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Der Detektiv – Liu Sings Geheimnis – 5. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Liu Sings Geheimnis
5. Kapitel 

Harst klappte das Buch zu.

»Schade«, resümierte er. »Es bringt nichts Neues. Ich denke, wir gehen zu Bett, Schraut …« Er gähnte. Aber es war ein Theatergähnen – nicht echt. »Ich werde mir doch noch überlegen, ob ich die Polizei verständige«, sagte er, als er mir die Hand gab. »Gute Nacht. Sollte ich morgen nicht zu Hause sein, so beruhigen Sie meine Mutter. Ich muss einige dringende Besuche erledigen. Sie soll sich nicht sorgen; sie sind ganz harmlos.«

Ich setzte mich in meiner Studierstube noch an den Schreibtisch und dachte über Harsts letzte Sätze nach. Ich kam sehr bald zu der Überzeugung, dass er mit mir wieder einmal Versteck spielte. Er wollte die Polizei doch vielleicht nicht verständigen. Und dringende Besuche! Ob das Werk über Tätowierungen wirklich nichts enthalten hatte, was er für seine Zwecke brauchen konnte?

Da – ich hörte ein Türschloss einschnappen. Gleich darauf knarrte auch die Haustür. Ich trat ans Fenster, nachdem ich schnell das Licht ausgedreht hatte.

Ich sah, wie Harst sehr eilig das Haus verließ.

Ich konnte lange nicht einschlafen. Nachher träumte ich von einer Kobra, die zur Riesenschlange anschwoll und im Rachen ein Armband trug, vor der Stirn aber das Stück Menschenhaut.

 

Es war elf Uhr vormittags. Ich wollte gerade ausgehen, einen Spaziergang nach Dahlem machen. Harst war noch nicht daheim. Seine Mutter schnitt mich der beiden Hühner wegen, und Karl Malke schoss wieder Spatzen. Ich kam mir zu Hause also überflüssig vor.

Ich hatte die Gittertür des Vorgartens eben geöffnet, als ein Auto vorfuhr – ein offenes Taxameterauto. Darin saß ein hagerer, großer Herr, tief gebräuntes Gesicht, zwei Schmissnarben am Kinn, blonden Spitzbart, helle durchdringende Augen. Er stieg aus, schaute mich prüfend an, fasste an den Hut.

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Schraut«, stellte ich mich vor. 

»Bitte – einen Augenblick …« Er bezahlte den Chauffeur, wandte sich mir dann wieder zu.

»Arthur Malzahn …«, nannte er seinen Namen. »Sie sind doch Harsts Privatsekretär und Mitarbeiter, nicht wahr? Ja – es muss so sein. Ihr Schauspielergesicht sagt genug. Ich komme auf die Anzeige in der Morgenzeitung …«

Anzeige? Ich hatte keine Ahnung! Aber ich hütete mich, einzugestehen, dass ich nicht alles wusste, was Harst unternahm.

Ich bat ihn, näher zu treten. Wir gingen in Harsts Arbeitszimmer. Dort setzte Malzahn sich ohne Weiteres, schlug die Beine übereinander und sagte: »Ich bin wirklich gespannt, was Harst entdeckt haben mag. Hoffentlich erscheint er recht bald. Es ist ja bereits elf.« Er zog seine mit Brillanten besetzte Uhr und ließ den Deckel aufspringen. »Zehn Minuten nach elf. Und in der Anzeige stand elf Uhr …«

»Allerdings«, heuchelte ich. »So war es beabsichtigt. Dürfte ich die Zeitung einmal sehen? Ich vermute, es ist die, die dort in Ihrer Jackentasche steckt.«

Er gab sie mir, zeigte mir auch die Annonce. Sie war sehr groß, hatte schraffierten Rand und lautete:

Ralkonda! Volle Verschwiegenheit! Bitte elf Uhr vorm. dort, wohin gestern angebliche Karst-Depesche durch M. überbracht wurde. H. H.

»Sehr geschickt abgefasst«, meinte Malzahn. »Ich wusste sofort, wer gemeint war. Und aus dem Volle Verschwiegenheit entnahm ich, dass Harst sich doch mit meiner Angelegenheit beschäftigt hat und der Wahrheit so ziemlich auf die Spur gekommen ist – wenigstens, was die Todesursache angeht.«

Ich nickte. »Ja, wir wissen Bescheid: die Kobra!«

»Leider ist dies das Nebensächliche«, erklärte der Millionär plötzlich sehr düsteren Tones. »Mir ist es lediglich wichtig, festgestellt zu sehen, ob die … die Inderin tatsächlich mit Überlegung den Chinesen in doppelter Weise vergiftet hat …«

Er hob den Kopf. Wir hörten im Flur Stimmen.

