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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 6

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Der Sprungwald

Am anderen frühen Morgen, beim ersten Schimmer des Tages, verließen verabredetermaßen die Jäger unter Fereols Führung selbst und seines ältesten Sohnes die Meierei Motte Rouge, um sich zum Sprungwald zu begeben, wo man Jeannot und seinen furchtbaren Freund, die Bestie des Gévaudan, zu finden hoffte.

Alle waren zu Fuß, denn die Schwierigkeiten und Gefahren des Weges gestatteten nicht, sich in dem Teil der Gegend, in welche man eindringen wollte, der Pferde zu bedienen. Laroche-Boisseau und die, welche ihn begleiteten, trugen Kugelbüchsen. Fereol aber und sein Sohn, die immer noch von der Erfolglosigkeit eines Angriffs auf das Tier überzeugt waren, trugen bloß ihre mit Eisen beschlagenen Stöcke.

Der Himmel war düster und grau. Keine jener glänzenden Farben, welche gewöhnlich das Erscheinen der Morgenröte in den Gebirgen verkünden, war an den hohen Gipfeln zu sehen. Eine neue, während der Nacht gefallene Lage Schnee verdeckte die Ungleichheit des Bodens unter ihrer weißen Gleichförmigkeit. Zum Glück hatte der Wind sich gelegt und der Tag schien ruhig bleiben zu wollen. Die Reisenden folgten genau den Spuren, welche die Führer im Schnee zurückließen. Trotz dieser Vorsicht strauchelten sie fast bei jedem Schritt und hatten große Mühe, nicht zu fallen. Nun aber konnte ein solcher Sturz tödlich sein. Man hatte die gebahnten Wege verlassen. Bald stieg man steile Abhänge, von spitzigen Lavastücken oder Granitnadeln starrend, hinab, bald ging man am Rand von Abgründen hin, deren Tiefe der Blick nicht zu ermessen wagte. Der hartnäckige Schnee, welcher sich an die Füße anhing, schien die Gefahr noch zu vermehren.

Ein düsteres Schweigen herrschte in diesen Einöden und alle lebenden Geschöpfe schienen sie verlassen zu haben. Nicht einmal ein Raubvogel umkreiste die kahlen Felsenspitzen. Die Hunde, welche beim Aufbruch aus der Meierei munter und lebhaft den Jägern voransprangen, hatten sehr bald viel von ihrem Eifer verloren, sei es nun, dass die unter dem Schnee verborgenen Lavaspitzen sie in die Pfoten verwundeten oder sei es vielmehr, dass der Mangel an jeder Wildfährte sie bewog, ihre Kraft und ihren Eifer für eine andere Gelegenheit aufzusparen.

So marschierte man seit beinahe einer Stunde und konnte ungefähr eine halbe Meile zurückgelegt haben. Aber immer noch gewahrte man nicht den Sprungwald. Legris, der weniger rüstig war als seine Begleiter, begann ärgerlich zu werden.

»Wir nähern uns«, sagte Fereol mit seinem ruhig heiteren Ernst, »aber bei dem Gott Gideons, wenn Ihr Euch schon jetzt über die Mühseligkeiten des Weges beklagt, was soll dann werden, wenn wir an den Sprung kommen?«

Es bedurfte noch eines halbstündigen Marsches, um den bezeichneten Ort zu erreichen. Ein dumpfes Geräusch, von einem Wasserfall herrührend, wurde, so wie man näherkam, immer stärker. Als die Reisenden endlich den Gipfel eines steilen Felsens erreichten, den sie soeben mit Mühe erklettert hatten, sahen sie sich plötzlich einer furchtbar erhabenen Natur gegenüber.

Man denke sich vier Berge von ungleicher Höhe in einem Viereck beisammenstehend, sodass ihre Füße auf den ersten Augenblick aneinanderzustoßen schienen. Nichtsdestoweniger lag dazwischen ein hohles Tal gleich einem Abgrund, wo Baumdickichte, Basaltspitzen und seltsam übereinander geschichtete Felsenblöcke das Chaos nachzuahmen schienen.

