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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 5

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Die Familie Fereol

In einiger Entfernung von der Stadt Langogne, welche selbst auf einem der höchsten Plateaus der Lozère liegt, beginnt eine Gebirgskette, welche durch mehrere Verzweigungen mit den Alpen und Cevennen zusammenhängt. Man nennt sie den Mézenc.

Wie die anderen Gebirgsketten des Velay und des Vivarais besteht sie aus einer Reihe von seit Jahrtausenden erloschenen Vulkanen. Es wäre unmöglich, einen unebeneren, mehr mit natürlichen Hindernissen angefüllten, mit einem Wort schwerer zugänglichen Boden zu finden.

Überall sieht man steile Gipfel und scharfe Grate, Lavaströme, welchen ihre plötzliche Erkaltung seltsame Formen gegeben hat; überall Abgründe, tosende Wasserfälle und Seen, die sich in den Kratern ehemaliger Vulkane gebildet haben.

Mit Ausnahme einiger Täler und begünstigten Abhänge ist diese Gegend kahl und unfruchtbar. Ihr Reichtum besteht in Weideplätzen, welche zahlreichen Herden Nahrung geben, und in Kastanienbäumen, deren Frucht beinahe die einzige Hilfsquelle der Bewohner ausmacht.

Auch sind die Gebirgsbewohner des Mézenc außerordentlich arm und halb wild. Der Mangel und die Abgeschiedenheit haben sie wild, zänkisch und ungesellig gemacht. Selbst heutzutage noch, wo doch so viele Einwirkungen auf ihren traditionellen Charakter tätig sein können, sind sie neidisch, rachsüchtig und stets bereit, die geringste Beleidigung durch einen Messerstich zu vergelten. Mit einem Wort, es ist, als ob ihre unzähmbare Gemütsart mit der rauen und rohen Natur des Landes übereinstimmte, in welchem sie geboren sind.

In einem der einsamsten Täler dieses Bezirkes stand eine isolierte Meierei, deren Bewohner sich ausschließlich mit der Viehzucht zu beschäftigen schienen, denn es war ringsumher kein des Anbaues fähiger Boden zu sehen.

In dieser armseligen elenden Wohnung, die von allen Seiten durch Tannenwaldungen und Basaltgebirge beherrscht wurde, werden wir bald gewisse wichtige Personen unserer Geschichte wiederfinden.

Gegen den Abend des dritten Tages, nachdem Leonce die Abtei Frontenac verlassen hatte, saßen der Meier und seine Familie auf einer Bank vor der Tür des Hauses. Sie beendeten eben ihr Abendbrot, welches für jeden aus einer hölzernen Schüssel voll in Milch gekochten Kastanienbreis bestand.

Der Vater, in einen Rock von grobem Tuch mit Weste und Beinkleid von demselben Stoff gekleidet, mit einem aufgekrempten Hut auf dem Kopf und Holzschuhen an den Füßen, war ein Mann von fünfzig Jahren, mürrischem Gesicht, kalten Manieren und schweigsamer Miene.

Seine Familie bestand aus seiner Frau, einer kräftigen Bäuerin, deren vorn geschnürtes Mieder und Haube mit herabhängenden Seitenlappen weder Sauberkeit noch Frische verrieten, aus seiner Tochter, einer rohen, schmutzigen, kleinen Dirne von etwa zwölf Jahren, und endlich seinen beiden Söhnen, stämmigen Burschen von achtzehn oder zwanzig Jahren, ziemlich wie ihr Vater gekleidet und schon ebenso finster und schweigsam wie er.

Alle diese Leute sprachen kein Wort und man hörte kein anderes Geräusch als das der Löffel in den dampfenden Holzschüsseln.

Zu einer anderen Jahreszeit hätte man glauben können, dass diese Leute an der Schwelle ihrer Tür die freie Luft zu atmen wünschten, ehe sie sich dem Schlaf überließen. Die Kälte war aber nicht unbedeutend und ein scharfer Wind wehte von dem Gebirge her. Eine leichte Schichte Schnee bedeckte schon den Boden und hatte nicht gestattet, an diesem Tage die Tiere, welche man in den Ställen sich rühren hörte, auf die Weide zu treiben.