Es waren Harst und Kammler, der Beauftragte der Wettgegner.

Ich machte Malzahn mit den beiden bekannt. Harst reichte ihm freundschaftlich die Rechte, sagte: »Sie sind schmählich hintergangen worden. Der Kerl sitzt bereits hinter Schloss und Riegel.«

Malzahn war sprachlos. »Wer – welcher Kerl?«, fragte er völlig ahnungslos, genauso ahnungslos wie ich. 

»Wir wollen die Dinge der Reihe nach erörtern«, erklärte Harst liebenswürdig, aber bestimmt. »Nehmen wir Platz. Hier«, er holte aus seinem Schreibtisch die Tätowierung hervor, »haben wir den Angelpunkt des ganzen Geheimnisses, eines sehr wertvollen Geheimnisses vielleicht.«

Er legte das Hautstück wieder auf das Brettchen zurück und begann: »Wenn ich in der vergangenen Nacht nicht ein Spezialwerk über Tätowierungen eingesehen hätte und dabei durch ein paar Sätze nicht auf fremdländische Geheimbünde aufmerksam geworden wäre, würde ich kaum so schnell die Rätsel dieses Leichenraubs gelöst haben.«

»Verzeihung«, fiel ihm der Forschungsreisende hier ins Wort. »Das ist doch ein Stück aus …« 

»Ganz recht, ganz recht«, erklärte Harst schnell. »Wir wollen jedoch Herrn Kammler nicht des Genusses berauben, eine Weile noch in Ungewissheit zu schweben, um was es sich hier eigentlich handelt. Auch die Ungewissheit hat unter Umständen ihre großen Reize. Zunächst ein paar Fragen, Herr Malzahn. Kammler wird ja mit den bisher bekannt gewordenen Einzelheiten dieses Falles genügend vertraut sein, um uns eine längere Einleitung ersparen zu können. Also: Weshalb verreisten Sie scheinbar? Vielleicht, um leichter über einen schweren Fehlschlag hinwegzukommen? Sie wollten vor dieser Enttäuschung flüchten, aber ein sehr starkes Gefühl neben dem Hunger eine der die Menschheit treibende Hauptkräfte, bannte Sie dann doch an Berlin, nur Ihrem Haus blieben Sie fern. Ist es so? Sie nicken, Herr Malzahn, Sie schauen mich überrascht an. Oh, ich habe auch dies mir lediglich aufgrund einiger Übung im Kombinieren als das wahrscheinlich zurechtgelegt. Nebenbei haben Sie dann aber auch insgeheim versucht, diesen Diebstahl eines Toten aufzuklären. Nun, weitere Fragen kann ich mir jetzt schenken. Das Problem Liu Sing ist in den Hauptpunkten restlos erledigt. Unwichtige Nebenumstände, wie zum Beispiel der, ob die Kobra noch lebt, bedeuten nichts gegenüber dem Gesamtbild dieses außerordentlich vielseitigen Verbrechens. Ich gebe zu, dass ich zunächst auf ganz falscher Fährte war. Ich hielt Sie für den Urheber dieses Mordplans. Der Chinese ist nämlich ermordet worden, lieber Kammler, mithilfe einer indischen Brillenschlange und nebenbei noch durch ein anderes, die Muskulatur des Schlundes schnell lähmendes Gift, wahrscheinlich durch das sogenannte Kamahil, einen Absud der Wurzeln des gleichnamigen Strauches. Bereits im Klub kurz nach Bekanntgabe dieser neuen Aufgabe an mich nahm ich die Arbeit auf. Von Doktor Bruchfeld, Ihrem Intimus, Herr Malzahn, erfuhr ich viel Wissenswertes. Auch die Zeitungen waren ja sehr gut informiert gewesen. Bevor ich noch Ihren Park am Morgen nach dem Klubabend betrat, hegte ich bereits starke Zweifel, ob hier wirklich gewerbsmäßige Leichendiebe infrage kämen, denn die Gefahr und die Kosten waren für die Beute zu groß. Das durchsägte Fenstergitter verriet mir dann, dass es von innen aus dem Zimmer durchschnitten worden war. Auf dem Rückweg zu der Parkmauer warf uns dann eine Frauenhand aus einem der oberen Gemächer des Turms ein Armband mit dem eingeritzten Wort Ritbilf zu. Ich entzifferte dieses als Bitt Hilf – also Bitte Hilfe. Die Polizei ließen wir in dem Glauben, ich hätte den Armreif gefunden. Sehr bald erschien Marawatha hier bei uns mit einer Depesche, die ich als Fälschung durchschaute. Sie besagte, dass Marawatha mir 50.000 Mark für die Übernahme des Falls bieten sollte. Aufgrund der soeben angeführten Tatsachen entwarf ich nun folgenden Zusammenhang der Vorgänge. Er wiederholte genau dasselbe, was er mir gegenüber an Beweisen für Malzahns Schuld und Marawathas Mitwisserschaft angeführt hatte. Ich musste also ganz bestimmt damit rechnen«, fuhr er darauf fort, »dass der Park fortan sehr scharf bewacht und man die Frau aus dem Turm fortschaffen würde. Wir – immer mein treuer Mitarbeiter Schraut und ich – fanden nun allerdings einen der Jagdleoparden als Wächter vor, aber – und das gab meiner bisherigen Theorie einen schweren Stoß! Ich fand auch Ralkonda, die Inderin, noch in ihrem Kerker. Sie erzählte mir durch die kleine Luftscheibe Folgendes.«

