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EISkalt. Ein Fall für Herbert Eis

EISkalt. Ein Fall für Herbert Eis

Neugierig ist man, wenn man auf direktem Weg unverhofft Post von einem bekannten Autor und gern gesehenen Phantastik-Freak auf den Cons in Marburg und Dreieich bekommt. Neugierig auch deswegen, weil ich, wenn eine Sendung an beide Herausgeber des Geisterspiegels adressiert ist, Anke den Vorrang lasse, diese zu öffnen; gentlemanlike halt. Freudig erstaunt sind wir immer noch, als wir einen Thriller in den Händen hielten, dessen Widmung wie folgt lautet:

Anke und Wolfgang Brandt gewidmet.
Für Anke, weil sie mal was ganz ohne dieses Phantastikzeugs wollte.
Und für Wolfgang, weil er es phantastisch fand, als ich sagte: »Bekommst du.«
Hier ist es.

EISkalt ist Tobias Bachmanns erster Roman, der ganz ohne Phantastik auskommt, auch wenn dieser voll mit Andeutungen und subtilen Hinweisen auf das Genre ist.

Das Buch
EISkalt. Ein Fall für Herbert Eis
Thriller, Taschenbuch, Amrûn Verlag, Traunstein, Dezember 2018, 290 Seiten, 13,00 Euro, ISBN: 9783958693609, Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Synopsis:
Ein Neuanfang ist es, der Herbert Eis nach Kyllburg reisen lässt. Hier hat er seine Kindheit verbracht, doch anstatt von Wiedersehensfreude erfährt er nur kaltherzige Ablehnung. Bald überschattet ein schrecklicher Mord Eis‘ Anwesenheit: Sein Onkel soll Mitglied eines Hexerklubs gewesen sein. Bei seinen Nachforschungen schlittert Herbert Eis immer tiefer in die Mysterien seiner eigenen Vergangenheit. Als man ihm selbst nach dem Leben trachtet, müssen sich die Einwohner Kyllburgs warm anziehen, denn die Ermittlungsmethoden eines Herbert Eis sind wie sein Name: eiskalt!

Leseprobe

Die Deutschen haben sechs Monate Winter und sechs Monate keinen Sommer. Napoleon

Das Zepter der Drei bricht niemals entzwei! Ferdinand Lavater

Prolog: Gestern

Er bekam kaum noch Luft.

Mit heraushängender Zunge rannte er durch den Wald und rang nach Sauerstoff. Schweiß lief ihm über das Gesicht und sein asthmatisches Keuchen kondensierte vor ihm zu kleinen, unregelmäßigen Wolken. Mit vor Furcht geweiteten Augen blickte er sich um. Der Mond schien durch die Äste der Bäume. Es roch nach Moder, nach gefrorener Fäulnis und Tannenduft.

Schritte hinter ihm, die sich rasch näherten. Äste knackten.

Der Mann setzte sich wieder in Bewegung. Während er im Slalom die Bäume umrundete, griff er sich an die Brust. Sein Herz pochte wild, gleichermaßen aus Anstrengung, als auch der Angst wegen.

Er konnte nicht mehr. Mit der Linken stemmte er sich gegen einen Birkenbaum und beugte seinen Oberkörper nach vorne. Er hustete. Die Luft, die er atmete, war zu kalt für seine alten Lungen.

Da schlossen seine Verfolger zu ihm auf. »Was rennst du denn davon?«, sagte einer. »Es hilft dir ja doch nichts. Schau, schon haben wir dich.«

Der Mann spürte, wie man ihn von hinten packte und ihm die Arme auf den Rücken drehte. Vor Schmerz schrie er auf. Tränen schossen ihm in die Augen.

»Ja«, sagte eine dritte Stimme. »Schrei nur.«

Wieder das Lachen des Zweiten. Und der Erste sagte: »Hier draußen hört dich keiner schreien!«

Der Mann wurde zu Boden geworfen. Mit dem Gesicht voran lag er auf piksendem Waldgrund. Er roch das Moos, spürte die gefrorene Erde und die Tannennadeln, die ihm das Gesicht zerkratzten.

Irgendjemand band ihm die Hände auf den Rücken. Dann trat ihm jemand in den Bauch.

Während er sich vor Schmerzen krümmte, bemerkte er, dass seine Gegner von ihm abließen. Eine weitere Person näherte sich.

»Lasst ihn!«, sagte der Neuankömmling; eine Stimme, die ihm wohlbekannt war, und bei deren Klang sich ein eiskalter Schauer auf seinem Rücken breitmachte. »Wir wollen keine unnötigen Spuren. Es soll natürlich aussehen. Habt Ihr noch einen Strick?«

»Nein, Meister«, sagte derjenige, der zuerst gesprochen hatte.

