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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 2 – Kapitel 7

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Siebentes Kapitel

Der Dämon auf dem Dach

An der nördlichen Küste, von Kolberg weiter aufwärts, lag das Stammschloss der Grafen von Windeck-Wardeck, wohin wir nun den Leser ungesäumt führen müssen, um hiermit den Schauplatz der Entwicklung unserer Geschichte zu eröffnen, ein altes Feudalschloss aus den ersten Niederlassungen deutscher Stämme in dem rauen Gebiet der alten heidnischen Preußen und Litauer. Unweit des Meeres erhob der weitläufige Bau seine zeitgeschwärzten Zinnen aus einer dichten Waldung düsterer Föhren. Stürme brausten den größten Teil des Jahres hindurch über die unwirtliche Einöde. Ein starrer Frostmantel mit Eis und Schnee deckte die spärlichen Reize dieser nordischen Natur. Allein für den Liebhaber melancholischer Abgesondertheit waren diese Reize nicht verloren. Die stille, ernste, durch nichts gestörte Einsamkeit der nordischen Wälder bringt der Seele des Mannes, der müde wurde, indem er sich fruchtlos in der Welt umhertrieb, ein frisches und kühnes Behagen, das ihn nicht ergriff, als er vor den Palästen Roms stand und die Wunderwerke von Paris und London anstaunte. Die schauerliche Einöde des Meeres, in ihrer unwandelbaren und doch immer wechselnden Fläche, wirkt wie erhabener Gesang, den Prophetenstimmen in der Wüste singen, auf das Herz, das krank ist von der Eitelkeit und der ewigen Genusssucht der Zivilisation. Wir sehen die Denker und Philosophen, alter und neuer Zeit, solche Orte aufsuchen und einsame Wege mit dem Sohn jener kalten und starren Natur gehen. Unter der Brandung des Meeres, unter dem Geplätscher der kleinen Uferwellen und dem Gesäusel der Fichtengipfel ringt die Seele mit dem göttlichen Bewusstsein und wirft sich mit der ganzen stürmischen Zärtlichkeit eines Kindes ihrem Schöpfer in die Arme. Nichts belauscht hier die Heiligkeit eines so süßen Kusses, einer so demütigen und innigen Vereinigung. So sah man Kant an dem öden Meeresgestade in der Nähe von Königsberg wandeln und hörte ihn prophetische Worte in die Wellen murmeln. So ging er, der Schöpfer einer neuen Gedankenwelt, einsam und vom Geräusch der Kultur und der Gesittung weit entfernt, um ungestört das Sternbild der Ewigkeit anzuschauen und in dessen unergründliche Schöne sich geheimnisvoll und mit allen Kräften der Seele zu versenken. Das Meer hat seine Propheten und seine Wunder, die Öde hat ihre Götter und ihren Himmel! Wenn einmal die Tage kommen, armes Herz, wo du bis zum Tod gebeugt von der Selbstsucht und dem Trotz der Welt, die Wärme dieses Pulses sich verflüchtigen fühlst, wenn du fühlst, dass Ohnmacht und Kälte dich umspannen, o, dann flieh ans Meer, eile, die mitternächtlichen Stürme dein Haupt umrauschen zu lassen, flattere mit nacktem Fuß auf dem kalten Sandboden dahin und stimme ein in den Choral, den Fichtengipfel und Wellengetöse dir singen. Von dir abfallen wird das arge Wort, das dich verletzte, von dir niedergleiten wird das schlüpfrige, feuchte und eklige Gift, mit dem die Welt dich befleckte. Keusch, arm und liebend wird die Einsamkeit ihre Arme um dich schlagen, und jeder gequälte Nerv deines armen, gequälten Leibes wird an ihrem Busen gesunden.