Der Blick verirrte sich in diesem entsetzlichen Labyrinth, in welchem wegen der Schneedecke, welche die Landschaft bedeckte, anfangs alles ineinander verschmolzen zu sein schien. Die meisten durch Wasserströme, Lawinen oder auch Windstöße halb losgerissenen Bäume hingen krumm und verdreht einer über dem anderen und waren durch Schlingpflanzen aneinandergefesselt. Kolossale Farnkräuter und tausenderlei stachlige, dornige Sträucher machten dieses Dickicht vollends undurchdringlich.

Mehrere von den Höhen herabkommende Gießbäche stürzten sich in dieses Tal. Der Bedeutendste fiel von dem den Jägern gegenüberstehenden Berge herab und bildete einen Wasserfall oder Sprung, woher dieser Ort den Namen hatte.

Die Kälte war noch nicht allzu streng und diese Gießbäche waren daher noch nicht gefroren, sondern zeichneten sich wie schwarze oder graue Furchen auf dem weißen Schneegrund ab. Diese Bäche, welche von allen Seiten herabstürzten, hätten sich im Mittelpunkt des Tales vereinigen sollen. Verloren sie sich hier unter der Erde, wie dies in jenen von Vulkanen verwüsteten Ländern häufig geschieht, oder entwichen sie durch einen Kanal? Dies wusste man nicht, denn die Bäume, die Felsen und das riesige Gras schienen bestimmt zu sein, dieses Geheimnis Gottes den Menschen zu verbergen.

Dies war der furchtbare Ort, den die Jäger mit großer Sorgfalt zu durchsuchen hatten. Auf den ersten Anblick begannen selbst die Zuversichtlichsten am Erfolg dieses Unternehmens zu zweifeln. Dennoch folgte man dem Saum dieses unregelmäßigen Waldes und besuchte die Plätze, wo die Spuren Jeannots und des Wolfes mehrmals gesehen worden waren.

Die aufmerksamsten Erörterungen lieferten aber dennoch kein Resultat. Keine Spur vom Fuß eines Menschen oder eines Tieres war auf dem Schnee wahrzunehmen. Die dadurch entmutigten Hunde dachten nicht daran zu suchen, sondern schlichen traurig umher und reckten die Nasen in die Höhe, als ob sie selbst sich vor den Schwierigkeiten ihrer Aufgabe fürchteten.

Man machte bei einem jener ungeheuren Basaltblöcke Halt, die, man weiß nicht woher, gekommen sind und sich in jenen verbrannten Gebirgen ziemlich häufig vorfinden.

»Gott stehe uns bei!«, sagte Fereo, »ich begreife nichts mehr. Dennoch aber steht zu bezweifeln, dass der Mann und das Tier diese Gegend verlassen haben.«

»In der Tat«, entgegnete der Baron, »könnten sie auch kaum anderwärts ein sichereres Asyl, eine unzugänglichere Festung finden. Aber kommt, Fargeot«, fuhr er sich zum ehemaligen Forsthüter wendend fort, »der Augenblick ist da, Euer Wort zu halten. An Euch ist es jetzt, diesen furchtbaren Jeannot aufzuspüren.«

»Mein lieber Baron«, sagte Legris lebhaft, »wäre es nicht vielleicht besser, wenn wir uns vorerst mit dem Wolf beschäftigten.«

»Corbleu, Legris! Soll ich Euch denn tausendmal sagen, dass, wenn wir Jeannot ausfindig machen, der Wolf dann auch nicht weit sein kann? Nun, Fargeot«, fuhr Laroche-Boisseau ungeduldig fort, »woran denkt Ihr? Habt Ihr Euch vielleicht einer Gewalt gerühmt, die Ihr nicht besitzt? Ich glaubte, Ihr würdet Euch eifriger zeigen, wenn es gilt, Eure unglückliche Tochter zu rächen.«

Fargeot, welcher träumerisch und unentschlossen zu sein schien, zuckte bei diesem Namen zusammen. »Meine Tochter!«, wiederholte er, indem er rasch den Kopf emporrichtete, »ja, ja, Ihr habt recht, ich zögerte, diesen armen Teufel zu verraten, der sein Vertrauen auf mich gesetzt hatte. Wenn er aber wirklich seinen Schutz dem fluchwürdigen Ungeheuer gewährt, welches meine Tochter gerissen hat, dann mache ich mir kein Gewissen daraus. Ich werde mich sogleich ans Werk machen, und wenn Jeannot hier in der Nähe ist, so werden wir ihn bald sehen.«