»Dann nehmt den, mit dem ihr ihn gefesselt habt.«

Unverzüglich befreite man ihn von seinen Armfesseln. Jemand drückte sein Gesicht mit dem Knie tiefer in den Morast. Dann wurde sein Kopf ruckartig nach hinten gerissen. Der Strick, der vormals seine Hände zusammengehalten hatte, wurde nun wie eine Schlinge um seinen Hals gelegt.

»Wie im Wilden Westen«, sagte der, der vorhin gelacht hatte.

»Halt die Fresse!«, sagte der Andere. »Pack lieber mit an.«

Barsch wurde der Mann auf seine Füße gestellt. Er blickte dem Anführer ins Gesicht, während seine Komparsen das Seil über einen Ast warfen.

»So willst du also, dass es endet?«, sagte der Mann mit rauer Stimme und spuckte etwas Erde aus.

»Ja«, sagte der Anführer. »So will ich, dass es endet.«

Der Mann wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment zog sich die Schlinge ruckartig um seinen Hals zusammen. Im selben Augenblick spürte er, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Gleichzeitig wurde ihm schwindelig, da er keine Luft mehr bekam. Er bemerkte noch, dass er ein scheußliches Röcheln von sich gab. Noch immer schmeckte er Erde auf der Zunge. Zwar versuchte er, nach der Schlinge um seinen Hals zu greifen, doch bekam er sie nicht zu fassen. Zu sehr war er damit beschäftigt, nach Luft zu gieren. Er spürte das wilde Strampeln seiner Beine in der Luft. Kein Halt war zu finden. Nirgends.

Dann fügte er sich in sein Schicksal und wehrte sich nicht mehr.

Er dachte an den Brief und daran, einen Fehler begangen zu haben. Er dachte auch an seinen Wagen, der in der Garage stand. Und an die Bücher dachte er. Die vielen schönen Bücher, mit denen er sich so gern umgab. Auch an Kohlrouladen musste er denken.

Dann aber spürte er die Kälte und er wusste, dass das alles seine letzten Gedanken waren.

Das Ende schien ihm ein helles Licht zu sein, das ihn von der Hölle, die das Leben für ihn war, befreite.

Und das Ende war vor allem eins: Eiskalt.

 

I

Montag

Unvorbereitetes Wegeilen bringt unglückliche Wiederkehr. Johann Wolfgang von Goethe

Jetzt, ca. 18:35 Uhr

Die Lokomotive röchelt erschreckend langsam auf den verwitterten, rostbraunen Bahngleisen der Kyll entgegen. Ein scheußliches Rattern reißt mich aus dem Schlaf.

Aus dem Fenster blickend sehe ich, dass der Nebel, der aus den Wäldern aufsteigt die in Dämmerung getauchte Welt beherrscht. Sonnenstrahlen brechen sich in den Baumwipfeln und senken sich wie transparente Finger auf saftiges Moos und kurios gewachsene Pilze. Warme Winde, die das Schilfrohr am Flussufer der Kyll sanft hin und her wiegen. Frösche auf Seerosen, die nach ihrer Beute schnappen. Nicht weit unter der Wasseroberfläche zieht ein Fischschwarm seine mysteriösen Kreise.

Ein Junge und ein Mann, die gemächlich durch diesen Wald am Uferrand spazieren. Der Junge springt ausgelassen zwischen den Bäumen, einen Köcher auf den Schultern wippend. Hinter ihm der Mann, mit wehendem Haar, das Hemd leicht aufgeknöpft und einen Stock, mit dem er das ein oder andere Blatt oder einen Stein umdreht, und seine Funde dem Jungen mit erklärenden Worten zeigt.

»Nicht so schnell, Herbert. Nicht so schnell! Warte auf mich!«

Der Junge rennt zu dem Mann zurück. »Es ist schön hier, nicht wahr?«

»Ja, Herbert«, und dabei blickt sich der Mann noch einmal um. »Es ist wunderschön hier, genauso, wie du es mir vorhin beschrieben hast. So müssen die hängenden Gärten von Babylon ausgesehen haben. Du erinnerst dich doch an die Geschichte, die ich dir darüber erzählt habe, oder?« Er blickt den Jungen prüfend an.

Doch dieser strahlt nur. »Ja, natürlich. Sie war wunderschön. Erzählst du heute wieder eine deiner Geschichten?«

Eine leichte Erschütterung des Zuges lässt mich hochfahren. Endlich erwache ich wirklich aus meinem Traum. Ich befinde mich nicht mehr in den Sommerwäldern meiner Kindheit, nein. Ich sitze in einem schal riechenden Zugwaggon, der durch eine Eiszeit fährt. Doch schon ergreift die Dunkelheit erneut von mir Besitz und zieht mich tief zurück, in meine Vergangenheit, an das Ufer eines Flusses, den man Kyll nennt.