Doch diese Betrachtungen wurden, wir haben guten Grund, dies anzunehmen, nicht von dem Reisenden angestellt, den wir auf einen elenden Karren gepackt, dort seine einsame, und durch ein anhaltendes Regenwetter grundlos gemachte Straße ziehen sehen. Es ist auch schwer, unter diesen ungünstigen Verhältnissen, die den armen Priester der Themis betroffen hatte, seine gute Laune und eine irgend leidliche Weltanschauung sich zu bewahren. In seinen Mantel gehüllt, eine Filzkappe über die Ohren gezogen, richtete Herr Lobmeyer abgespannte und müde Blicke auf seinen kleinen Wagenlenker, dem sichtlich die Kraft ausgeht, den mageren Gaul noch weiter zu spornen. Die Räder des Karrens schneiden tief in den aufgewühlten Sand, die Fichtenzweige hängen so niedrig, dass sie einen Teil des Regens, mit dem sie beschwert sind, willig auf Haupt und Schultern der unter ihrer Zuchtrute langsam fortkriechenden Reisenden schütteln. Es wird Abend, und noch ist das Licht der nächsten Station nicht zu bemerken. Der Doktor murmelt Flüche, der kleine Postillon weint, und der Gaul keucht. Endlich zeigt sich ein blasser Stern durch die Nacht, es ist der Stern der Hoffnung, und die drei Unglücksgefährten fassen bei seinem Anblick alle zugleich Mut. Der Stern wird größer, leuchtet schärfer, und beim Ausgang des Gehölzes sind mehrere Sterne sichtbar. Das Dorf ist erreicht. Beim melancholischen Brausen des Sturms und dem Knarren einer alten Hofpforte zieht der elende Karren vor die Tür der Dorfschenke, und der Reisende wickelt sich aus zwei Strohbündeln und einer alten Wolldecke hervor. Der kleine Führer empfängt sein Geld, und entfernt sich wieder mit seinem Pferd, denn er hat nur die Pflicht übernommen, bis hierher seinen Mann zu schaffen. Von hier aus ist’s nur noch eine halbe Meile bis zum Schloss. Der Karren bleibt als ein Eigentum des Doktors, und ehe die Nacht völlig einbricht, soll er von Neuem bespannt werden, um das Ziel vollends zu erreichen. Der Advokat begibt sich in die Gaststube, um mit dem Wirt zu unterhandeln.

Die Dorfschenke war für diese Gegenden stattlich und bequem. Da sie zum Versammlungsort der schönen Welt eines benachbarten Badeörtchens dient, so trifft man hier einen Tanzsaal, ein Speisezimmer, rote Vorhänge, und sogar Wachslicht. Allein, was man nicht trifft, ist ein Pferd, um es vor den Karren zu spannen. Die zwei Gäule des Wirts sind beschäftigt, die Gäste zu einem Picknick des heutigen Abends herbeizuschaffen. Der Reisende muss sich daher gefallen lassen, die Ausführung seines Plans auf den nächsten Morgen zu verschieben, auf eine Zeit, wo es, wie der Wirt versichert, auch viel schicklicher sein wird, vor seiner Gestrengen, dem General zu erscheinen. Der Wirt ist ein kleiner Mann mit einer geröteten Nase. Seine Frau ist eine so stattliche Figur, mit einem so unternehmenden Äußeren, dass ihr Herr Gemahl neben ihr nur wie ein Schulknabe aussieht, und zwar wie ein Schulknabe, der noch die Zuchtrute zu fürchten hat.

»Der Herr kommen doch nicht von Amtswegen?«, fragte der schüchterne Wirt, indem er das große Portefeuille des Gastes betrachtete. »Ich meine nur«, setzte er hinzu. »Weil unser Herr sich mit der Justiz überworfen hat.«

»Weshalb hat er sich denn mit der Justiz überworfen?«, fragte der Advokat.

»Es hat seine Gründe«, war die Antwort des kleinen Mannes. »Seine Gestrengen, der Herr Graf, sind ein paar Mal verklagt worden und haben Strafe geben müssen. Er ist etwas hitziger Natur, und liebt so das …« Hier machte der Mann eine Pantomime, die der Advokat auf seinen Rücken hatte beziehen können, so nah kam der aufgehobene Arm diesem Teil seines Körpers. »Überhaupt«, setzte der Wirt hinzu, »werden Sie wohl unseren General kennen. Er ist von Stettin bis Königsberg überall im Land genugsam bekannt.«

»Als was?«, fragte Herr Lobmeyer. »Ich kenne Euren Herrn nicht.«

»Und wollt doch mit ihm Geschäfte machen? Nun, Ihr werdet ihn kennenlernen.« Er warf seiner Frau, die mit dem Abendbrot erschien, einen Wink zu. Diese drohte ihm mit dem Finger, und der Advokat lächelte.

