doch zweifelhaft war, ob deine Angehörigen, wenn du sie wirklich je finden solltest, in Verhältnissen lebten, dass deine Vornehmheit sie erfreute. Und nun, meine liebe Tochter – ich nenne dich so, weil ich stets dein treuer Vater gewesen bin – ist dir ein Unrecht geschehen und sündigte man an dir, so haben wir keinen Anteil daran. Wir nahmen dich auf als ein Geschenk des Himmels, fanden in dir Ersatz für die verlorenen eigenen lieben Kinder, segneten den Tag, an welchem du davor bewahrt wurdest, in andere und vielleicht ungetreue Hände zu geraten. Und so sei denn gesegnet, mein liebes Kind, bis in die Ewigkeit hinein, du und dein Auserkorener. Wenn ihr je deiner heimgegangenen Pflegeeltern gedenkt, dann lasst es in derselben Liebe geschehen, welche du, so lange wir uns an dir erfreuten, uns entgegengetragen hast.‹
So lauteten die letzten Worte des einfachen treuen Mannes, den ich heute noch mit dankbarem Herzen Vater nenne. Ich wiederholte sie ausführlich zu seinem Andenken. Ich wiederholte sie, um Sullivan vor seinem Ende noch einmal vor Augen zu führen, dass in der Liebe jener einfachen Leute zu mir das Geschick zu sühnen suchte, was ein Verbrecher an mir und den meinen sündigte; aber auch, dass es mit dem Augenblick, in welchem er mich ihnen übergab, den Weg zu einer furchtbaren Vergeltung anbahnte. Auf ihn wird es freilich keinen großen Eindruck mehr ausüben. Er ist überhaupt nur noch eine Sache.« Zum ersten Mal gelangte auf ihrem Antlitz bitterer Hohn zum Ausdruck. »Aber ihr anderen, die ihr es hörten, ihr werdet mich verstehen, gemeinschaftlich mit mir einen Segensspruch zu den fernen Gräbern der braven Leute hinübersenden, denen ich so viel Gutes verdanke.«

Der unheimliche Ausdruck war von ihren Zügen gewichen. Wehmütig blickten ihre Augen. Tiefe Bewegung offenbarte sich im Zittern ihrer Stimme bei den letzten Worten. Ala ob sie sich der milden Regungen zu erwehren suchte, sah sie abermals auf den gefesselten Mörder nieder. Ein Bild tückischer Verstocktheit, lag er noch immer mit geschlossenen Augen da. Er schien den Anblick der furchtbaren Anklägerin nicht ertragen zu können. Wie es dagegen in seinem Inneren feindselig arbeitete, das verriet sich zuweilen in der jäh wechselnden Farbe seines Gesichtes, in dem hörbaren Knirschen seiner Zähne. Die übrigen Zuhörer verhielten sich so still und andächtig, als hätten sie an einem heiligem Ort geweilt. Was die unter ihnen befindlichen rauen Naturen als etwas Selbstverständliches betrachteten, die ruhige, leidenschaftslose Würde, mit welcher Oliva ihre Worte aneinanderreihte, das erweckte Maurus‘ Erstaunen. Er beugte sich gewissermaßen vor dem Charakter, dessen sich gegenseitig widersprechende Regungen dennoch so seltsam ineinandergriffen.

»Wie die Mitteilungen des ehrlichen alten Vaquero mich erschütterten, ist unbeschreiblich«, hob Oliva nach kurzer Pause wieder an. »In meinem Kopf schwirrte es. Die Gedanken rasten förmlich durcheinander, dass ich keinen einzigen länger festzuhalten vermochte. Erst als mein Verlobter meine Hand ergriff und mit dem festen Druck mehr sagte, als es ihm in tausend Worten möglich gewesen wäre, erlangte ich meine Fassung einigermaßen zurück. Wie ein stilles Übereinkommen waltete es zwischen uns, dass wir das Vernommene erst dann wieder zur Sprache bringen wollten, nachdem wir den guten alten Mann neben seine nicht minder treugesinnte Frau in die Erde gebettet hatten. Dann aber gingen wir gemeinschaftlich ans Werk, nach denjenigen zu forschen, die naturgemäß zu mir gehörten.