Was Harst nun vortrug, ist bekannt. 

»Ich zweifelte nicht an der Wahrheit dieser Angaben«, setzte er seine Erörterungen fort. »Ralkonda hatte allen Grund, mir gegenüber offen zu sein. Von mir erwartete sie ja ihre Befreiung. Hatte schon die Tatsache, dass man die Inderin nicht weggebracht hatte, meine erste Annahme schwer erschüttert, nämlich die, Sie seien der Mörder Liu Sings, Herr Malzahn, denn aus Furcht vor meiner Einmischung hätte wohl jeder zunächst die Frau verschwinden lassen! So sah ich nun mehr bis zu völliger Gewissheit ein, bisher unrichtige Schlussfolgerungen angestellt zu haben. Eins nun war mir in dem Bericht der Inderin über jene Ereignisse sofort aufgefallen, dass Marawatha sie heimlich mit seiner Liebe verfolgt hatte! Ich wusste nun, wo er wohnte. Ich kletterte in der vergangenen Nacht zu seinen erleuchteten Fenstern empor. Er saß rechts von dem einen etwas offenstehenden Fensters an einem Tisch und war eingeschlafen. Vor ihm lag die Tätowierung. Ich schickte Schraut heim, da ich ihn nicht mehr als Schutz nötig hatte, schnitt einen langen Ast aus dem Buschwerk, stach die Klinge meines Messers an dem einen Ende hindurch und angelte mit diesem primitiven Haken die Tätowierung vom Tisch, denn in das Zimmer hinein konnte ich der Gitter wegen nicht. Hier habe ich dann das nach Spiritus duftende Hautstück näher geprüft. Es war fraglos Haut von der Brust eines Chinesen und die Schriftzeichen darauf waren chinesische Buchstaben. Das Werk Professor Mautners enthielt nun an einer Stelle folgende Sätze:

Der Engländer Dewis behauptet, der Geheimbund der sogenannten Hongkong-Brüder hätte früher die wertvollste Beute seiner Piratentätigkeit stets an verschiedenen Stellen verborgen und genaue Angaben über diese Plätze dann stets dreien des Bundes in einer Chiffreschrift auf den Körper tätowiert. Ich bezweifle dies, denn der Grund dieser Tätowierung ist nicht genügend ersichtlich. Immerhin mag Dewis Tätowierungen bei Chinesen gefunden haben, die seine Annahme zu rechtfertigen schienen. Sie werden aber fraglos eine andere Bedeutung gehabt haben.

Als ich dies gelesen hatte, fiel urplötzlich der dünne Vorhang, der mir die wirklichen Zusammenhänge bisher noch verschleiert hatte. Ich eilte sofort zu den Redaktionen unserer verbreitetsten Tageszeitungen und kam gerade noch rechtzeitig, um die Anzeige für Sie, Herr Malzahn, in die Morgennummer einfügen zu lassen. Mir tat man den Gefallen, andere Annoncen zurückzustellen. Ich frühstückte dann im Wartesaal des Potsdamer Bahnhofs und war um sieben Uhr bei Bruchfeld, dem Privatdozenten am Orientalischen Seminar. Er brauchte zwei Stunden zur Entzifferung der Schrift des Hautstücks. Marawatha hat dasselbe vier Wochen lang umsonst versucht.« Er entnahm seiner Brieftasche einen Zettel und las Folgendes vor:

Hundert Schritt nördlich der Pagode von Pawi-Lung unter dem gespaltenen Pflaumenbaum vier Kisten mit Goldbarren aus dem Dampfer Silvana. Von niemandem des Bundes zu berühren, da für den Fall der Not, wenn Brüder durch Bestechung der Beamten zu befreien sind. – Min-Fa, Pin-Lu, Liu Sing.