Mittlerweile kamen die Gäste des Picknicks an. Es waren Familien, die das Geld zur Hinreise ins Bad, aber keines zur Rückreise hatten finden können, und die deshalb die Luft auch im Winter sehr gesund fanden und denen die Nähe des Meeres, auch wenn sie nicht darin baden konnten, als sehr heilsam erschien. An diese überwinternde beau monde schloss sich ein kleiner Kreis der Honoratioren der Umgegend. Die meisten Beamten zogen es jedoch vor, ihre geselligen Zusammenkünfte anderswo zu suchen, denn sie hatten ihre Gründe, mit dem Grafen, dem das Dorf gehörte, nicht in zu nahe Berührung zu kommen. Sie bildeten ihre diplomatischen Zirkel in der Ressource eines entfernten Städtchens. Wie recht sie hatten, ein so vorsichtiges Benehmen sich zur Regel zu machen, bewies der betrübende Ausgang des heutigen Picknicks. Der General, wie er öfters zu tun pflegte, erschien auch diesen Abend plötzlich im Dorf, und mit ihm, kam die größte Verwirrung über die Versammlung.

»Bei meiner armen Seele, er ist richtig da!«, schrie der Wirt und stürzte in das Zimmer, wo der Advokat eben die Reste eines zähen alten Huhns zu überwältigen strebte.

»Wer ist da?«

»Seine Gestrengen, der Herr General. Ich werde Sie inständig bitten, mein Herr, dies Zimmer zu räumen und eine Treppe höher vorlieb zu nehmen. Seine Gestrengen lieben durchaus nicht, dass irgendjemand noch im Haus wohnt, wo er einzieht.«

Der Advokat verließ sein Zimmer. Im Vorsaal warf er einen neugierigen Blick auf den Wagen, der vor der Tür hielt. Es war ein leichtes Cabriolet, in dem ein Herr und eine Dame saßen. Beim Schein von einem halben Dutzend Fackeln erhob sich der Herr und stützte sich mit der ganzen Schwere seiner kolossalen Figur auf Arme und Rücken zweier Livreediener. Ihm folgte eine schlanke Frau in einem eng anschließenden Rock aus grünem Samt, der ihr bis an die Knie reichte, und ein schwarzes Untergewand aus Seide unten frei ließ, ein kleines Hütchen mit zwei weißen, bis auf die Schultern herab fliegenden Federn bedeckte den Kopf. Der schwarze Schleier war zurückgeschlagen, und ließ das frische, vom Wind gerötete Antlitz sehen, in welchem unter stark gewölbten Augenbrauen zwei schwarze Sterne funkelten. Der Herr schritt rüstig durch den Vorsaal, stieß die Tür heftig auf, warf sie eben so heftig wieder zu und nahm von seinem Zimmer Besitz. Die junge Dame folgte ihm ebenso rasch und mit ebenso heftigen Bewegungen. »Ein sonderbares Paar!«, murmelte der Advokat für sich, als er die Treppe in sein Dachstübchen hinaufstieg. Bald darauf sah er aus dem Fenster desselben die ganze Ballgesellschaft das Haus räumen und in eine nahe Scheune ziehen, die in der Eile für sie instandgesetzt worden war. Tumult und Lärm fand an allen Ecken statt. Die Bedienten des Generals warfen Personen und Dinge, was ihnen in den Weg kam, hinaus und säuberten das Haus mit einer bewundernswürdigen Schnelligkeit.

Herr Lobmeyer hörte einen dieser Burschen fragen: »He! Ist niemand Fremdes weiter hier im Haus?« Er vernahm darauf, wie seine Gegenwart auf das Feierlichste abgeleugnet wurde. Er konnte sich nicht erwehren, über diese Feigheit des Wirtes ein paar Flüche hinzumurmeln, indem er seine Nachtmütze hervorbrachte und die dünnen Haare mit einem Taschenkämmchen ordnete. Der Gescholtene trat herein.