»So ist es recht, Fargeot, verliert keine Zeit. Erinnert Euch meines Versprechens und des Euren. Wohlan, was sollen wir machen, während Ihr fortgeht, um allein zu manövrieren?«

Fargeot dachte nach. »Wartet, bis ich wiederkomme«, hob er wieder an. »Bis dahin vermeidet, Euch auf den Höhen zu zeigen, und redet nur leise, denn wir haben es mit Burschen zu tun, deren Ohr fein und deren Auge scharf sind. Auch müssen die Hunde gekoppelt werden. Man wird sie nicht eher als bis auf meinen Befehl loslassen. Was mich betrifft, so bedarf ich nicht dieses Gewehres, dessen Anblick Jeannot unvermeidlich veranlassen würde, die Flucht zu ergreifen, wenn wir ihm nämlich begegnen. Die Pistolen, welche ich in der Tasche habe, werden mir im Notfall genügen.«

Er übergab seine Büchse an Labranche und überzeugte sich, dass die Pistolen in gutem Stand und schussfertig waren. Dann knöpfte er seinen Rock fest zu und drang in das Dickicht hinein.

Plötzlich hörte man gerade an der Stelle, wo er soeben verschwunden war, ein furchtbares Geheul, welches das Getöse des Wasserfalles übertönte. Die Hunde spitzten die Ohren und die Jäger konnten eine Bewegung des Schreckens nicht unterdrücken.

»Der Wolf! Der Wolf!«, murmelte Legris, indem er seine Büchse spannte.

Laroche-Boisseaus geübtes Ohr hatte aber die Wahrheit erkannt.

»Es ist Fargeot selbst«, antwortete er lachend. »Er hat nicht vergessen, dass man mit den Wölfen heulen muss. Aber still! Lasst uns hören, ob man ihm antworten wird.«

Man wartete mehrere Minuten lang, hörte aber nichts als das dumpfe Grollen der Gießbäche.

Es schien, als ob Fargeot den Platz gewechselt hätte, denn es dauerte nicht lange, so erhob sich das Geheul mit neuer Kraft von einem anderen Punkt. Kaum aber schwieg es diesmal, so wurde es schwach aus großer Entfernung beantwortet.

Fargeot kam aus dem Wald heraus und gesellte sich wieder zu den Jägern.

»Er ist hier«, sagte er in aufgeregtem Ton, »und er hat mein Signal erkannt. Er muss dort unten am großen Wasserfall sein. Geht um den Wald herum und postiert Euch unter Beobachtung der größten Vorsicht auf dieser Seite, während ich mich quer durch das Dickicht hindurchschlagen werde. Wenn ich einen Pistolenschuss abfeure, so kommt alle gleichzeitig, ohne einen Augenblick zu verlieren, herbeigeeilt, nachdem Ihr die Hunde losgelassen habt. Ihr habt mich doch verstanden?«

Man verabredete rasch die verschiedenen auszuführenden Manöver, dann lenkten die Jäger ihre Schritte zum Wasserfall, indem sie den Simsen des Gebirges folgten, während Fargeot in den Wald zurückkehrte, wo er sein Heulen und Rufen bald wieder begann.

Wir wollen vor allen Dingen Laroche-Boisseau und den anderen Jägern folgen. Wie wir gesagt haben, kletterten sie so rasch, wie sie konnten, am Saum des Waldes hin und benutzten alle Ungleichheiten des Terrains, um ihren Marsch dem Feind zu verbergen. Sie beobachteten unbedingtes Schweigen und das Geräusch ihrer Tritte wurde durch den Schnee eingesogen.

Dennoch aber hatten sie einen großen Umweg zu machen und waren noch weit von dem bezeichneten Punkt, als der Baron trotz des von ihm selbst erteilten Befehls, zu schweigen und den Marsch zu beschleunigen, plötzlich stehen blieb und einen Ruf des Erstaunens und des Zornes ausstieß.

»Was gibt es denn?«, fragte Legris, der ihn sofort einholte.