»Sieh nur, Onkel Sedlitz, da!« Der Junge deutet auf eine Gruppe Wildgänse, die am gegenüberliegenden Ufer genüsslich in der Sonne liegen, um ihr Gefieder zu zupfen. Ein kühner Schmetterling flattert übermütig über die dösenden Wasservögel. Eines der Tiere schnappt immer wieder nach ihm. Gebannt verfolgte der Junge dieses Schauspiel.

»Er tanzt den Reigen, Herbert«, kommentiert der Mann, während sie dem Schmetterling hinterherblicken. »Er ist wie der Narr des Kartenspiels, der alle anderen Karten übertrumpft, um selbst zur höchsten Karte zu werden.«

Doch die Bilder verwischen, und aus dem bedrohlichen Dunkel meines Geistes fährt ein Wagen vor …

Meine Eltern müssen im Vorgarten gewartet haben. Sie sehen den Mann aus dem Wagen steigen und begrüßen ihn herzlich.

»Norbert!«, Vater umarmt ihn, wie man einen Bruder umarmt. Mutter reicht ihm die Hand und geleitet ihn ins Haus. »Ich habe uns Kaffee gemacht.«

Vater und Onkel Sedlitz umarmen sich noch einmal. »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«, sagt mein Vater. »Freut mich, dass du gekommen bist. Herbert hat mir von dir erzählt. Er schien sichtlich beeindruckt.«

»Herbert! Herbert!«, rief meine Mutter. »Wo bist du, mein Schatz? Dein Onkel ist hier! Ach, wo steckt er nur wieder?«, sagt sie und dreht sich wieder zu Norbert Sedlitz um. »Er konnte die ganze Nacht vor Aufregung über deinen Besuch nicht schlafen! Aber nimm doch den Mantel ab!«

Und weiter, immer weiter im monotonen Rauschen des Zuges: »Herb! Hör zu Herbert, hör gut zu …«

Nur eine einzige Kerze beleuchtet den Raum, in dem wir uns nun befinden. Es ist eine Höhle. Das flackernde Licht der Kerze wird von den Tropfsteinen reflektiert und so scheint es, als verlieren sich immer wieder Lichtschlieren in der Dunkelheit.

»Was ich dir sagen werde, ist von ungeheurer Wichtigkeit. Die dreifältige Gottheit, ich kann sie schon sehen. Magna Mater ist es, die mich in ihrem Wahn zu sich ruft. Wirbelnd, wie ein ziellos im All trudelnder Meteor treibe ich ihr entgegen, unbeobachtet, ohne Wissen, Laster oder Namen. Und dieser Ort hier: Die Kyll – dem Fluss Styx gleich – ist der Schlüssel zu einem Geheimwissen, für das du jetzt noch nicht reif bist. Eines Tages aber … Herbert, hör genau zu, was ich dir jetzt sage: Eines Tages wirst du über den Fluss fahren und das Tor zu diesem Geheimnis öffnen.«

»Entschuldigung?« Eine fremde, störende Stimme erreicht mein träumendes Bewusstsein.

»Denn wisse, Herb…«

»Entschuldigen Sie … Ihren Fahrschein, bitte!« Wieder diese Stimme.

»Herbert, warte, geh nicht. Es ist wichtig …«

»Wie?«, ist das Einzige, das ich hervorbringe.

»Herbert!«, erklingt es aus weiter Ferne.

»Ihren Fahrschein, bitte«, sagt der Schaffner nun bereits mit gereizter Stimme.

»Oh, ja natürlich«, sage ich und reiche ihm meine stark zerknitterte Fahrkarte. »Ich muss wohl eingenickt sein«, entschuldige ich mich, aber der Schaffner hört gar nicht zu, sondern starrt in den Gang und stempelt dabei meine Fahrkarte, ohne sie auch nur überflogen zu haben.

»Angenehme Fahrt noch«, grollt er, gibt mir das Ticket zurück und wankt den Mittelgang zwischen den Passagierplätzen weiter.

Ich blicke verschlafen aus dem Fenster. Es ist dämmrig geworden und wir haben schon die westlichen Ausläufer der Vulkaneifel erreicht. Doch ich habe kein Auge für die stille Landschaft.

Onkel Sedlitz kommt mir wieder in den Sinn, der mich einen ganzen Sommer lang in seltsamen Dingen unterrichtet und mir dabei sein ganzes Wissen übermittelt hatte. Etwas, dem ich mich nur noch schwer entsinnen kann.