Die Gebirgsbewohner hatten daher einen anderen Grund, um das große Feuer zu vernachlässigen, welches im Inneren des Hauses prasselte, und so trotz des rauen Windes im Freien zu soupieren.

In der Tat folgten auf dem Abhang eines Hügels, welcher dem Haus gegenüber lag, vier Reisende zu Pferde einem durch die Viehherden unregelmäßig gezogenen schmalen Weg.

Dieser Weg führte zur Meierei und verlängerte sich nicht darüber hinaus. Die Reisenden kamen daher notwendig zur Meierei. In Betracht der Einsamkeit, in welcher diese Familie lebte, musste ein solches Ereignis ihre Neugier in hohem Grad erregen.

Von den vier Personen, von welchen wir gesprochen haben, ritten zwei voran und schienen Herren zu sein, während die beiden anderen augenscheinlich untergeordneten Standes waren.

Alle aber waren gut nach städtischer Weise gekleidet und mit Kugelbüchsen und Hirschfängern bewaffnet. Um sie herum sprangen mehre große Hunde, deren dunkle Farbe sich schon von Weitem gegen den Schnee abhob.

Es war dies in der Tat ein sehr interessanter Anblick für diese rohen Naturkinder, welche seit undenklichen Zeiten keinen solchen Zufluss von Stadtbewohnern in ihren Wüsteneien gesehen hatten. Sie warteten daher mit ihren Holzschüsseln in der Hand, ohne nur eine Sekunde lang die Augen abzuwenden, um sich nicht den geringsten Umstand von dem entgehen zu lassen, was geschehen würde.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Ein vollkommen berittener Kavalier, welcher der Anführer des Trupps zu sein schien, ritt seinen Begleitern voran und kam allein auf die Meierei zu. Nach wenigen Augenblicken befand er sich dicht vor den immer noch unbeweglich an der Schwelle stehenden Gebirgsbewohnern.

»Meine Freunde«, sagte er im Patois des Gévaudan, welches sich sehr wenig von dem des Mézenc unterschied, »ist hier nicht die Meierei Motte-Rouge, von dem Meier Guillaume Fereol bewohnt, welchen man das Schwert des Gerechten nennt?«

Der Hausvater antwortete in rauem Ton: »Ja, Ihr seid hier in Motte-Rouge und ich bin Guillaume Fereol. Was den Beinamen Schwert des Gerechten betrifft, den man früher meinem Großvater gab, so würde ich mich für unwürdig halten, denselben zu tragen.«

Der Reisende schien auf diese letzten Worte nicht zu achten. » Wohlan denn, Freund Fereol«, hob er wieder an, »gewährt mir und meinen Leuten ein gastfreies Obdach für diese Nacht. Ich kann mich auf Euren Gutsherrn, Herrn von Langrac, beziehen, den ich früher sehr gut gekannt habe. Übrigens werde ich die Mühe, die ich Euch verursache, reichlich bezahlen.«

»Ich habe keinen Herrn«, entgegnete der Bergbewohner mit einem gewissen Grad von wildem Stolz, »und meine Tür steht jedem offen, der, mag er reich oder arm sein, im Namen Gottes eintritt. Kommt daher herein. Es ist Platz an meinem Herd für Euch und die Euren. Eure Tiere werden in meinem Stall Streu und Heu finden. Ich kann Euch vielleicht nicht nach Eurem Stand aufnehmen, denn ich bin arm wie die Witwe von Sarepta, aber das Wenige, was ich habe, gehört dem Gast, den der Herr mir schickt.«

»Sehr gut, mein Freund«, sagte der Reisende. »Wir sind Jäger und werden uns nicht schwierig zeigen. Übrigens haben wir auch einige Lebensmittelvorräte bei uns und gedenken nicht, eine Hungersnot in Eurem eigenen Haus herbeizuführen.«

Gleichzeitig stieg der Baron von Laroche-Boisseau, den der Leser ohne Zweifel schon erkannt hat, ab und winkte seinen Begleitern. Diese kamen herbei. Es waren Legris, Fargeot und der Piqueur Labranche, alle sehr hungrig und müde von einem sehr langen Marsch in den Gebirgen.

Die Familie Fereol erschöpfte sich nicht in übertriebenen Beweisen von Höflichkeit, wohl aber setzte sich auf einen Wink des Vaters alles in Bewegung, um die Ankommenden zu empfangen und ihnen die Honneurs des Hauses zu machen.