Obwohl anhand der Mitteilungen des Geistlichen kostete es uns doch unsägliche Mühe, bevor wir auf Spuren stießen, welche Sullivan bei seinen Besuchen in unserer Gegend hier und da auf Ranchos und in Kosthäusern zurückgelassen hatte. Dieselben führten endlich in das Tal des Rio Grande. Der Mann, der mir fortgesetzt in edler Selbstverleugnung zur Seite stand, war es, welcher die weite Reise für mich dorthin unternahm. Eifrig forschend gelangte er bald in Gegenden, wo die Geschichte der durch einen verworfenen Wüstling ins Verderben gestürzten Familie noch fortlebte. Einmal an Ort und Stelle, wurde es ihm leichter, die verschlungenen Fäden zu entwirren und nicht nur die einstigen Liegenschaften meiner Eltern auszukundschaften, sondern auch von den zeitigen Besitzern Näheres über deren letzte Lebenstage, wie über das fluchwürdige Treiben des dort berüchtigten Sullivan zu ermitteln. Das Weitere ergab sich beinahe von selbst. Im Kirchenregister fand er neben anderen Aufklärungen die Condesa Oliva del Armigo als geboren und getauft verzeichnet, aber auch als verstorben im vierten Lebensjahr. Mehrere Monate verweilte der aufopfernde Freund in dortiger Gegend, nichts verabsäumte er, was nur entfernt dazu beitragen konnte, meine Persönlichkeit festzustellen und in Zusammenhang mit den Aufzeichnungen des Beichtvaters meiner Pflegeeltern zu bringen.
Als er endlich wieder zu mir zurückkehrte und die Erfolge seiner Mühen vor mir niederlegte, den traurigen Untergang meiner Familie schilderte, da war es, als ob ein unversöhnlicher Dämon des Hasses und der Rache vollständig Besitz von mir ergriffen habe. Nur noch das einzige Sinnen und Trachten erfüllte mich, den Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, jedoch nicht etwa wegen des Raubes des mir gebührenden reichen Erbes – was fragte ich jetzt nach Reichtum – sondern für den Mord meiner Eltern, für die hinterlistig gestohlene Kindheit, die ich am Mutterherzen hätte verbringen sollen. Der Gedanke, dass dieses Ungeheuer vielleicht ungestraft durchs Leben gehe, erbitterte mich in einer Weise, dass ich heilig gelobte, nicht eher wieder Ruhe und Frieden zu suchen, bis die furchtbaren Untaten gerächt sein würden. Mein Verlobter war tief erschüttert, jedoch nicht unempfänglich für die von mir vorgebrachten Gründe. Nach einem ernsten Gespräch mit ihm kamen wir überein oder vielmehr forderte ich von ihm als ein Zeichen seiner Liebe, unsere Heirat so weit hinauszuschieben, bis ich das mir vorschwebende Ziel erreicht haben würde oder die von mir verfolgten Spuren vor dem Grab dieses Scheusals ihren Abschluss fanden. Ein anderer hätte mich unter solchen Bedingungen aufgegeben. Ich schlug ihm sogar aus aufrichtigem Herzen vor, mich zu vergessen; allein in seiner Treue war er unerschütterlich. Er unternahm es nicht einmal, eine Wandlung meines Sinnes herbeizuführen. Besser als ich selbst, wusste er, dass ohne die Verwirklichung meiner finsteren Hoffnungen eine traurige Öde, die dauerndem Glück nie Raum gewähre, in meinem Gemüt zurückbleiben würde. Dagegen erbat er sich von mir als einen Beweis meiner bis über das Grab hinaus dauernden Anhänglichkeit, wohin auch immer ich geführt werde, auf allen meinen Wegen mir zur Seite stehen zu dürfen. So viel Edelmut hätte ich freilich nicht erwartet. Trotz des Ernstes dieser Stunde fühle ich mich verpflichtet, es anzuerkennen. Ich will nicht, dass jemand im Unklaren darüber bleibe, in welch hohem Grad jener Freund in seiner Denkungsart mich überragte. War mein gewiss nennenswertes Vermögen aber rettungslos verloren, so besaß ich doch etwas, wonach kein Räuber seine Hand ausstrecken konnte: Ich war eine Condesa del Armigo. Ich hatte von meinen Vorfahren deren Stolz geerbt, einen Stolz, der mich trieb, lieber allem irdischen Glück, allen Freuden und reinen Genüssen zu entsagen, als zu dulden, dass der dem Namen meines Vaters angefügte Schandfleck ewig fortbestehe. Rückgängig konnte nichts mehr gemacht, Tote konnten nicht ins Leben zurückgerufen werden. Aber den Missetäter zu strafen, ihn für sein grauenhaftes Tun zur Rechenschaft zu ziehen, sofern er noch auf Erden weilte, das lag in menschlicher Gewalt. Durchdrungen von solchen Empfindungen ging ich auf das edelmütige Anerbieten ein.
Um in Verfolgung meiner Zwecke nicht blindlings leeren Schatten nachzujagen, bedurfte es zu dem mir vorschwebenden Unternehmen der ernstesten und bedachtsamsten Vorbereitungen. Es wäre überflüssig, zu schildern, wie ich im Laufe des nächsten Jahres mein kärgliches Wissen bereicherte, schon allein um alle Zeitungen der Vereinigten Staaten mit vollem Verständnis selbst lesen zu können. Es hatte sich nämlich die Überzeugung in mir ausgebildet, dass ein Mann von Sullivans Charakter nicht im Verborgenen leben könne, neue Verbrechen in der Öffentlichkeit seine Wege kennzeichnen müssten. Wo nur immer in den Blättern über Betrug, Räuberei, ja Mord berichtet wurde, da prüfte ich alle Angaben aufmerksam, jedoch ohne jemals einen Anhaltspunkt für meinen Argwohn zu entdecken. In demselben Maß aber, in welchem ich das Fruchtlose meiner unsäglichen Mühen einsah, klammerte ich mich fester an meinen Vorsatz. Zugleich verbitterte mein Gemüt sich mehr und mehr, und mit mir litt doppelt derjenige, welchem ich mich mit vollem Herzen zugesagt hatte und von dem mich dennoch ein schwarzes Verhängnis trennte.