»Sie machen schöne Streiche«, rief ihm der Advokat zu. »Ist denn Ihr General der König, dass ihm alles weichen muss?«

»Mehr als der König«, flüsterte der Wirt. »Er herrscht unumschränkt, und niemand wagt es, sich seinem Willen zu widersetzen. Sie sollten nur sehen, wie er seine Augen rollt, was das für ein Mann ist. Nun, die Gelegenheit hierzu ist Ihnen gegeben. Wenn Sie sich ans Fenster jenes Ganges stellen, das hinunter in den Tanzsaal weist, so blicken Sie in den Saal hinab, wo ich den Teetisch habe decken müssen und wo die junge Dame jetzt ihre kleinen Butterbrötchen zubereitet …«

»Wer ist diese junge Dame?«

»Die Gräfin! Die Enkeltochter des gestrengen Herrn, die er als Kind angenommen hatte, in die er ganz vernarrt ist und welche die reichen Güter von ihm erbt. Aber – entschuldigen Sie – es klingelt. Ich muss hinunter.«

Kaum war er fort, als sich Herr Lobmeyer an das bezeichnete Fenster verfügte. Es war absichtlich zu einer Art Loge für die Dienstboten eingerichtet, die hier der tausenden Versammlung unten zuzuschauen pflegten. Der Advokat hüllte sich in seinen Schlafrock, zog seine schwarzseidene Mütze tief ins Gesicht. Seine kleinen Augen nahmen einen stechenden, boshaft höhnenden Charakter an, als er sie herab auf die Gruppe, die sich unten gebildet hatte, richtete. Er glich einem Kobold, der im Dunkeln der Nacht von einem abschüssigen Dachrand ungestört in ein erleuchtetes Zimmer blickt und sich an dem Anblick irgendeiner verbotenen Szene weidet. Von Zeit zu Zeit nahm er eine Prise und nickte beifällig mit dem Kopf, dann fuhr er an die Nachtmütze, sie höher schiebend, wenn sie auf die borstigen Augenbrauen gesunken war.

»Du liebst nicht die Justiz«, murmelte er vor sich hin, »und hier sieht sie dir zu, hier richtet sie ihr scharfes und dir so gehässiges Auge auf dich. Aber nicht du bist es, den ich mir erwähle, auf Schönheit und Jugend schleudere ich die Waffe meines Blicks. Wahrhaftig!«, setzte der Kobold sein Selbstgespräch fort. »Sie ist sehr schön! Dieser Kopf, diese Schultern, dieser anmutsvolle Leib! Ein Wort von mir – haha! Und wohin sinkt diese Pracht? Haha! Wohin?«

Schon einmal haben wir dem Leser die Gestalt des Mannes vorgeführt, der hier unten in dem bequemen Lehnstuhl hingestreckt liegt, den reichen, mit Pelz verbrämten Überrock zurückgeschlagen, und die dampfend heiße Tasse vor den Mund haltend. Damals herrschte diese Ruhe, diese Sorglosigkeit nicht in den Muskeln dieses Antlitzes, und doch war es dasselbe Gesicht, und doch konnte ein Moment der Erregung jene drohenden Geister wieder hervorrufen, wenn auch nicht, wie damals, in ihrer vollen entsetzlichen Versammlung, wo kein Dämon ausgeblieben war, und alle auf den Ruf, der an sie ergangen, sich gestellt hatten. Eine große Bulldogge von der kräftigsten Rasse lag zu den Seiten des Stuhls, gleich einem Löwen, den mächtigen Kopf in scheinbarer Ruhe zu Boden gedrückt, aber lauernd gingen ihre Blicke umher, und keine Bewegung im Saal, so weit der Horizont ihrer Spürkraft reichte, entging ihrer Beachtung. Ein leises Knurren, das oft zu einem bellenden, heulenden Ton anwuchs, gab von dieser unausgesetzten Wachsamkeit Kunde. Hinter dem Stuhl stand ein Jäger, der die gestopfte Pfeife in der Hand hielt, und nur auf den Wink zu warten schien, wo er sie seinem Herrn hinreichen sollte. Der Teetisch war mit silbernem Gerät bedeckt, dessen kostbarstes Stück eine großbauchige, becherartige Mundtasse war, aus welcher der General trank. Das übrige Geschirr, dem Wirt gehörig, stach gegen die mitgebrachten Luxusartikel sehr ab. In der Ecke des Saals stand der Revierjäger mit einem unteren Forstbeamten und warteten in Demut ab, wann es ihrem Gebieter gefallen werde, die kurz hingeworfenen Fragen und Erkundigungen über den Bestand der Reviere fortzusetzen. In einiger Entfernung von ihnen standen einige Dorfobere und erwarteten ihrerseits Befehl. Allein der General schlürfte seinen Tee und sprach kein Wort. Es schienen ihn Gedanken anderer Art zu beschäftigen.