Die Pferde wurden in den Stall geführt, wo sie vom frisch duftigen Futter fressen konnten, so viel ihnen beliebte. Die Hunde, welche schon angefangen hatten, sich mit denen der Meierei herumzubeißen, wurden mit Ausnahme des Lieblingsspürhundes in einen Schweinekoben gesperrt, wo ein grober aber reichlicher Futterbret sie für ihre Gefangenschaft entschädigte.

Was die Gäste selbst betraf, so führte Fereol sie in das Haus. Mehrere Scheite Tannenholz wurden in das Feuer geworfen und dann, während die Reisenden sich erwärmten, beschäftigten die Mutter und die Tochter sich flink mit den Zubereitungen zum Abendbrot.

Diese Zubereitungen waren bescheiden. Alle Vorräte bestanden in Speck, Käse und Kastanien und an Getränk gab es weiter nichts als Wasser. Zum Glück hatten Laroche-Boisseau und ganz besonders Legris diesen Fall vorgesehen. Kaltes Fleisch und andere auserlesenere Lebensmittel als die des Hauses wurden ausgepackt und auf dem Tisch ausgebreitet.

Es dauerte nicht lange, so nahmen sämtliche Reisende, Herren und Diener, brüderlich teil an diesem Schmaus, der durch Müdigkeit und Hunger gewürzt wurde.

Mittlerweile war die Nacht eingebrochen und eine kleine eiserne Lampe gesellte ihren Schein zu dem des Kaminfeuers. Die Tür war geschlossen und der Wind pfiff um das Dach herum.

Während die Reisenden aßen, beendeten die verschiedenen Mitglieder der Familie Fereol ihre Arbeit im Haus, wobei sie einen furchtbaren Spektakel mit ihren Holzschuhen machten, und setzten sich dann hinter die Gäste. Man lud sie ohne Umstände ein, an der Mahlzeit teilzunehmen. Sie weigerten sich aber mit ernster Miene. Nur der Vater nahm zum Zeichen der Gastfreundschaft ein Glas Wein an, setzte es aber wieder auf den Tisch, nachdem er bloß die Lippen benetzt hatte.

Diese seltsamen Manieren hatten mehrmals Legris’ Heiterkeit erweckt. Laroche-Boisseau drängte aber durch seinen strengen Blick den Spott oder das Gelächter zurück, welches ihre Wirte, die ohne Zweifel nicht viel Scherz verstanden, hätte verletzen können.

Nachdem die Mahlzeit beendet war, wollte der Baron sich in ein genaueres Gespräch mit den Bewohnern der Meierei einlassen.

»Nun, Meister Fereol«, hob er in vertraulichem, freundschaftlichem Ton an, »Ihr wohnt hier kaum eine oder zwei Stunden vom sogenannten Sprungwald entfernt, wo sich jene schreckliche Bestie des Gévaudan zum letzten Mal gezeigt hat. Könnt Ihr mir vielleicht sagen, ob sie seit kurzer Zeit die Gegend verlassen hat?«

»Nicht, dass ich wüsste, Monsieur.«

»Man versichert sogar, sie sei verwundet?«, fuhr Laroche-Boisseau fort, »und dies wäre für uns die günstigste Gelegenheit, denn Ihr habt ohne Zweifel schon erraten, Freund, dass wir in den Mézenc kommen, um auf die Bestie des Gévaudan Jagd zu machen.«

Etwas, das viel Ähnlichkeit mit einem Lächeln hatte, umspielte Fereols Lippen. »Allerdings«, hob er an, »hat man mir erzählt, da sie von einem Forsthüter von Langnac getroffen worden sei. Aber mag das Untier nun getroffen worden sein oder nicht, Ihr Herren, so würdet Ihr jedenfalls besser tun, auf Euer Unternehmen zu verzichten.«

»Wie, lieber Freund«, fragte Legris in spöttischem Ton, »solltet Ihr auch zu denen gehören, welche das Tier für unverwundbar halten?«