Ich komme nicht umhin, anders zu denken. Meine Eltern müssen seinerzeit irgendeine Art von Abkommen mit meinem Onkel geschlossen haben. Fakt ist auf jeden Fall, dass ich einen Großteil meiner Ferienzeit bei Onkel Sedlitz in Kyllburg verbracht habe. Eine Zeit, die ich nicht missen möchte, gleichzeitig jedoch auf irgendeine Art und Weise, die ich nicht näher erklären kann, verfluche.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Zeit, die mir teilweise böse mitgespielt hat. Obgleich ich nicht sagen kann, dass ich mich selbst für mein Schicksal zu verantworten habe. Dabei heißt es doch, dass das Übel, das man säht, stets zu einem zurückkommt. In meinem Fall ist es wohl eher Onkel Sedlitz, der mir zugesetzt hat. Er hat mich infiziert mit seinen Gedanken, seinem unablässigen Geschwafel von Planeten, physikalischen Wundern und dem Glauben an irgendwelche urzeitlichen Gottheiten und Dämonen. All diese Dinge sind tief in meinem Bewusstsein verankert, ohne dass ich bewusst und mit meinem Verstand darauf zugreifen könnte. Das geheime Wissen, das Onkel Sedlitz mich gelehrt hat, bleibt wie in einer versiegelten Kammer in meinem Inneren verschlossen. Ich selbst habe den Schlüssel weggeworfen. Nun bin ich auf dem Weg zurück. Ich möchte ihn endlich wiederfinden, diesen Schlüssel. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig.

Doch der Entschluss, zurück nach Kyllburg zu ziehen, liegt nicht alleine in meiner Vergangenheit begründet. Vielmehr ist es die Zukunft, die mich dazu treibt. Ich habe alles verloren und so habe ich keine andere Wahl. Zwar habe ich sämtliche Möglichkeiten durchgespielt, bin jedoch zu keiner annehmbar erscheinenden Alternative gelangt.

Onkel Sedlitz ist seit dem Tod meiner Eltern mein letzter verbliebener Verwandter. Weder habe ich Frau noch Freundin. Meine letzte Affäre liegt schon Jahre zurück und mein Versuch, als Privatermittler in Köln Fuß zu fassen hat lediglich dazu geführt, finanziell komplett abgebrannt zu sein. Meine letzten, verbliebenen Ersparnisse belaufen sich auf etwas über hundert Euro.

Ich habe Onkel Sedlitz einen Brief geschrieben, um ihn von meinem geplanten Besuch zu unterrichten. Sein Antwortschreiben klang wenig begeistert, aber selbstredend kam er seiner familiären Verpflichtung nach, mir beizustehen, und so bot er mir an, in der Ferienwohnung unterzukommen, die er zur Aufstockung seiner Rente betreibt.

Das letzte Mal haben wir uns nach der Beerdigung meiner Eltern am Bahnhof in Kyllburg gesehen. Schon kurz nach der Beisetzung hatte er mich beiseitegenommen, mir einen tausend Mark-Schein zugeschoben und verschwörerisch geflüstert: »Nimm dies von mir und das Erbe deiner Eltern und blicke in Köln in eine glorreiche Zukunft. In Kyllburg gibt es diese nicht für dich.« Für mich klang das damals wohlmeinend. In der Erinnerung hingegen scheint es, als wollte er mich loswerden.

Doch natürlich habe ich versucht, seinen Rat zu beherzigen. Zunächst kam das Internat, dann die Ausbildung und schließlich: Köln, die große Stadt und ein noch größeres Abenteuer. Ich war noch jung und zuversichtlich. Voller Hoffnung war ich der Meinung, die Stadt läge mir zu Füßen. Ich hatte Geld und die Vision einer Detektei. Und nun?

Nichts ist mir geblieben. Einzig das Wenige, das ich am Leibe trage. Hinzu kommt etwas leichtes Gepäck mit abgetragenen Kleidungsstücken darin. Ein paar wenige persönliche Habseligkeiten. Alles andere wurde mir gepfändet, sofern ich es nicht bereits zuvor verkauft hatte.

»Nächste Station: Kyllburg. Ausstieg in Fahrtrichtung Rechts«, scheppert es aus den Lautsprechern.

Ich blicke aus dem Fenster. Mit ein wenig Anstrengung kann ich bereits den alten Bahnhof mit seiner rotsandsteinigen Fassade ausmachen. Das Quietschen der Bremsen setzt ein.

Nun denn, Onkel Sedlitz. Ich komme!

Der Moment, in dem ich Kvllburger Boden betrete, lässt mich schaudern. Wie lange ist es her, dass ich zuletzt hier war? Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Aber ich weiß, dass ich mich als Junge gerne am Bahnhof aufhielt, um nach Zügen Ausschau zu halten. Lange Zeit wurde Kyllburg von einem Schienenbus angefahren, der mir stets besonders imponierte.