Er wandte sich um. Indem er die Pfeife entgegennahm, sagte er: »Also du hast sie erkannt?«

Der Diener versicherte, sich nicht geirrt zu haben.

»So geh hin«, fuhr der Herr fort, »bringe ihr einen Gruß von mir, und sage ihr, sie möge sich hierher bemühen.«

Der Bediente entfernte sich, kam bald darauf zurück und meldete, das Fräulein tanze soeben.

Der General sah ihn starr an: »Was kümmert das mich? Sie soll kommen!«

Dieser Befehl war zugleich mit einem Wink verbunden, dass jene Wartenden an der Tür sich entfernen sollten. Nach Verlauf weniger Minuten öffnete sich die Tür und eine nicht mehr junge Dame trat ein. Sie war hochrot im Gesicht und am Hals, ob infolge der Erhitzung des Tanzes, den sie soeben hatte verlassen müssen, oder aus Scham, Verlegenheit und Verdruss konnte nicht ermittelt werden. Der General richtete auf die Eintretende einen boshaft sarkastischen Blick und wies dann auf einen Stuhl, wo sie Platz nehmen könne. Die Dame setzte sich und saß in fortwährender Purpurröte und mit niedergeschlagenen Augen da. Man sah es ihr an, dass sie von dieser Unterredung nichts Gutes erwartete und sehr beklagte, aus den Reihen des Contretanzes geschieden zu sein, um hier einem peinlichen Gericht standzuhalten. Indessen fasste sie Mut, erhob ihren Blick, senkte sie jedoch schnell wieder, als sie dem stechenden Strahl der Augen ihres Gegners begegneten.

»Ihren Namen, meine Schöne?«, fragte der General.

»Adelgunde von Schlübben, Exzellenz.«

»Von Schlübben? Von? Höre ich recht? Von?«

»Ja, von. Meine Vorfahren sind von gutem Adel.«

»Aber, zum Teufel, meine Schöne! Man sagt mir, Sie wollten den Uhrmacher, Herrn Pihl heiraten. Das kann also demnach doch unmöglich wahr sein?«

»Und dennoch, Exzellenz. Herr Pihl hat um mich angehalten. Er ist ein wackerer Mann, und ich«, setzte Fräulein Adelgunde hinzu, indem sie den Zipfel ihres Florschals vor das errötende Gesicht hielt, »bin arm und habe keine weitere Aussicht.«

»Keine weitere Aussicht! Teufel! Sie sind spaßhaft, mein gutes Fräulein. Seit wann ist es Sitte, dass die Damen rasch zur Ehe greifen, wenn sie sich in einer augenblicklichen Verlegenheit befinden? Leb ich denn etwa nicht? Werde ich es zugeben, dass Sie solche Streiche machen, meine Schöne? Keine Aussicht! Warum kamen Sie nicht zu mir?«

»Ich bin nicht gewohnt, Almosen zu nehmen«, sagte das Fräulein, indem sie einen ungewöhnlichen Anlauf zu Mut und Keckheit nahm.

»Nicht?«, rief der General. Röte färbte schon sein Antlitz. »Also wollen Sie lieber von zerbrochenen Uhrgläsern leben, Madame Pihl heißen und die zerrissenen Westen Ihres Herrn Gemahls flicken?«

»Es ist ein Mann von unbescholtenem Ruf, der sein rechtliches Auskommen hat«, bemerkte das Fräulein.