»Ich halte es nicht für unverwundbar, Monsieur, «entgegnete Fereol wärmer werdend, »denn ich habe mit meinen eigenen Augen die Spuren seines Blutes auf dem Schnee der Margeride gesehen. Eine Menge Schützen haben es sogar unter ihren Kugeln fallen sehen and geglaubt, es getötet zu haben, aber dennoch kam es zwei oder drei Tage darauf furchtbarer und kräftiger als je wieder zum Vorschein. Seine Wunden hatten sich geschlossen. Es hatte die Kugeln, welche seine Haut durchlöcherten, wie Erbsen von sich geschüttelt, es hatte seine Kraft und seine Wildheit wieder gefunden. Was bedarf es mehr?«, fuhr er mit einem gewissen Grad von Heftigkeit weiter fort; »und zeigt sich hierin nicht der Finger Gottes? Ist es nicht so augenscheinlich, als es sterblichen Augen nur sein kann, als ob dieses furchtbare Tier uns zur Züchtigung für unsere Sünden gesendet wurde, dass es als eine Geißel losgelassen worden war, um den Unglauben, die Lauheit, die Laster und die Gräuel dieser vornehmen Generation zu strafen? Wahrlich, ich sage Euch, mit Euren Kugeln und Flinten, mit Euren Hirschfängern und Messern werdet Ihr diesen Boten der göttlichen Rache nicht töten, sondern nur durch Gebet und Fasten. Kehrt zu Gott zurück, Ihr Gottlosen, und die Bestie wird wieder in den Abgrund hinabgeschleudert werden, aus welchem sie gekommen ist.«

Die übrigen Mitglieder der Familie nahmen diese halb biblische Strafpredigt Fereols mit ehrerbietiger Neigung des Kopfes auf. Legris, der einen Augenblick lang ganz betroffen war, wollte abermals ein lautes Gelächter aufschlagen, als eine Gebärde von Laroche-Boisseau ihn noch rechtzeitig bewog, zu schweigen.

»Meister Fereol«, hob der Baron wieder an, »Eure Worte bestätigen die Vermutung, auf welche mich der Anblick der vergoldeten Bilder gebracht hat, welche Eure Frau und Eure Tochter am Hals tragen. Ihr und Eure Familie gehört sicherlich der protestantischen Religion an, nicht wahr?«

Der Herr des Hauses richtete sich stolz in die Höhe. »Was geht das Euch an?«, fragte er. »Habe ich, als ich Euch als meinen Gast und Freund in mein Haus aufnahm, gefragt, ob Ihr und die Euren der stolzen Kirche von Rom oder den armen und zerstreuten Mitgliedern der streitenden Kirche angehört? Aber«, fuhr er in rauem Ton fort, »ich werde niemals meinen Glauben noch meinen Gott verleugnen. Meine Väter wohnten mit der Flinte auf der Schulter und die Hand am Säbelgriff der Predigt bei. Meine Söhne und ich würden bereit sein, es ebenso zu machen wie sie.«

Sein Enthusiasmus spiegelte sich in den Augen der beiden Söhne und selbst in denen seiner Frau und seiner Tochter, welche ihn schweigend anhörten.

Man befand sich augenscheinlich bei den Nachkommen jener furchtbaren Sektierer, welche sechzig Jahre früher unter dem Namen der Kamisarden die Cevennen mit Blut überschwemmten. Genötigt, die großen Mittelpunkte der Bevölkerung zu meiden, wo die königlichen Edikte ihnen die öffentliche Ausübung ihrer Religion untersagten, hatten die Empörer sich in die unzugänglichsten Gegenden des Landes geflüchtet und sich darin festgesetzt. Seit dieser Zeit erstreckte sich die Toleranz der Regierung über sie. Trotz der Strenge der noch in Kraft bestehenden Ordonnanzen bekümmerte man sich nicht allzu sehr um das, was in diesen Einöden vorging. Deshalb hatten die protestantischen Gebirgsbewohner ihren früheren unbezähmbaren Fanatismus bewahrt, einen Fanatismus, der umso exaltierter war, als die Verfolgung jeden Augenblick sich gegen sie wieder erneuern konnte.