Kyllburg ist ein Ort, wie man ihn nur schwer beschreiben kann. Geschichtlich zu umfangreich und dennoch überschaubar. Aufgrund der Beengung durch die Wälder und steilen Pässe der Vulkaneifel und nicht zuletzt durch die Kyll, wurde die Stadt erfolgreich am Wachstum gehindert. Dies merkt man ihr heute noch an. Eine Expansion ist schier unmöglich. Die Moderne kommt hier nicht zum Tragen. Sie kann sich nicht durchsetzen – und das ist bei weitem nicht negativ gemeint.

In Kyllburg atmet man Historie. Jeder Schritt führt einen über geschichtsträchtig geprägte Erinnerungen. Und dennoch: Obwohl ich hier einen Großteil meiner Kindheit verbracht habe, kenne ich mich mit der Kyllburger Geschichte zu w’enig aus, um darüber fachgerecht erzählen zu können. Selbstverständlich sind mir die Eckdaten vertraut, doch weiß ich letztlich nur das, was mir Onkel Sedlitz beigebracht hat. Doch er zog es ja vor, mich mit seinem alchemistischen Hobby zu infizieren. Wie eine Giftspritze jagte er mich durch altertümliche Traktate, lehrte mich Begrifflichkeiten und Bedeutung diverser Mythologien und Dämonologien und erzählte mir so einiges über Geschichten von Hexen und Teufelsanbetern; allesamt Dinge, die einen an einem Ort wie diesen nicht weiter verwunderten, und die ich als Kind natürlich wie ein Schwamm in mich aufgesogen habe.

Heute ist vieles davon nicht mehr als eine verschwommene Erinnerung. Das Leben hat mir zu sehr mitgespielt, als dass ich mich mit derlei Dingen weiterhin hätte beschäftigen können. Gerade die Zeit nach dem Tod meiner Eltern, mein Umzug nach Köln, meine erfolglosen Versuche, meine Privatdetektei zu etablieren, sorgten letztlich dafür, dass mein Interesse an Kyllburg mit all seinen Sagen ebenso abnahm, wie meine mythologisch geschärften Sinne.

Onkel Sedlitz Privatunterricht hatte quasi versagt, wenn man es so sehen wollte. In Köln hatte ich mit Junkies zu tun. Mit Prostituierten und mit Ehebrechern. Einmal geriet ich sogar ins Kreuzfeuer des Verbrechens, als ich zwischen die Fronten zweier rivalisierender Drogenkartelle geriet. Das war, bevor es mit der Auftragslage schier bergab ging. Das Finanzamt sorgte letztlich für den Rest.

Nun bin ich hier. In Kyllburg. In meiner Vergangenheit.

Wie hatte mein Onkel stets zu mir gesagt? »Es muss erst viel Wasser die Kyll entlangfließen, bevor man als junger Mann aus der Ferne hierher zurückkehrt.«

Er sollte recht behalten.

Hier bin ich.

 

Damals, Sommer 1984

Hier war er in seinem Metier: dem Wald. Dichte Kiefern, soweit das Auge reichte. Der Junge war gerne hier, an seinem ganz speziellen Ort, einer kaum auffindbaren Lichtung, nahe einer schmalen Schneise zwischen den Bäumen.

Das Gras der Lichtung wuchs ihm bis zu den Hüften; aber Herb hatte bereits eine großzügige Stelle niedergetrampelt. Große Äste und Gestrüpp hatte er durchs Unterholz auf seine Lichtung geschleppt, um daraus eine Art Freisitz zu bauen. Für einen Achtjährigen stellte er sich hierbei besonders geschickt an. Die notwendigen Techniken hatte er von seinem Onkel gezeigt bekommen, bei dem er wie jedes Jahr die Sommerferien verbringen durfte. Trotz seiner Autorität mochte Herb seinen Onkel aus mehreren Gründen: Zum einen konnte er bei ihm letztlich tun und lassen, was er wollte, solange er sich an gewisse Regeln hielt, ließ Onkel Sedlitz ihm quasi jegliche Freiheiten, die man sich als Junge in Herbs Alter nur wünschen konnte; und zum anderen brachte ihm Onkel Sedlitz Dinge bei, die keine Schule auf diesem Planeten lehren würde.

Es war eine ganz besondere Art der Faszination, die der junge Herb mit seinen sommerlichen Ferienaufenthalten in Kyllburg bei Onkel Sedlitz verband, und das schloss die umliegenden Wälder der Waldeifel selbstredend mit ein. Insbesondere, da er das restliche Jahr mit seinen Eltern in der Innenstadt von Koblenz lebte.