Der Sezessionskrieg war ausgebrochen und hatte bereits ein Jahr gewütet. Es häuften sich die Frevel, welche im unversöhnlichen Hass der beiden Parteien begangen wurden. Dieselben erreichten ihren Gipfel, als gesetzlose Banden sich bildeten und unter der Maske begeisterten Patriotismus die von ihnen durchzogenen Gegenden verheerten. Auf die Führer dieser Raubbanden, deren Treiben in den Zeitungen vielfach geschildert wurde, richtete ich mein Augenmerk. So las ich auch den Namen Quinch. Ich weiß nicht, wie ich es deuten soll, dass sich gerade auf dessen Träger mein Argwohn hinlenkte. War es eine Ahnung, die mich durchzitterte, ein geheimnisvoller Fingerzeig des Geschicks oder lag es in dem Umstand, dass er als einer der verwegensten und grausamsten Räuber beschrieben wurde. Genug, ich konnte mich von dem Verdacht nicht lossagen, dass nur ein Mann vom Schlag Sullivans sich einen derartigen berüchtigten Namen erworben haben könne. Nicodemo, und kein anderer war es, mit dem ich die Gelübde ewiger Treue austauschte.« Zu dem unbeschreiblich innigen Klang ihrer Stimme gesellte sich, dass sie einen tief traurigen Blick auf das düster geneigte Haupt des geliebten Freundes senkte. »Ja, Nicodemo teilte meine Ansichten. Seiner unermüdlichen Sorge war es zu verdanken, dass ein Geschäftsfreund von ihm in St. Louis über jenen Quinch, sogar sein Äußeres betreffend, in einer Weise berichtete, welche unsere Mutmaßung fast bis zur Überzeugung bekräftigte. Auf alle Fälle befanden wir uns nunmehr in der Lage, eine bestimmte Spur aufnehmen zu können und das weitere von uns begünstigenden Umständen abhängig zu machen.

Bis dahin hatte Nicodemo auf seiner Besitzung gelebt, während ich nach wie vor in dem auf mich übergangenen kleinen Heimwesen meiner Pflegeeltern hauste. Unserem Entschluss folgte bald die Ausführung. Nicodemo setzte auf seinem Eigentum einen zuverlässigen Verwalter ein, wogegen ich meinen Rancho nebst dem dazu gehörenden Viehstand bis auf drei gute Pferde verkaufte. Mit dem Erlös warf ich die von Sullivan an meine Pflegeeltern gezahlte Summe zusammen. Dadurch geriet ich in Verhältnisse, wenigstens vorläufig – das Recht dazu erbat ich von Nicodemo – die immerhin erheblichen Kosten unseres Unternehmens bestreiten zu können.«