»Schaut hin! sagte Laroche-Boisseau.

Auf dem Abhang des größten der Berge, ganz nahe beim Wasserfall, kamen soeben mehrere Personen zum Vorschein, welche ebenfalls das Ansehen von Jägern hatten.

Zwei kräftige Hunde liefen in Schnee hin und her, als ob sie die Fährte gefunden hätten, welche von denen des Barons gesucht worden war.

Diese Unbekannten bildeten einen etwas zahlreicheren Trupp, als der des Barons war, und schienen alle gut bewaffnet zu sein.

»Zum Teufel! Das ist der Neffe des Priors!«, rief Legris bestürzt.

»Ja, es kann niemand weiter sein als er«, entgegnete der Baron, indem er die Stirn runzelte. »Und scheint Euch nicht wie mir, dass diese Leute gerade in der besten Position sind, um eher als wir vom Wild, sei es Mensch, sei es Wolf, zu profitieren, welches dieser Dummkopf von Fargeot vielleicht aufscheucht?«

»Ja, wirklich, und es ist dies eine Unverschämtheit, aber wir werden es doch nicht leiden, nicht wahr, Baron? Wir wollen uns schnell zu ihnen verfügen und ihnen andeuten, dass sie sich entfernen mögen oder …«

»Im Falle es zu einem Streit kommen sollte, würden wir aber vielleicht finden, dass wir nicht die Stärkeren sind, Legris, und trotz Eurer kriegerischen Stimmung würdet Ihr das ohne Zweifel zuerst bemerken. Es würde besser sein, mit List zu Werke zu gehen, wenn es möglich ist.«

»Ich finde Euch sehr lau und geduldig, Laroche-Boisseau«, sagte Legris in unzufriedenem Ton.

In diesem Augenblick holte sie der alte Fereol ein, welcher ein wenig zurückgeblieben war, um den anderen Jägertrupp ins Auge zu fassen.

»Das sind die Leute, die in Grandsaigne eingekehrt waren und für welche ich Euch gehalten hatte«, sagte er lebhaft. »Ich erkenne ganz deutlich Martin, den Meier von Grandsaigne, der ihnen als Führer dient. Der Heuchler! Der Lügner! Er hatte mir versprochen, meinen Vetter nicht zu verraten und hat ihn ohne Zweifel für einige Silberlinge verkauft. Aber bei der Seele meines Vaters! Ich werde mein Blut rächen, wenn Jeannot durch Martins Schuld ein Unglück zustößt.«

Der Puritaner war in diesem Augenblick verschwunden, um dem rachsüchtigen und in seinem Zorn unbezähmbaren Gebirgsbewohner des Mézenc Platz zu machen.

Laroche-Boisseau konnte trotz seines lebhaften Ärgers nicht umhin, zu lächeln. Es schien ihm in der Tat seltsam, dass Fereol sich so erbittert gegen einen anderen um einer Tat willen zeigte, deren er sich selbst schuldig gemacht hatte. Dennoch aber sagte der Baron mit Autorität: »Nur keinen Streit mit jenen Leuten, versteht Ihr mich, Fereol? Gehen wir weiter und niemand unterstehe sich, mir ungehorsam zu sein.«

Er machte sich mit raschen Schritten wieder auf den Weg, ohne die widerspenstigen Gebärden und zornigen Blicke des alten Sektierers zu bemerken, der durchaus nicht geneigt war, sich vor einer Macht zu beugen, möchte diese sein, was für eine es wollte.

Endlich erreichte man die Stelle, wo Leonce und seine Leute sich gezeigt hatten. Während eines Teils dieses Weges hatte Fargeot mehrmals seine Rufe im Inneren des Dickichts hören lassen. Man hatte ihm auf dieselbe Weisegeantwortet. Am Ende aber hatte das Geheul vollständig aufgehört, sei es, dass die beiden Heuler auf einander gestoßen waren, sei es, dass das Tosen des Wasserfalls nun ihre Stimmen erstickte. Übrigens war der Schuss, welcher das Ruf- oder Notsignal sein sollte, noch nicht gehört worden, aber man war immer weiter vorgeschritten, indem man Sorge trug, sich keine Blöße zu geben.