Herb war ausgesprochen glücklich, als er den dicken Stamm, den er gut hundert Meter durch den Wald gezerrt hatte, nun mit der bereits vorhandenen Querverstrebung seines Freisitzes verschnürte. Mit seinem Taschenmesser säbelte er die Schnur durch und verknotete das Reststück sorgfältig.

Dann legte er sein Werkzeug beiseite und versuchte das Teilstück anzuheben. Es war ganz schön schwer und Herb schnaufte unter der Anstrengung. Schließlich aber gelang es ihm. Mit einem im Vorfeld von ihm zurechtgelegten Stützdreieck schaffte er es, Stück für Stück den Rahmen seines Freisitzes aufzustellen.

Herb bedauerte es, dass er keinen Freund in Kyllburg hatte, der ihm zur Hand gehen konnte. Seine Klassenkameraden in Koblenz waren noch nie in Kyllburg gewesen und er durfte sie auch nicht hierher mit einladen. Onkel Sedlitz wollte das nicht. »Wenn du Freunde möchtest, musst du dir hier welche suchen«, meinte er.

Dergleichen sagte sich leicht, befand Herb und so arbeitete er weiterhin alleine am Erstellen seines Freisitzes. Er verankerte den Rahmen in der Erde so gut er es vermochte, legte Äste über den Rahmen und bedeckte zum Schluss alles mit Laub, Gras und Stroh. Zwischendurch trank er von seiner Limo, die er sich mitgenommen hatte und die in der Sonne bereits warmgeworden war.

Das Innere des Freisitzes wollte er sich hübsch einrichten, mit einer Bank und einem großen Holzpflock als Tisch. Das Material hatte er bereits ausgekundschaftet. Er musste es nur noch holen, was er heute wahrscheinlich nicht mehr schaffen würde. Aber die Sommerferien waren noch lang und er hatte Zeit.

»Das ist das Schöne am Kindsein«, sagte Onkel Sedlitz immer. »Man hat alle Zeit der Welt.«

Herb wusste nicht, ob das stimmte, aber es klang gut und die alleinige Tatsache, dass Onkel Sedlitz davon überzeugt war, genügte ihm. Wenn Herb eines über seinen Onkel wusste, dann, dass der alles wusste.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Ihm blieb noch gut eine Stunde, bevor er zum Abendessen zurück sein musste. Probeweise legte er sich unter seinen Freisitz und genoss sein selbsterrichtetes schattiges Plätzchen. Vielleicht konnte er den Holzpflock, den er vorhin entdeckt hatte, doch noch holen, überlegte er. Noch einmal trank er von seiner warmen Zitronenlimo und suchte in seinem Rucksack nach der Packung Ahoibrause, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Es war die einzige Süßigkeit, die bei diesem Wetter nicht schmelzen konnte, weswegen es immer gut war, ein paar Päckchen des sauren Brausepulvers dabei zu haben.

Herb schüttelte das Päckchen und wollte es gerade aufreißen, als das Geräusch eines Schusses die sommerliche Stille zerriss, dicht gefolgt vom gellenden Schrei eines Tieres. Sofort begab sich Herb in Deckung. Der Lautstärke nach zu urteilen, mochte der Schuss nicht allzu weit von ihm entfernt abgefeuert worden sein und er hatte keine Lust, von einem Jäger fälschlicherweise für Jagdwild gehalten zu werden.

Aus seinem Unterstand heraus hatte er einen guten Überblick über die Lichtung, die natürlich ein vortreffliches Jagdrevier abgeben mochte. An so etwas hatte er nicht im Geringsten gedacht, als er sich den Ort für die Errichtung seines Freisitzes ausgesucht hatte. Aber er hatte auch keinerlei Jägerhochsitze in dieser Gegend des Waldes gesehen. Und jagten Jäger nicht mit Vorliebe nachts beziehungsweise am frühen Morgen und vielleicht noch vormittags? Aber was wusste er schon vom Jagen?

Plötzlich sah er einen Hirsch mit mächtigem Geweih, der ihm über die Wiese entgegen humpelte. Er war nicht sonderlich schnell und es war offensichtlich, dass er verwundet war.

Vor Aufregung schlug Herbs Herz wie ein Boxer von innen gegen seine Brust. So eine Gemeinheit, dachte er. Ein so stolzes, hoheitliches Tier darf man doch nicht einfach schießen, ging es ihm durch den Kopf. Es sei denn, es war vielleicht krank, überlegte er weiter.

Sei’s drum, der Hirsch kam zielstrebig näher, direkt auf seinen Freisitz zu. Herb wunderte es, dass der Hirsch über die Lichtung wollte und nicht die nächstgelegene Deckung aufsuchte. Im selben Moment aber schalt er sich einen Narren: Sein Freisitz war die nächstgelegene Deckung.