»Ihr irrt Euch, Meister Fereol«, hob der Baron in ernstem Ton wieder an. »Es liegt durchaus keine Unbescheidenheit in meinen Worten. Doch eben fällt mir ein: Wurde dieser Beiname Schwert des Gerechten,  den man Eurem Großvater gab und den man heute noch Euch gibt, nicht von einem tapferen Parteigänger getragen, welcher zur Zeit Berwick’ und Villars die Leiden des frommen und biederen Pierre von Varinas teilte?«

Der Meier richtete den Kopf empor. »Ihr habt es gesagt, Monsieur«, antwortete er. »Mein Großvater war eben jener treue Diener, welcher den Grafen, seinen Herrn, während der Verfolgung niemals verließ und lange Zeit mit ihm die Varinasgrotte bewohnte. Sie lebten von Wurzeln und wilden Früchten. Sie schliefen auf ihre Flinten gestützt. Zwanzig Mal sendete man Dragoner aus, um sie gefangen zu nehmen, aber sie entrannen allemal durch ihre Gewandtheit und Unerschrockenheit. Mein Großvater, Schwert des Gerechten, den ich während meiner Kindheit gekannt habe, erzählte in meiner Gegenwart oft die Ereignisse jener grausamen Zeit. Ich selbst habe sie später oft meinen Kindern wiedererzählt, denn wir armen Leute sind dem Glauben unserer Väter, dieser standhaften Märtyrer, treu geblieben, während die Herren von Varinas …«

»Ihr wollt«, sagte der Baron, »von dem letzten Grafen von Varinas sprechen, der, nachdem er katholisch geworden war, auf erbärmliche Weise in der Abtei Frontenac starb. Er wurde aber für seine Abtrünnigkeit grausam gestraft, Meister Fereol, und das Aussterben seines Stammes ist vielleicht eine Strafe des Himmels gewesen. Es kann Euch nicht unbekannt sein, dass die jüngere Linie der Varinas ihren Glauben gewissenhaft bewahrt hat, und dieser, Fereol, bin ich stolz darauf anzugehören, denn auch ich stamme von jenem unerschrockenen Varinas ab, von welchem Ihr soeben spracht. Ich bin der Baron von Laroche-Boisseau.«

Diese Mitteilung schien auf den Sektierer nicht die ganze Wirkung hervorzubringen, welche der Baron vielleicht erwartete. Die Frau und die Kinder dagegen konnten sich einer Bewegung der Überraschung und Ehrerbietung nicht enthalten. Fereol erhob sich.

»Ich will Euch nicht verschweigen, Herr Baron«, sagte er, »man hat mir von Euch als von einem Mann erzählt, der lau ist in seinem Glauben und sein Erbteil mit den Töchtern der Heiden verprasst. Doch gleichviel! Es ist ein Fest, wenn das Haus des Schwertes des Gerechten den frommen Nachkommen des Grafen von Varinas empfängt. Gesegnet sei dieser Tag!« Er küsste seinem Gast die Hand. Sämtliche Mitglieder der Familie traten nach der Reihe heran, um dem Baron dieselbe Huldigung zu erweisen. Dieses Zeremoniell wurde mit jener puritanischen Steifheit ausgeführt, welche alle Bewegungen der Fereols charakterisierte. Legris aber fiel es nicht mehr ein, darüber lachen zu wollen. Er war höchst betroffen von dem neuen Ernst, welchen sein Gönner zur Schau trug.

Laroche-Boisseau schien sich in der Tat geduldig der Laune seiner Glaubensgenossen anzubequemen. »Mein lieber Fereol«, hob er wieder an, »Ihr müsst Euch gegen die Protestanten der Städte nicht allzu streng zeigen. Die königlichen Edikte verstehen keinen Scherz. Wenn wir nicht mit Klugheit zu Werke gingen … aber ich sehe, Ihr runzelt schon wieder die Stirn. Lassen wir daher einen Gegenstand ruhen, über den wir uns vielleicht niemals verständigen würden. Ich will einig mit Euch leben, Meister Fereol, wie es Glaubensgenossen geziemt, und muss Euch vor allen Dingen fragen, ob wir morgen auf Euren Beistand rechnen können. Ich werde eines Führers bedürfen, welcher die Gegend genau kennt, um zu dem sogenannten Sprungwald zu gelangen, in welchen sich, wie man sagt, die Bestie des Gévaudan geflüchtet hat.«