Trotz dieser Vorsicht aber hatten Leonce und seine Begleiter ihre Konkurrenten sehr wohl bemerkt und ihre Jagd war dadurch beunruhigt worden. Sie hatten am Rande eines waldigen Abgrundes Halt gemacht und wagten nicht, sich in denselben zu vertiefen, bevor die Absichten des anderen Trupps ihnen bekannt wären.

Leonce machte beim Anblick des Barons, der voranschritt, eine Bewegung, um sich auf die Defensive zu stellen. Da er sich aber sofort erinnerte, dass sein Onkel ihm empfohlen hatte, jeden Streit mit dem Baron zu vermeiden, so nahm er eine ruhige Haltung an und hielt sich bereit, als Freund oder Feind je nach Umständen zu handeln.

Laroche-Boisseau hatte sich seinerseits die Sache ebenfalls überlegt. Er war auf die Idee gekommen, dass es pikant sein würde, den Neffen des Priors zum Gelingen seiner eigenen Absichten zu benutzen, was durch die Unerfahrenheit des jungen Mannes sehr leicht gemacht ward. Er rechnete darauf, weit mehr Aussicht zu haben, Leonces Pläne zu durchkreuzen, wenn es ihm gelänge, ihm Vertrauen einzuflößen. Vielleicht nährte er auch die Hoffnung, seinen verhassten Nebenbuhlern auf geschickte Weise zu peinigen.

Deshalb näherte er sich ihm mit lächelndem Mund und grüßte ihn höflich.

»Monsieur Leonce, glaube ich?«, sagte er in fast freundschaftlichem Ton. »Wenn ich mich nicht irre, habe ich schon die Ehre gehabt, Euch in Mercoire zu sehen?«

Leonce gab den Gruß kalt zurück. »Das ist wahr, mein Herr. Unsere Beziehungen aber sind so kurz und so wenig angenehm gewesen, dass es vielleicht besser wäre …«

»Sie nicht fortzusetzen? Erlaubt mir, dieser Meinung nicht zu sein. Seht, Monsieur Leonce«, fuhr der Baron mit anscheinender Geradheit fort, »ich will nicht an meine Beschwerden gegen die Abtei Frontenac erinnern, obwohl Ihr jetzt vielleicht wisst, wie gerechtfertigt diese Beschwerden waren. Aber warum sollte ein galanter Mann wie Ihr an dieser Angelegenheit teilnehmen? Ihr seid, wie es scheint, seit unserer letzten Begegnung Jäger geworden und ich erinnere mich, dass Ihr in der Tat an dieser verwünschten Bestie des Gévaudan Rache zu nehmen habt. Es führt uns also ein und derselbe Beweggrund hierher. Warum sollten wir, soweit wie die Umstände uns in Berührung bringen werden, nicht gegeneinander die Gesinnungen wechselseitigen Wohlwollens und gute Brüderschaft hegen, durch welche biedere Jäger sich in der Regel auszeichnen?«

Dieser verfängliche Vorschlag stimmte mit Leonces geheimen Absichten ziemlich überein, nichtsdestoweniger aber antwortete er mit einer Miene von Zurückhaltung: »Vielleicht würde ich andere Beschwerden als die der frommen Väter von Frontenac gegen Herrn von Laroche-Boisseau geltend zu machen finden. Doch es sei und ich will sie meinerseits ebenfalls für den Augenblick vergessen. Ich werde mich daher in nichts dem widersetzen, was der Herr Baron versucht, wenn er sich selbst verbindlich macht, während der kurzen Zeit, die wir zusammen verbringen werden, auch meine Projekte nicht zu durchkreuzen.«

»Angenommen, mein Herr! Jeder von uns wird seine vollkommene Unabhängigkeit bewahren – dies ist ausgemacht.«

Sie wurden plötzlich durch den Lärm eines heftigen Streites unterbrochen, der sich zwischen Fereol und dem anderen Meier erhoben hatte. Fereol warf Martin auf energische Weise seinen Meineid, wie er es nannte, vor, und Martin suchte seinerseits schon nach seinem Messer, dieser furchtbaren Waffe, welche der Gebirgsbewohner des Mézenc stets bei sich trägt. Überdies zeigten Leonces aus dem Dickicht herauskommende Hunde den Spürhunden Laroche-Boisseaus die Zähne. Ein Kampf schien zwischen den Tieren ebenso unvermeidlich zu sein wie zwischen den Leuten.