Ganz vorsichtig, um den Hirsch nicht zu verstören, kroch er aus seinem Lager heraus, nicht darüber nachdenkend, ob etwaige Jäger nun auf ihn anstatt des Hirsches schießen könnten. Was ihm kurz zuvor noch Sorgen bereitet hatte, kam ihm nun nicht einmal mehr in den Sinn. Das Einzige, was zählte, war, dem Hirschen zu helfen, soweit er eben konnte. Herb hoffte, dass er nicht zu arg verletzt war. Er hoffte auch, dass der von ihm gebaute Unterstand das Leben des Hirsches retten mochte und gemeinsam mit Onkel Sedlitz würde er es sicherlich schaffen, den Hirsch gesund zu pflegen.

Als das Tier nahe genug heran war, durchfuhr Herb ein Schreck: Mit seinem Geweih war es viel zu groß für seinen Unterstand. Es würde ihn zerstören, was seine Arbeit der letzten beiden Tage zunichtemachen würde. Aber wenn es das Leben des Hirsches retten würde, wäre es nicht so schlimm.

Im selben Moment, da er über die Zukunft seines Freisitzes nachdachte, gellte ein weiterer Schuss über die Lichtung. Der Hirsch schrie auf und fiel zuckend vornüber.

Herb, der nun neben seinem Konstrukt flach auf dem Boden lag, vergoss stille Tränen. Der Hirsch tat ihm leid.

Bald würden Jäger kommen, um das Tier zu holen, dachte er. Spätestens wenn sie heran wären, würde er aufspringen und sie zur Rede stellen. Er würde ihnen sagen, was für gemeine Mörder sie sind. Vermutlich wollten sie nur das mächtige Geweih des nun toten Königs der Wälder. Den Hirschen erging es mit Sicherheit ebenso wie den Elefanten in Afrika, die nur wegen ihres Elfenbeins gejagt wurden, mutmaßte er.

Noch nie war er dem Tod so nah gewesen. Eine unmittelbare Auseinandersetzung hatte es für ihn noch nicht gegeben. Der Tod war nichts weiter als ein abstrakter Begriff für ihn.

Jetzt aber beäugte er sich den Hirsch, der keine zwei Meter von ihm entfernt im trockenen Gras lag. Die Gefahr seines Geweihs und die respekteinflößende Größe des Tieres wichen angesichts des Todes. Herbert kroch näher an den Hirsch heran.

Noch atmete der Waldbewohner. Langsam, schwerfällig und röchelnd. Man konnte das Leben hören, das mit jedem Atemzug mehr und mehr dahinschwand.

Schließlich war der Junge heran und legte, ohne zu zögern, seine Hand auf den Hals des Tieres. Der Hirsch grunzte und schmatzte mit dem Kiefer. Er versuchte wohl, seinen Kopf zu drehen, was wegen des Geweihs nicht ging.

Herb rutschte herum und blickte in die bereits glasig werdenden Augen des Hirschs. Streichelte ihm über die Nüstern und flüsterte leise beruhigende Worte.

Das Tier schnaubte und Herb war sich sicher, dass in diesem Moment für den Hirsch alles gut war. Alles war gesagt und verziehen. Das Leben wich aus ihm. Die Beine zuckten ein-, zweimal, dann war der Hirsch tot.

Stille herrschte. Nicht einmal die Fliegen hörte Herb summen. Fast schon war ihm, als sei er selbst, gemeinsam mit dem Hirsch in die ewigen Jagdgründe übergewechselt. Er musste an die Indianer denken, jene aus den Karl-May-Filmen, die er aus dem Fernsehen kannte: Winnetou und das Halbblut Apanatschi. Er hatte den Film erst vor wenigen Tagen gesehen. Sein Onkel hatte ihm erklärt, dass die Filme auf keinerlei Wahrheiten beruhen würden und Karl May keine Ahnung vom Wilden Westen gehabt hätte – aber er schaffte es nicht, die intakte Fantasie des Achtjährigen zu beseitigen. Die Filme funktionierten und für Herbert waren sie der Inbegriff jeglicher Wildwest-Romantik, die nun, in diesem Moment der tote Hirsch verkörperte.

Doch seine natürliche Imaginationskraft wurde durch neue Geräusche gestört. Er hörte knackende Äste und Stimmen, die Flüche ausstießen.

Rasch zog sich der Junge hinter seinen Freisitz zurück, von wo aus er bereits zuvor den Hirsch beobachtet hatte. Nun konnte er durch das Gestrüpp aus Ästen und Stroh, über den toten Körper des Hirschs hinweg zwei Männer erkennen, die sich dem erlegten Tier näherten.

