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Der Detektiv – Die Augen der Jolante – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die Augen der Jolante
3. Kapitel

Ich muss nun schildern, wie genial Harst die Gelegenheit ergriff, uns zu der vielleicht merkwürdigsten Verkleidung zu verhelfen, die wir je getragen haben. Ich will mich jedoch kurzfassen. Der Zug fuhr, kaum dass wir unser Gespräch beendet hatten, dessen Schluss Harsts Bemerkung über sich nicht blamieren war, in die Station Samtens ein, wo er fünf Minuten Aufenthalt hatte. Unser Wagen war der vorletzte des Zuges und kam etwas außerhalb des Stationsgebäudes zu stehen. Harst rief mich ans Fenster, zeigte hinaus und sagte: »Was meinen Sie, Schraut, würde das genügen?« Er sprach hastig. Als ich nicht gleich antwortete, denn ich wusste nicht, was eigentlich genügen sollte, rief er ungeduldig: »Hinaus mit uns – schnell. Es genügt sicher!«

Dann gingen wir mit unseren Handkoffern und -taschen und so weiter durch die Sperre, bogen rechts ab, kamen auf die Chaussee, wo ein Kreis von Kindern und Erwachsenen einen kleinen, grün gestrichenen Zirkuswagen und einen Mann umstand, der einen braunen Bären, einen Pudel und einen in Uniform steckenden Affen Kunststücke machen ließ.

Drei Stunden später hatte Harst in aller Heimlichkeit von dem angeblichen Zigeuner, der in Wahrheit ein waschechter, ganz geriebener Spreeathener war, den Wagen und alles andere für vierzehn Tage für 1.000 Mark und 2.000 Mark Kaution gemietet, unter der Bedingung, dass Fritz Schlump und Familie (Frau und zwei Jungen) dieses Geschäft vor jedermann geheim hielt.

Schlump, der sich recht naturgetreu als Zigeuner herausgeputzt hatte, hielt uns wohl zunächst für Witzbolde, dann aber, als er die drei braunen Lappen einsteckte, fraglos für verrückt.

Am folgenden Abend ging dann die Reise los – gen Sassnitz. Wir hatten Schlumps Papiere mit. Der inzwischen in Samtens eingetroffene Karl war der älteste Sohn, ich Frau Olga Schlump und Harst der Besitzer des Zirkus Kolossal. Unser Äußeres entsprach ganz unseren Rollen und unsere Daseinsführung passten wir nach Möglichkeit der der Familie Schlump an.

Ich habe Harst nie wieder in so glänzender Laune gesehen wie damals. Er, der für gewöhnlich so tiefernste, schweigsame freute sich über seinen Einfall und diese Reise als fahrende Leute mehr als über seine glänzenden Erfolge. Mit unserer vierköpfigen Menagerie. denn außer Bär, Hund, Affe war ja noch das Zugpferd Minni, ein Klepper von sinnverwirrender Hässlichkeit, vorhanden, freundeten wir uns infolge dreifacher und besserer Futterrationen schnell an. Der Pudel Moritz besonders, den Schlump offenbar sehr roh behandelt hatte, hing bald mit solcher Zärtlichkeit an Harst, dass dieser ihn nachher behielt. Er besitzt ihn noch heute.

Ohne irgendwo längere Rast zu machen, zogen wir die Chaussee gen Sassnitz entlang. Nachts kutschierten wir abwechselnd. Der Bär Peter trottete stets angebunden hinter dem Wagen her.

Am Abend des zweiten Tags begegnete uns ein Gendarm. Wir zeigten die Papiere vor. »Wo ist der zweite Junge?«, fragte er.

»Bei der Großmutter in Berlin«, erklärte ich mit heiserer Stimme und sog weiter an meiner Zigarre, denn Zigeunerinnen sollen ja den Tabak in jeder Form lieben.

Am dritten Tag nachmittags kamen wir in Sassnitz an und bezogen in einer Kneipe Quartier, deren Wirt wir durch Vorausbezahlung für acht Tage – einschließlich Essen und Futter 160 Mark – uns zum Freund machten. Unser Wohnwagen stand auf dem Hof dicht neben einem leeren Ziegenstall, in dem Peter untergebracht war. Da der Wagen für alle Schlumps die nötige Bequemlichkeiten bot, verlangten wir keinen Schlafraum, sondern hausten weiter darin. Der Wirt, ein früherer Seemann namens Treibke, hielt uns für vollkommen echt, zumal wir unser Geschäft inzwischen genügend erlernt hatten.