Die Anführer der beiden Trupps beeilten sich zu intervenieren. Einige feste Worte Leonces und des Barons machten wenigstens dem Schein nach dem Streit Martins und Fereols ein Ende. Sie entfernten sich voneinander, indem sie sich düstere Blicke zuschleuderten. Was die Vierfüßler betraf, so genügten einige gut angebrachte Peitschenhiebe, um ihnen jegliche Insubordinationsgelüste zu vertreiben.

»Morbleu! Monsieur Leonce«, sagte der Baron in heiterem Ton, als alles beendet war, »das gute Einvernehmen ist nicht sehr leicht zwischen uns herzustellen! Dennoch aber wird es gelingen, wenn Ihr es ebenso sehr wünscht wie ich. Und um Euch mit einem guten Beispiel voranzugehen, werde ich Euch nicht fragen, woher Ihr diesen herrlichen Bullenbeißer habt, der da im Gebüsch herumschnaubt. Er hat Euch ein schönes Geld kosten müssen, und meiner Treu, in der Zeit, wo wir leben, schneiden die Neffen der Mönche den Edelleuten das Gras unter den Füßen weg. Doch lassen wir das. Die gegenwärtigen Umstände nötigen uns, unsere Mittel zur Tätigkeit gemeinsam zu machen. Ich werde Euch daher meinen Feldzugplan nicht verhehlen. Dieser Wahnsinnige, den man Jean mit den großen Zähnen nennt, ist hier im Wald versteckt. Da ich das größte Interesse daran habe, mich seiner Person zu bemächtigen, so hat sich einer meiner Leute, der ihn kennt, ihm schon auf die Spur gemacht …«

»Was?«, rief Leonce, als ob ihm eine große Last abgenommen würde, »es ist also bloß Jeannot, den Ihr hier sucht? Ich hätte geglaubt … aber«, fuhr er fort, »wenn sich Jeannot in der Tat in dieser Gegend befindet, so ist er auch noch von der Bestie des Gévaudan begleitet. Seht!«

Er zeigte auf breite Spuren im Schnee, welche sich am Abgrund hinzogen. Der Baron erkannte sie sofort, heuchelte aber vollständige Gleichgültigkeit.

»Ganz gewiss«, entgegnete er, »der eine geht nicht ohne den anderen, und dies erklärt uns, Monsieur Leonce, gewisse Umstände in Bezug auf diesen berüchtigten Wolf, welche das gemeine Volk in großes Erstaunen setzen. Was mich betrifft, so werde ich nicht verfehlen, ihm eine Kugel zuzuschicken, wenn er mir in den Weg kommt, denn ich weiß wohl, welchen Preis der Sieger des Tieres beanspruchen

kann. Vor allen Dingen aber liegt mir daran, mich dieses verwünschten Jeannot zu bemächtigen, und zwar um eines Grundes willen, den Ihr später erfahren werdet. Dagegen, Monsieur Leonce«, fuhr er fort, indem er auf Legris zeigte, der sie mit gereizter Miene beobachtete, »seht Ihr dort einen Jäger, welcher Euch harte Konkurrenz zu machen gedenkt.«

Als Legris sah, dass man von ihm sprach, näherte er sich den beiden Sprechenden. Nachdem er leichthin gegrüßt hatte, sagte er zu dem Baron mit schlecht verhaltenem Zorn: »Sollen mir denn unserem Unternehmen entsagen, Laroche-Boisseau? Ich möchte es fast glauben, wenn ich die neuen Bundesgenossen sehe, die Ihr Euch gebt.«

Ein Stirnrunzeln seines Gönners ermahnte ihn, einen weniger hohen Ton anzunehmen.