»Also, Herr Baron, Ihr beharrt auf diesem unsinnigen und vielleicht gotteslästerlichen Unternehmen? Ich sage Euch nochmals, dass keine fleischliche Waffe gegen dieses Ungeheuer etwas ausrichten wird. Die Kugeln werden ohnmächtig sein, das Eisen wird sich auf seiner Haut abstumpfen, denn es hat von Gott eine Mission der Rache und Vertilgung empfangen. Doch, es sei«, fuhr Fereol in verändertem Ton fort, »Ihr sollt Euren Wünschen gemäß bedient werden. Hier steht Ruben, der älteste meiner Söhne, der Euch morgen zum Sprungwald führen wird. Vielleicht entschließe ich mich, Euch selbst zu begleiten.«

Ruben, ein schöner Jüngling von beinahe kolossalem Wuchs, gab durch eine Gebärde zu verstehen, dass er diesen Befehl vernommen und ihn pünktlich ausführen würde.

Der Baron dankte dem Vater und dem Sohn.

»Das ist aber noch nicht alles, * fuhr er fort. »Ich suche auch einen Menschen, dessen Entdeckung für mich vielleicht eben so viel Interesse hat, als die des Tieres selbst.

Dieser Mensch kann auch von dem Tiere nicht weit entfernt sein. Es handelt sich nämlich um einen Mann aus dieser Gegend, der lange in den Gebieten von Varinas und Mercoire gewohnt hat, aber seit einigen Tagen zum Mézenc zurückgekehrt zu sein scheint. Er hat den Verstand verloren und treibt sich in den Wäldern umher. Er heißt Jean Peyra, ist aber mehr unter dem Namen Jeannot mit den großen Zähnen bekannt. Könntet Ihr, mein lieber Fereol, mir vielleicht über diesen Menschen einige Aufschlüsse erteilen?«

Diese Frage brachte auf die protestantische Familie einen gewissen Eindruck hervor. Nur das Haupt derselben bewahrte seine Kaltblütigkeit.

»Herr Baron«, sagte Fereol nach kurzem Schweigen, »seid Ihr, ehe Ihr Euch hierher zu mir begeben habt, nicht in der Schäferei Grandsaigne eingekehrt, welche eine Stunde von hier auf der anderen Seite des Gebirges liegt?«

»Nein, wir kommen geraden Weges von Langogne, wo man uns Eure Wohnung als die Nächste am Sprungwald bezeichnet hat. Aber wozu diese Frage, Fereol?«

»Weil heute Morgen in Grandsaigne ein Trupp Jäger eingetroffen ist, welche gerade wie Ihr die Absicht aussprachen, die Bestie zu verfolgen und die Spuren Jeannots mit den großen Zähnen aufzufinden. Martin, der Meier von Grandsaigne, hat mir dies nicht ganz zwei Stunden vor Eurer Ankunft bei mir gemeldet und mich gleichzeitig um Rat über Dinge gefragt, die … nur mich etwas angehen. Ihr seid also nicht bei Fremin eingekehrt?«

»Durchaus nicht«, sagte der Baron mit Aufregung, »und ich möchte wohl die unverschämten Jäger kennen, die uns auf diese Weise nachschleichen.«

»Was, Ihr erratet sie nicht?«, rief Legris. »Es ist der Neffe des Priors, das Lamm, wie Ihr ihn nennt! Ich hatte Euch schon gemeldet, dass er nächstens ins Feld rücken wollte. Er hat seinen Vorsatz ausgeführt.«

»Wisst Ihr das gewiss, Legris? In der Tat, es wäre möglich, aber wenn ich mir auch das Interesse erkläre, welches er daran haben kann, Jagd auf den Wolf zu machen, so begreife ich doch nicht die Beweggründe, die ihn veranlassen, Jeannot aufzusuchen.«

»Na, infolge der Gerüchte, welche in Bezug auf die vertraute Freundschaft des Wolfes und des Wahnsinnigen in Umlauf sind, hat man sehr wohl sich nach dem einen erkundigen können, um den anderen ausfindig zu machen.«

»Das ist möglich«, sagte der Baron mit nachdenklicher Miene. »Dies ist eine Konkurrenz, die mir nicht gefällt, obwohl dieser Monsieur Leonce mir nicht sehr furchtbar zu sein scheint. Ohne Zweifel hat er die Absicht, die Jagd morgen früh zu beginnen. Wir werden ihm daher zuvorkommen müssen.«

»Wir können ja aufbrechen, noch ehe es Tag wird, wenn es sein muss.«

Fereol hatte dieses Zwiegespräch ruhig mit angehört.