An diesem Tag unternahm Harst noch nichts. Aber nach dem Dunkelwerden verschwand er mit einem kurzen Auf Wiedersehen ganz plötzlich. Karl und ich saßen in dem winzigen Wohnraum des Wagens bei einer Petroleumlampe und lasen Karola, die gefallene Gräfin oder das Geheimnis des Totenturms, ein Werk, das offenbar Schlumps Lieblingslektüre, nach den zahlreichen Fettflecken zu urteilen, gewesen sein musste. Dann ging ich zu Bett, schlief auch bald ein. Um Mitternacht erwachte ich. Die Lampe nebenan brannte nach und es stank nach Petroleumdampf. Ich rief nach Karl. Niemand meldete sich. Wahrhaftig, er war in aller Stille ausgekniffen, natürlich um irgendwo auf eigene Faust zu spionieren. Was wir vorhatten, wusste er ja. Ich war völlig munter geworden. Auch der Affe Fips und Moritz regten sich. Der Pudel kam zu mir, wollte gestreichelt sein. Es war ein Pudelmännchen, aber er verlangte mehr Zärtlichkeit als ein Weibchen. Ich fürchtete für Karl. Harst verstand in solchen Dingen keinen Spaß. Selbständige Arbeit seiner Hilfskräfte schätzte er nicht. Zufällig blickte ich dann zu Karls Strohsack, der zur Nacht immer in den Küchenverschlag gelegt wurde. Ah, so ein kleiner Lump! Er hatte da unter der Wolldecke eine Art Puppe hergestellt, die man bei flüchtigem Hinsehen für die Gestalt eines ausgestreckt Daliegenden halten musste! Ich schraubte die Lampe höher, ließ den Qualm abziehen und ging beruhigter wieder zu Bett. Harst würde nichts merken, hoffte ich, falls er vor Karl heimkehrte. Gegen sechs Uhr morgens stand ich auf. Harst war da und schlief in dem schmalen Bett mir gegenüber noch fest. Auch Karl lag auf seinem Strohsack. Ich ging sehr leise auf den Hof und fütterte Peter, den Bären, der mein erklärter Liebling und lammfromm war. Da tauchte Karl neben mir auf, tat ganz harmlos. Ich hielt ihm seine Eigenmächtigkeit vor. Er war überrascht, dass ich seine List entdeckt hatte, gelobte Besserung und erzählte mir dann Folgendes.

Er war zu der einsamen Villa gewandert, hatte sie auch gefunden und dort eine Stunde im Garten auf der Lauer gelegen. Um ein Uhr morgens war ein sehr großer Mann aus dem Haus gekommen und hatte an der Fahnenstange drei Laternen – rot, grün, rot – gehisst, war dann bei der Fahnenstange stehen geblieben und hatte andauernd in kurzen Zwischenräumen an einer Leine gezogen. Da war der Junge weiter zum Rand der Steilküste hingeschlichen und hatte nun gesehen, dass die drei farbigen Laternen, die nur recht schwach leuchteten, wahrscheinlich durch eine drehbare Scheide abgeblendet werden konnten, sodass sich ihr Lichtschein nur immer ganz kurz zeigte. Um zwei Uhr hatte Karl den Rückweg angetreten und wäre dabei auf der nach Sassnitz führenden schmalen Landstraße, die bei der Villa endete, beinahe einem zweiten Mann in die Arme gelaufen, der dort als Wache auf und ab ging. Er hatte diesen Mann noch eine halbe Stunde beobachtet und war nun heimgeeilt. Harst war bereits zu Hause, die Lampe war ausgelöscht und die Wagentür verschlossen. Karl hatte aber das Fenster des Küchenverschlags vorher nur angelehnt gehabt und konnte daher trotz der verriegelten Tür hinein.

»Herr Harst hat also ganz recht gehabt«, meinte Karl nun.

»Die Leute geben wirklich Signale zur See hin.«

»Natürlich, Junge! Wozu aber? Für die Jacht sind die Signale bestimmt – gewiss! Aber welchen Zweck haben sie?«

Wir rieten hin und her. Wir wurden daraus nicht klug.

Dann meldete Harst sich. Der Wohnwagen hatte vor dem Eingang eine kleine Plattform. Dort stand er mit seinem geflickten Wams, dem roten Halstuch und den langen schwarzen Haaren und rauchte eine seiner Mirakulum mit fast völlig zugekniffenen Augen.

»Guten Morgen«, hatte er leise gerufen. »Lasst Euch nicht stören. Aber setzt Peter hier auf dem Hof doch den Eisenmaulkorb auf. Vorsicht ist immer am Platz. Raubtiere sind unberechenbar.«

Er rauchte Mirakulum! Das bedeutete erhöhte Geistesarbeit. Wer weiß, was er in der Nacht erlebt hatte, wer weiß, wie sein Hirn dies verarbeitete?

Karl musste dann im Küchenverschlag auf dem eisernen Herd Kaffee kochen. Der Wirt Treibke verpflegte uns nur mittags und abends mit warmen Mahlzeiten.

Harst hatte nun die Mandoline im Arm, zupfte darauf einen Walzer, pfiff gleichzeitig die Melodie mit und ließ Peter vor dem Ziegenstall tanzen. Treibkes Frau, Kinder und ein paar Sommergäste kamen und sahen zu. Danach ging ich mit dem Tamburin einsammeln. So verdienten wir schon um acht Uhr morgens 72 Pfennig. Dann wurde Peter wieder eingesperrt, das Hofpublikum verlief sich und Harst setzte sich auf einen Holzklotz vor den Stall.

»Na, was hat Karl denn ausgekundschaftet?«, fragte er und zupfte auf der Mandoline das Lied Du bist zu schön, um treu zu sein.