Der eine trug ein gängiges grünes Jägeroutfit und eine Flinte unterm Arm. Auf dem Kopf hatte er einen Hut mit Gamsbart, auf dem diverse Jagdanstecknadeln prangten. Sein Alter zu schätzen, war für Herb ein Ding der Unmöglichkeit. Er konnte ja noch nicht einmal sagen, wie alt Onkel Sedlitz war. Der Jäger aber war zweifellos älter als sein Onkel.

Der andere indes war um einiges jünger und trug im Gegensatz zum Jägersmann gewöhnliche Kleidung: Turnschuhe, Jeans und ein Polohemd mit dem Emblem des Krokodils darauf. Herbert erkannte das sofort. Er hatte kurzes blondes Haar und trug ebenfalls ein Gewehr. Vielleicht war es der Sohn des Jägers, überlegte er.

Was ihn aber wirklich verwunderte, war das Fehlen eines Jagdhundes. Für gewöhnlich führten Jäger doch immer einen Hund bei sich, doch in diesem Fall hatte er nicht einmal das entfernte Bellen eines solchen vernommen. Vergeblich suchte Herb weiter die Lichtung ab.

Nichts.

Als die beiden ungleichen Jäger heran waren, zog er sich tiefer hinter sein selbstgebautes Versteck zurück und konnte nur noch hoffen, dass keiner neugierig genug war, um zu ihm auf die andere Seite zu kommen. Und wenn einer der beiden pinkeln musste? Vorsorglich schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass dem nicht so sein würde und hielt die Luft an, da die beiden nun nahe genug waren, so dass er ihre Stimmen verstehen konnte.

»Zwischen die Augen, sage ich immer. Da ist die Sache gleich erledigt.«

»Du Narr. Dafür benötigst du andere Patronen. Das Beste ist immer noch ein ordentlicher Blattschuss.«

»Ja, ja, das schadet auch dem Wildbret nicht.«

»Das Tier wäre sofort tot gewesen. Jetzt hat es sich bis hierher zur Lichtung geschleppt und wäre irgendwo auf der anderen Seite im Unterholz jämmerlich verblutet.«

»Wir haben es ja gefunden.«

»Ich habe es gefunden. Und ich habe seinem Leid auch ein Ende bereitet.«

»Ist ja gut jetzt! Komm, hier. Das ist der Auslöser.«

»Ah ja, okay. Stell dich mehr links vom Kopf auf. Ja.«

Herbert hörte das Klicken eines Fotoapparates.

»Nun knie dich zu ihm und pack ihn am Geweih.«

»So?«

»Perfekt.«

»Gut. Danke.«

Es folgte eine Redepause. Die Jäger hantierten mit irgendetwas, aber Herb traute sich nicht, durch das Blattwerk zu linsen. Zu groß war seine Angst, entdeckt zu werden.

Er vernahm ein gluckerndes Geräusch. Plötzlich füllte sich die Luft mit dem intensiven Geruch von Eisen.

»Was wird das?«, hörte er den einen sagen.

»Ich schneide dem Vieh die Kehle auf, damit wir sein Blut trinken können.«

»Das ist doch pervers. Ich mach das nicht.«

»Doch, das wirst du. Es ist das Beste und gehört zum Jägerwerden dazu.«

Der Autor
Tobias Bachmann wurde 1977 in Erlangen geboren und lebt seit 2009 mit seiner Familie in einer kleinen Ortschaft im Fränkischen Seenland. Seit 1998 veröffentlichte er weit über fünfzig Erzählungen und zehn Romane, darunter Dagons Erben, der als bester deutschsprachiger Horrorroman 2009 mit dem Vincent Preis ausgezeichnet wurde. Seine Erzählung Die letzte Telefonzelle wurde 2011 für den Deutschen SF-Preis nominiert, sein Buch Liebesgrüße aus Arkham erhielt 2017 den Vincent Preis als beste Storysammlung.

Der »Franconian master of horror« schreibt mit Vorliebe düstere Phantastik, aber auch Krimis, Thriller und Erotica werden von ihm umgesetzt.

Schon seit frühester Jugend war Tobias Bachmann als Keyboarder und Sänger in verschiedenen regionalen Rock- und Metalbands tätig. Nach längerer Bühnenabstinenz gründete er 2011 gemeinsam mit dem Gitarristen Florian Betz das Betz-Bachmann-Syndrom, bei dem er als Pianist und mit tiefer Stimme seine dunklen Themen umsetzt. 2014 erschien mit Der Ruf des Nachtmahrs das Debüt der Gruppe, die sich ein Jahr später mit Jupp Colt am Bass zum Trio ausweitete. Das nächste Album ist in Arbeit.

Nebenher bestreitet Bachmann das Soloprojekt Dunkelpoet und zeichnet sich für mehrere Filmsoundtracks verantwortlich. Auch als Hörbuchsprecher war er bereits aktiv.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Autors