»Nun, mein lieber Wirt«, hob der Baron wieder an, »wisst Ihr nichts von diesem Jeannot, den ich eben im Interesse unseres gemeinsamen Glaubens sehr wünsche, ausfindig zu machen?«

Fereol zögerte einen Augenblick. »Herr Baron«, sagte er endlich, »Jean Peyra ist ein weitläufiger Verwandter von mir und ich habe Kenntnis von dem Ort, wo man ihn vielleicht antreffen könnte. Aber ich würde mich lieber in Stücke reißen lassen wie die sieben Makkabäer, als seinen Schlupfwinkel verraten, dafern ich nicht weiß, was man von ihm erwartet.«

Laroche-Boisseau erzählte ihm den Streit, der sich wegen der Erbschaft von Varinas erhoben hatte, und versuchte ihm zu beweisen, dass es für die protestantische Sache von der höchsten Wichtigkeit sei, dass dieses Vermögen zum Nachteil der habgierigen Mönche von Frontenac wieder seinen rechtmäßigen Erben zufalle. Durch diese geschickt angelegte Erzählung wurde der ganze Fanatismus des Bergbewohners erweckt.

»Schmach über die Kirche von Rom!«, rief er. » Seit wann soll die Habe der Kinder Gottes in die gierigen Hände der Kinder Ismaels fallen? Mein Leben und das meiner ganzen Familie würde ich aufs Spiel setzen, Herr Baron, um Euch in dieser schönen Sache Gerechtigkeit zu verschaffen. Unglücklicherweise aber, fürchte ich, wird mein Verwandter nicht mehr imstande sein, zu Euren Gunsten Aussagen zu erstatten, denn die Verirrung seines Verstandes scheint unheilbar zu sein. Vor ungefähr einem Monat kam er hier vorüber und setzte sich vor unserem Hause nieder, welches er früher sehr häufig besuchte. Meine Kinder fürchteten sich vor ihm und wagten nicht, sich ihm zu nähern. Als ich von der Weide nach Hause kam, fand ich ihn noch an derselben Stelle. Ich erkannte ihn sofort trotz seiner Lumpen und seines Elendes. Er erkannte mich auch, aber ich konnte aus ihm nur unzusammenhängende Worte, von blödsinnigem Gelächter begleitet, herausbringen. Er weigerte sich, mit zu mir hereinzukommen. Als man ihm aber Nahrungsmittel brachte, warf er sich mit Heißhunger darüber her und verschlang sie in wenigen Augenblicken. Dann verließ er uns. Seit dieser Zeit irrt er in der Nachbarschaft umher und lebt, man weiß nicht, wovon. Wir begegnen ihm oft, aber er flieht stets bei unserer Annäherung und schlägt sich in das Gestrüpp hinein, wo man ihm nicht folgen kann. Dennoch aber lasse ich, um unserer Verwandtschaft willen, von Zeit zu Zeit an den Orten, welche er besucht, Brot oder Kastanien hinlegen. Diese Lebensmittel sind am nächstfolgenden Tag allemal verschwunden. Ihr seht, Herr Baron, dass es nicht leicht sein wird, dieses armen Jeannot habhaft zu werden. Übrigens habe ich auch Grund zu glauben, dass es in gewissen Augenblicken sehr gefährlich sein wird, sich ihm zu nähern!«

»Ich will es aber wenigstens versuchen, Freund Fereol«, entgegnete der Baron. »Dort drüben sitzt jemand, welcher verspricht, sich diesem unglücklichen Tollhäusler nicht bloß zu nähern, sondern ihn auch vollständig zu zähmen, sobald man seine Spur aufgefunden haben wird. nicht wahr, Fargeot?«, fuhr er fort, indem er sich zu dem ehemaligen Oberforsthüter wendete, welcher sofort nach Beendigung der Abendmahlzeit sich in die Ecke des Kamins gesetzt hatte.