»Man hört Fargeot nicht mehr«, fuhr er fort, »und ich weiß nicht, was ich von seinem Schweigen denken soll. Warum wollen wir nicht einen weniger steilen Abhang aufsuchen, um in diesen schauerlichen Schlund hinabzusteigen?«

»Was mich betrifft, so werde ich an dieser Stelle hinabsteigen«, sagte Leonce entschlossen. »Meine Hunde haben die Fährte wieder aufgenommen und ich muss sie unterstützen.  Meinen Jagdgenossen steht es frei, mir zu folgen, wenn sie Lust haben.«

Er näherte sich einem schmalen Sims, der sich am Rand des Abgrundes hinzog. Es war dies der einzig mögliche Weg, um sich von dieser Seite aus nach dem großen Wasserfall zu begeben. Eine Eiskruste und hart gewordener Schnee bedeckte ihn auf einer Strecke von dreißig oder vierzig Schritten und erhöhte noch die Gefahr dieses furchtbaren Fußsteiges.

»Aber das ist ja Wahnsinn!«, rief Legris erbleichend.

»Hört mich an, Monsieur Leonce«, sagte der Baron, »denn ich habe versprochen, Euch ein redlicher Gegner zu sein. Der Weg, den Ihr da einschlagt, ist für kein anderes Geschöpf als höchstens eine Gämse gangbar. Übrigens hat man noch kein Signal gegeben und Ihr habt ebenso viel Aussichten, wenn Ihr hier bleibt …«

»Erinnert Euch unserer Übereinkunft, meine Herren«, sagte Leonce lebhaft. »Es ist nicht meine Absicht, Eure Maßnahmen zu stören. Stört Ihr daher auch nicht die meinen.«

In diesem Augenblick knallte ein Schuss von der Kaskade her. Dann vernahm man ein durchbohrendes Geschrei, in welches sich ein entsetzliches Geheul mischte.

»Das ist Fargeot!«, rief Legris.

»Es muss Jeannot sein«, sagte der Baron.

»Ich habe das Geheul eines Wolfes erkannt«, sagte Leonce. Gewandt und leichtfüßig sprang er auf den gefährlichen Vorsprung, indem er seine Kugelbüchse über den Kopf hielt, und lenkte seine Schritte zum Wasserfall. Die anderen Jäger blickten ihm nach und erwarteten jeden Augenblick, ihn in den Abgrund hinunterstürzen zu sehen.

Seine Verwegenheit sollte aber ungestraft bleiben. Leonce erreichte das äußerste Ende des Simses, welcher hinter den Wasserfall selbst führte, ging rasch unter dem durch den Fall des Wassers gebildeten Bogen hindurch und erschien unversehrt und wohlbehalten auf der anderen Seite.

Im selben Augenblick sah man ihn sich zwei menschlichen Gestalten nähern, welche sich plötzlich auf dem Abhang des Gebirges zeigten.

Die Zuschauer waren von diesem unerwarteten Erfolg im höchsten Grad betroffen. Legris war der Erste, der seine Geistesgegenwart wiedererlangte.

»Dieser Weg ist also gangbar«, rief er. »Baron, wir dürfen nicht zaudern. Wenn wir versäumen, diesen Monsieur Leonce einzuholen, so ist er imstande, den Lohn zu gewinnen. Seid Eures Wortes eingedenk und kommt mit mir.«

»Allerdings«, entgegnete der Baron, »wäre es eine Schande für alle, wenn wir diesem jungen Menschen die Sache so gutwillig allein überließen. Er würde sich später rühmen, ein Unternehmen ausgeführt zu haben, vor welchem wir zurückgeschreckt wären. Vorwärts denn, in Teufels Namen!«

Er betrat seinerseits den gefährlichen Sims wie sein Gefährte, der ihm einige Schritte voranging, plötzlich einen lauten Angstschrei ausstoßend verschwand.

Laroche-Boisseau blieb stehen. Legris war von einer fürchterlichen Höhe hinabgestürzt. Zum Glück schien ein Dickicht von Gesträuchen seinen Fall aufgehalten und gebrochen zu haben. Es dauerte nicht lange, so hörte man ihn vom Boden des Abgrundes heraufrufen. Der Baron zögerte anfangs, aber bedenkend, dass die Bergbewohner hinreichen würden, um seinem unglücklichen Freund alle mögliche Hilfe zu gewähren, welche unter den obwaltenden Umständen nötig und möglich wäre, setzte er seinen Weg weiter fort.