Ich wurde etwas rot. »Sie wissen also«, stotterte ich.

»Ich habe ihn ja selbst bei der Villa beobachtet, Schraut. Er benahm sich recht gewandt. Der Rüffel bleibt ihm erspart, auch deswegen, weil die Idee mit der Puppe unter der Decke Anerkennung verdient. – Berichten Sie …«

Ich tat es. Als ich fertig war, schwieg er erst eine Weile.

»Sie heißt wahrscheinlich Jolante, die Jacht, lieber Schraut, Jolante, die große Unbekannte«, sagte er nun. »Schraut, ich war etwas kecker als Karl. Der am Mast hatte hinter sich die Haustür nur angelehnt. Ich erlaubte mir, die Villa von innen zu besichtigen, zumal ich vorn hinter den geschlossenen Holzläden zwei Fenster erleuchtet sah. Ich klinkte links im Flur beim Schein meiner Taschenlampe sehr behutsam eine Tür auf, kam in ein völlig leeres Zimmer, hörte aber nebenan sprechen und sah durch das Schlüsselloch nicht nur einen dünnen Lichtstreifen hindurchfallen, sondern sah auch in dem Zimmer an einem primitiven Fichtentisch auf ebenso billigen Stühlen zwei Damen sitzen, die Zigaretten rauchten und sich unterhielten. Die eine ist Ihnen im Bademantel, auch sonst bekannt …«

»Gerda Plauk – Gerda Gerd natürlich.«

»Natürlich! Die andere war jünger, gediegener. Sie machte mehr die Zuhörerin, lauschte oft, schien sehr ängstlich, sagte ganz unvermittelt dann und tupfte heimlich ein paar Tränen ab: ›Wenn nur erst diese Sache vorüber wäre. Diese Jolante wird uns noch …‹ Den Rest verstand ich nicht. Die Gerda zuckte etwas geringschätzig die Achseln. ›Sie sind ein richtiger Angstmeier, Frau Hella‹, hörte ich ganz deutlich. Dann erschien es mir angebracht, das Haus wieder zu verlassen. Kurz nach zwei Uhr morgens stellte der Mann am Mast seine verdunkelnde Tätigkeit ein, schritt auf den etwa dreißig Meter entfernten Abhang zu, der sehr steil und  sehr tief zur See abfällt, und verschwand hier in einem Gestrüpp von Brombeeren und Krüppelkiefern. Ich kroch hinterdrein. Und was entdeckte ich? Einen sehr schlau angelegten elektrischen Hebekran, der offenbar durch Akkumulatoren von der Villa aus gespeist wird. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit, um den Mann in einem Korb in der Tiefe verschwinden zu sehen. Mein Fernglas zeigte mir dann unten auf See einen dunklen Fleck, von dem sich bald ein kleinerer loslöste – ein Boot. Eine Viertelstunde darauf begann der kleine Elektromotor zu surren und holte erst den Mann, dann drei Kisten nach oben. Als ich wieder zu dem dunklen Fleck – es muss die Jacht gewesen sein – ausschaute, war er nicht mehr sichtbar. Nun kehrte ich heim und war genau fünf Minuten vor Karl zu Hause – in unserer fahrbaren Mietwohnung.« Erste kleine Pause. Dann: »Na, Schraut, was treibt die Jacht?«

»Schmuggel!«, erklärte ich in bestimmtem Ton.

Harst nickte »Ja, Schmuggel! Ich habe immer nur an Schmuggler gedacht. Militärische Spionage ist Unsinn. Genaue Seekarten mit Tiefenangaben der Küstengewässer gibt es überall zu kaufen. Es können nur Leute sein, die von Schweden sehr wertvolle Dinge einschmuggeln, die hier bei uns hoch verzollt werden müssen. Ich bin nun leider mit unseren Zollgesetzen und -verträgen wenig vertraut, werde mich aber darüber schleunigst genau unterrichten. Ich muss wissen, welche zollpflichtigen Waren in Betracht kommen können. Also Schmugglerjacht ist die Jolante, und doch … Mich befriedigt diese Lösung gar nicht. Ich habe so das Gefühl, sie ist trügerisch. Schade, dass die beiden Damen in dem so traurig-ärmlich ausgestatteten Zimmer – man merkt, dass Klimke die Villa nur ihrer einsamen Lage wegen, nicht zu dichterischem Schaffen gemietet hat – nichts Näheres über die Jolante äußerten. Frau Hella sah sehr sympathisch aus – sehr. Ein reines Engelsköpfchen und blutjung. Sie muss die Frau des Langen am Mast sein. Dieser Lange war unser Freund Habicht-München. Hella lauschte ja so oft in den Garten hinaus. Dem Wächter kann diese sorgende Angst nicht gegolten haben, denke ich. Daher meine Annahme, Hella ist Frau Habicht-München. Wer von den beiden Männern der Schriftsteller sein will, wissen mir ja noch nicht.«

Da rief Karl: »Der Kaffee ist fertig!«

Wir nahmen ihn auf dem Hof ein. Moritz und Fips, der Affe, leisteten uns Gesellschaft.