»Aber ein Uhrmacher, ein Mann, der von seinem Handwerk lebt.«

»Was schadet das, Herr Graf?«

»Was das schadet? Sie haben Courage für zehn Mann, mein Fräulein. Was das schadet? Man sehe doch, wie dieses Fräulein heiratslustig ist. Hahaha! Sie wollen durchaus ihrem Uhrmacher in die Arme springen. Aber daraus wird nichts. Ich habe Ihren Vater gekannt, meine Schöne. Ich habe ihn gekannt, und somit sage ich Ihnen, dass ich schon längst ein Auge auf Ihre ärgerliche Heirat gerichtet habe. Ich wollte nur nicht glauben, was man mir davon erzählte. Sie werden Ihren Uhrmacher nicht heiraten; nein! Sie werden ihn nicht heiraten.«

Fräulein Adelgunde von Schlübben machte eine Miene, als ob sie sich an einem heißen Löffel Suppe verbrannt hatte. Sie rückte auf ihrem Stuhl hin und her und hustete, indem ihre Farbe ein noch höheres und brennenderes Rot annahm. Endlich entschloss sie sich, aufzuspringen, vor ihren Peiniger hinzutreten und offen zu erklären, dass sie ihre Heirat nicht aufgeben werde.

Der General war ganz erstaunt über diese Kühnheit. Er fasste sich jedoch und sagte mit Ruhe: »Wenn nun aber kein Bräutigam mehr da ist?«

Das Fräulein war höchst betroffen über diesen unerwarteten Einwurf. »Sollte Herr Pihl …«, stammelte sie.

»Herr Pihl gibt Ihnen Ihr Wort zurück, meine allzu verliebte Schöne!«, fuhr der General fort. »Ich habe ihm Vernunft gepredigt. Er zieht es vor, die Tochter meines Gärtners mit einer guten Aussteuer, die ich ihr gebe, als Gattin heimzuführen …«

»Ah, der Verräter!«, murmelte das Fräulein. »Doch ich sehe, man zwingt uns, man reißt uns auseinander. O, das ist entsetzlich!«

»Kommen Sie zur Vernunft, meine Dame. Erkennen Sie den ganzen Umfang meiner Freundschaft für Sie. Ich habe ihnen eine Stelle in einem adligen Stift verschafft, dessen Oberin meine Verwandte ist. Ich kann Ihnen schwören, dass dort Ihre Tage in einem reinen, schönen, ununterbrochenen Friedensgenuss dahinfließen werden. Sie werden Ihren Verwandten nicht zur Last, Ihrem Stand nicht zur Unehre leben.«

»Aber ich liebe das Stift nicht«, murmelte die Dame, indem sie die Fransen ihres Schals zerrupfte. »Ich kann die Absperrung nicht leiden. O, wie abscheulich! Ich habe mir einen kleinen Haushalt, eine kleine Familie so schön gedacht!«

»Ich habe gar nichts gegen Ihre kleine Familie«, entgegnete der General, »verschaffen Sie sich diese auf eine Weise, die mehr meinen Beifall hat. Wenn man einmal einen bekannten Namen führt, kann man nicht tun, was man will.«

»So lege ich diesen Namen ab«, flüsterte das Fräulein.

»Teufel, wie gemein! Legt man denn einen Namen ab, wie man einen abgetretenen Schuh fortwirft? Fi donc, meine Schöne, das ist eine hässliche Lust, die Sie da zeigen, à tout prix ins Ehebett zu springen. Gehen Sie, tanzen Sie Ihre Quadrille zu Ende und danken Sie dabei Gott, der mir die Macht und die Gelegenheit gab, Ihnen eine Existenz voll Schande und Kummer zu ersparen. He, Johann, begleite das Fräulein in den Saal zurück.«

»O, Herr General, nach diesem Akt der Grausamkeit, den Sie an mir verüben, gehe ich nicht zum Tanz zurück. Ich kann nicht mit verwundetem Herzen eine Quadrille tanzen.«