»So meine Herren, dies war das Geheimnis des chinesischen Kochs, des früheren Piraten, das ihm das Leben gekostet hat. Ich holte mir nun meine beiden guten Bekannten, Kommissar Bechert und Wachtmeister Schilling vom Polizeipräsidium, verpflichtete sie zum Schweigen über alles, was die Inderin betraf, fuhr mit ihnen nach Dahlem und nahm mir Marawatha vor, der noch über das Verschwinden des Hautstückes völlig verstört war. Ich sagte ihm Folgendes: ›Du hast gewusst, dass Liu Sing einst zu den Hongkong-Brüdern gehörte. Du wusstest auch, was es mit der Tätowierung auf seiner Brust auf sich hatte. Du wolltest den Schatz dir aneignen, brauchtest dazu aber das Hautstück, um in Ruhe an die Entzifferung der Chinesenschrift herangehen zu können. Du selbst hast die Kobra aus dem Käfig genommen. Du als Inder verstandest, mit Giftschlangen umzugehen, und du hast dann Liu Sing beißen lassen, nachdem du ihm ein halb betäubendes Gift eingegeben hattest. Gleichzeitig aber wolltest du auch Ralkonda, die dich nicht beachtete, verderben. Du hast deinem Sahib vorgelogen, die Inderin hätte sich mit Liu Sing eingelassen und dann aus Furcht, von ihm verraten zu werden, die Kobra in die Nähe der Küche gebracht, um den Chinesen zu beseitigen. Dein eifersüchtiger Sahib glaubte dir blindlings und ließ Ralkonda gefangen setzen. In der Nacht stahlst du selbst die Leiche, entferntest das Hautstück und verbargst den Toten, da dir vor einer Entdeckung dieser Leichenschändung bangte, irgendwo – vermutlich im Park. Dein Sahib, traurig über der Inderin Treulosigkeit, verließ sein Heim, blieb aber in Berlin. Als das Armband gefunden wurde, teiltest du ihm dies sofort mit. So wurde er an mich als den Liebhaberdetektiv erinnert. Er wollte nun durch mich den Todesfall Liu Sings in der Hoffnung näher untersuchen lassen, dass vielleicht doch Ralkonda weniger schuldig war als es schien, als du ihm eingeredet hattest. Er liebt sie, er hat ihr die Ehe versprochen, und aus Liebe zu ihr setzte er die hohen Belohnungen aus. Er fälschte die Depesche, mit der du zu uns kamst. Als ich erklärte, ich hielte den Fall für aussichtslos, warst du sehr zufrieden damit. Deine Augen verrieten dich. So hat sich alles zugetragen. Hier ist die Tätowierung!‹ Als ich ihm diese zeigte, gab er alles zu. Meine Aufgabe ist damit erledigt.«

Malzahn stand auf und reichte Harst die Hand. »Schade, dass Sie selbst so reich sind«, sagte er bewegt. »Sie könnten Millionen fordern für das Glück dieser Stunde. Ich liebe Ralkonda, und ich bin jetzt erst wieder ein glücklicher Mensch, da ich weiß, dass Marawatha ein Schurke ist, dass er mich belogen und meine Eifersucht ausgenutzt hat. Ich danke Ihnen von Herzen.«

Dieses Problem ist hiermit beendet. Ich will nur noch hinzufügen, dass Malzahn mir runde 100.000 Mark spendete, dass ich jetzt Kapitalist bin, dass Liu Sings Leiche auf dem Grund des kleinen Marmorsees lag, dass Malzahns eheliches Weib eine Inderin von bedrückender Schönheit ist und der Schatz von anderen längst gehoben war. 

Am Abend desselben Tags, an dem Harst in so genialer Weise Marawatha entlarvte, erhielt er von Kammler einen Brief zugeschickt, der unsere nächste Aufgabe enthielt. 

Sie lautete: Was treibt die geheimnisvolle Jacht an der Küste Rügens?

»Ah, zur Abwechslung mal ein Seestück«, sagte Harst. »Mir sehr angenehm. Ich liebe das Meer. Morgen früh fahren wir nach Sassnitz, lieber Schraut.«