Hier säumte Oliva. Ihre Augen streiften die wie bewusstlos daliegende Gestalt des Gefangenen. Plötzlich durchbrach ein böser Hohn den auf ihren Zügen ausgeprägten Ernst. Einen schnellen Blick im Kreis herum sendend, fuhr sie spöttisch fort: »Für die Stunde und die Gelegenheit bin ich vielleicht zu ausführlich. Ich genüge damit dem eigenen Wunsch, Ihnen allen ein klares Bild von meiner Vergangenheit zu verschaffen und Ihnen später das Endurteil zu erleichtern. Auch trage ich den mutmaßlichen Wünschen Sullivans Rechnung, der die alten Geschichten, und zwar zum ersten und letzten Mal, vielleicht gern hört.« Sie gewahrte, dass Nicodemo, ohne aufzusehen, schmerzlich zusammenfuhr. Sie errötete leicht und sprach beinahe tonlos weiter: »Nachdem unsere Ausrüstung vollendet war, führte der Weg uns über die Prärien zunächst nach St. Louis, um dort genauere Erkundigungen über den verrufenen Bandenchef anzustellen. Zugleich benutzten wir die Gelegenheit, Verbindungen anzuknüpfen, von welchen wir Vorteile für unser gefährliches Unternehmen glaubten, erwarten zu dürfen. Dann verließen wir St. Louis eines Tages als einfache Vaqueros unter dem Vorgaben, bei Viehtransporten über die Ebenen Dienste geleistet zu haben.
Nach vielem Erwägen hatten wir vereinbart, den unionistischen Streitkräften als Kundschafter zu dienen. Wir erlangten dadurch den nicht zu unterschätzenden Vorteil, als unverdächtige Männer uns den verschiedenen Kommandos zeitweise beigesellen zu dürfen. Daraus aber erwuchs die Gelegenheit, uns mit allen kriegerischen Verhältnissen im Staat Missouri, als dem Schauplatz der Raubzüge dieses Quinch, vertraut zu machen und immer neue Beziehungen mit eifrigen Gesinnungsgenossen anzuknüpfen. Das Einzige, wodurch unsere Aufgabe erschwert wurde, bestand darin, dass unser Wirken und daher auch dessen Ruf sich auf zwei unbekannte Männer mexikanischer Abkunft beschränkte. Diesem Übelstand begegneten wir dadurch mit dem besten Erfolg, dass wir uns als Kundschafter eines Dritten, des Spions Kampbell ausgaben, statt der mündlichen Nachrichten unsere Mitteilungen in schriftliche Notizen kleideten, welchen der Name Kampbell beigefügt war. Was man sich unter dem unsichtbaren Spion vorstellte, ob einen höheren Offizier, der wenigstens auf diesem Feld mit seiner Person und seinem Namen nicht in die Öffentlichkeit zu treten wünschte, oder gar einen unionistisch gesinnten Soldaten in den Reihen der Sezessionisten, ich weiß es nicht. Sicher ist nur, dass der Name Kampbell eine weite Verbreitung fand. Nannte man ihn auf der einen Seite mit einer gewissen Achtung, so galt er auf der anderen als der eines berüchtigten Verräters, auf dessen Kopf man einen hohen Preis setzte, wovon mich persönlich zu überzeugen mir mehrfach Gelegenheit geboten wurde. Was ich aber auf diesem Feld leistete, und nicht ohne bestimmte Gründe stellte ich meine Person stets in den Vordergrund: Es wäre mir unmöglich gewesen, hätte Nicodemo mit seinem Rat mir nicht unablässig zur Seite gestanden, seine Hand nicht schirmend über mich gehalten. Ihm allein verdanke ich also«, tief seufzte sie auf, »wenn der Mörder meiner Eltern, der Räuber meines Namens, sich jetzt in meiner Gewalt befindet. Diese Befriedigung wird aber noch erhöht werden, wenn ich die Kunde, dass des Himmels Rache den Verbrecher traf, dahin entsenden kann, wo das Andenken meiner armen Eltern zurzeit noch fortleben muss.«

Sie verstummte. Indem sie wieder düster auf den Gefangenen herabsah, erzeugte es den Eindruck, als ob nach der langen Schilderung, bei welcher sie mit aller Kraft gegen die sie fast überwältigenden Empfindungen ankämpfte, Erschöpfung ergriffen habe. Ihre Haltung erschlaffte. Tiefer neigte sie das Haupt. Man hätte glauben mögen, dass die auf ihr ruhenden gespannten Blicke sie stützten, vor dem Zusammenbrechen bewahrten.