»Jawohl, jawohl, Herr Baron«, entgegnete Fargeot mit Zuversicht. »Dieser arme Teufel und ich, wir kennen einander schon lange, und ich kenne auch das Mittel, ihn zahm zu machen. Überhaupt war er früher gar nicht so wild, wie er jetzt ist, aber ich stehe dafür, dass er nicht fliehen wird, sobald er nahe genug ist, um mich zu erkennen oder auch nur meine Stimme zu hören.«

Der Bergbewohner verlangte in seiner übertriebenen Achtung vor den Banden des Blutes vom Baron das Versprechen, dass Jeannot, seinem Vetter, kein Leid zugefügt werden würde, und dass man ihn frei und ungehindert wieder gehen lassen wolle, sobald man seine Aussage angehört habe.

Dann wurde verabredet, dass Fereol und Ruben die Jäger den nächstfolgenden Morgen zum Sprungwald begleiten sollten, wo der Wahnsinnige, wie früher, im besten Einvernehmen mit der Bestie des Gévaudan zu leben schien.

»Sehr gut«, hob Legris wieder an, als man sich über verschiedene Einzelheiten verständigt hatte. »Was wir aber tun müssen, Baron, wollen wir schnell tun. Die Nachbarschaft dieses Monsieur Leonce und seiner Leute fängt an, mir sehr ärgerlich zu sein. Wenn der Wolf wirklich verwundet ist, so wird man sehr leicht mit ihm fertig werden. Es wäre von uns unverantwortlich, wenn wir uns zuvorkommen lassen wollten.«

»Nun, Legris«, sagte der Baron, »wir wollen ja beim ersten Tagesschimmer aufbrechen. Was wollt Ihr denn mehr?«

»Ich will nichts, Laroche-Boisseau, gar nichts«, entgegnete Legris verdrießlich. »Jetzt aber, wo gewisse andere Unternehmungen, die Euch am Herzen liegen, einen glücklichen Ausgang zu nehmen scheinen, finde ich Euch sehr lau gegen dieses. Ihr seid weit mehr mit Eurem Jeannot beschäftigt, als mit dem Wolf.«

Der Baron sagte ihm einige Worte in leisem Ton, um ihn zu beschwichtigen.

»Es ist gut, es ist gut! Aber morgen muss ich die Bestie des Gévaudan erlegen. Morgen werden wir sehen, welches Gewicht man auf Euer Wort legen kann.«

Er setzte sich mit schmollender Miene in den Kaminwinkel, während der Baron verächtlich die Achseln zuckte.

Übrigens dauerte die Abendunterhaltung nicht mehr lange. Die Reisenden waren vor Müdigkeit erschöpft und hatten es nötig, neue Kräfte für das kommende Tagewerk zu sammeln, welches allem Anschein nach ein sehr saures werden musste.

Der Baron von Laroche-Boisseau gab daher bald den Wunsch zu erkennen, sich zur Ruhe zu begeben. Ehe aber Fereol diesem Wunsch nachgab, forderte er ihn kaltblütig auf, sich dem Familiengebet anzuschließen, welches dem patriarchalischen Gebrauch eines jeden Abend zufolge eben stattfinden sollte.

Laroche-Boisseau fühlte wohl, dass eine Weigerung ihren Wirt beleidigen würde, aber seine Gefälligkeit ging doch nicht so weit, wenigstens anderthalb Stunden lang Gebete und Psalmen anzuhören. Er entschuldigte sich daher mit dem Schlaf, dessen er sich nicht erwehren könne, um von dieser Pflicht loszukommen, welcher er, wie er sagte, ohnehin in diesem Augenblick nicht mit der nötigen Sammlung würde nachkommen können.

Fereol runzelte die Stirn, dennoch aber begnügte er sich zu murmeln: »Es steht geschrieben: Das Gebet erfrischt, und fromme Betrachtung belebet den Geist! Gott verzeihe dem Sünder und dem Leichtfertigen!«

Einige Augenblicke später lagen die Reisenden, die einen in den Betten ihrer Wirte, die anderen im Heu des Stalles, wo der Atem der Tiere eine milde Temperatur unterhielt. Noch ein paar Stunden lang konnte man mitten unter dem Brüllen des Windes draußen die ernste und eintönige Stimme des Hauptes der Familie hören, welches seinen Kindern frommen Unterricht und weise Ermahnungen erteilte.