»Nun, wie Sie wollen, meine Schöne, so tanzen Sie nicht.«

Das Fräulein entfernte sich, und der General bog sich lachend zu Judith hinüber, indem er ihr zurief: »Eh bien, ma chèr, n’est pas cette petit folle est très amusante? Die Närrin«, setzte er hinzu, »sie will nicht in ein Stift gehen, sie will lieber die Hausmagd eines armen Handwerkers werden. Das ist schön. Wo blieben unsere alten Familien, wenn alles so durcheinanderliefe? Die Franzosen köpften ihre Noblesse, das war ein Unglück für die Noblesse, aber keine Erniedrigung. Wir Deutschen wählen aber das Ehebett statt der Guillotine, und das ist ein Unglück und eine Schande zugleich. Ich bin kein Krösus, aber ich weiß, dass ich durch manchen gut angewendeten Taler eine Ehre eingelöst habe, die in unserer geldgierigen Zeit schon stark verpfändet war. Wo ich aber eine solche Ehre nicht einlösen konnte, habe ich andere Mittel angewendet.«

Diese letzten Worte wurden nur halb hörbar gesprochen in einem dumpfen, seltsamen Ton. Darauf versank der Sprechende in ein tiefes anhaltendes Grübeln. Der General hatte Momente, wo er wie regungslos dasaß und einer Bildsäule aus Erz glich. Ein solcher Augenblick war nun gekommen. Er starrte vor sich hin, die Pfeife erlosch und kein Wink erfolgte, sie wieder neu zu entzünden. Sein Haupt, anfangs hoch aufgerichtet, sank immer tiefer auf die Brust. Das unheimliche Starren der Augen nahm einen Ausdruck wie stiller Wahnsinn an. Judith, indem sie ihren Beschützer betrachtete und in seiner Seele zu lesen schien, hütete sich wohl, das kleinste Geräusch zu machen. Eine Totenstille herrschte im Saal.

Endlich fuhr der General aus seinen Träumen auf, und schrie laut: »Wer ist da? Wer sagte das? Habe ich recht gehört?«

Judith neigte sich zu ihm. Er warf einen gleichgültigen zerstreuten Blick auf sie. Nach und nach schien er sie zu erkennen. Seine Miene nahm ein leichtes Lächeln an. Er drückte ihr die Hand, erhob sich vom Stuhl und schritt im Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit strich er sich über die Stirn, als wollte er Bilder und Gedanken verbannen, die ihn hartnäckig umlagert hielten. Der Mann, der eben auf so eigenmächtige Weise die Freiheit des Willens seines Nebenmenschen beschränkt hatte, konnte nicht über tyrannische Einflüsse Herr werden, die seinem eignen Gemüt Fesseln anlegten. Er ließ die verschiedenen Aufseher und Diener wieder eintreten und vertiefte sich in ein Detail der Geschäftsführung, indem er zugleich Befehle erteilte und neue Anordnungen traf. Judith fühlte, dass dieser strenge und feste Mann seinen unbändigen Willen überall hin ausdehnte, dass man ihm stillschweigend und unbedingt gehorsamte, und dass die dämonische Kraft, mit der er wirkte, und die von seiner kolossalen geistigen und körperlichen Persönlichkeit ausströmte, jede Natur, die sich in seinen Kreis gezogen fühlte, besiegte. Aber in dieser Prometeusseele fand sich ein dunkler Fleck, ein nie auszutilgender, düsterer Schatten, ein geheimnisvolles Etwas. Wer wagte, bis hierher vorzudringen, wer wagte, hinein zu tasten? Die Tochter des Verbrechers fühlte, dass sie innerhalb des Zauberzirkels stand, dass sie dem Stab des Magiers die Nächste war, und dass es ihm nur einen Wink kostete, um sie zu zerschmettern.

Noch vor Anbruch der Nacht verließ der General wieder die Dorfschenke. Die Ballgäste zogen wieder in den ihnen bestimmten Raum. Das Getändel der Geigen, die Töne des Horns und der Klarinette erklangen wieder da, wo eben eine ernste Nemesis mit ihrem Opfer Zwiesprache gehalten hatte. Der Advokat, der kein Liebhaber von Contretänzen und Quadrillen war, verließ seine kleine dunkle Loge und begab sich ins Bett. Er hatte kein Auge von Judith gewendet. So weit weibliche Schönheit auf ein Herz, wie das seine, Eindruck machen konnte, hatte Judith einen Triumph über ihn davongetragen. Er schmunzelte, indem er dachte, dass er dazu beitragen werde, ihren Triumph zu vervollständigen und zu befestigen.