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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Der weiße Elefant des Singar Chani – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der weiße Elefant des Singar Chani
2. Kapitel

Wachsfiguren

Wir waren wieder allein.

»Ich bin jetzt doch schon etwas klüger«, meinte ich zu Harst. »Am Mahut des weißen Elefanten muss dir etwas aufgefallen sein – ohne Frage! Hältst du ihn etwa für einen Verbündeten Warbattys?«

»Würdest du Verdacht gegen einen Menschen schöpfen, der als Mahut recht unauffällig durch ein kleines Taschenfernrohr, das er in ein Tuch gehüllt hat, gerade zu unserem Kutter hinüberspäht? Die Entfernung betrug etwa achtzig Meter. Wenn der Mann an uns nicht ein besonderes Interesse gehabt hätte, wären seine Augen genügend gewesen, zwei auf dem Kajütdach in Liegestühlen sitzende Europäer sich anzusehen. Das Taschenfernrohr war das Ausschlaggebende.«

»Allerdings. Ich bewundere nur, wie dir so schnell derartige Kleinigkeiten auf solche Entfernung auffallen!«

»Übungssache! Ich habe dir so oft schon gesagt, dass die meisten Menschen blind sind. Lerne sehen, lieber Schraut! Es ist ja nur eine gewisse Trägheit, wenn man den Blick über die einzelnen Dinge und Gestalten unserer Umgebung hinweggleiten lässt, ohne jede Einzelheit in sich aufzunehmen. Kannst du mir zum Beispiel sagen, wie viele Stufen die Kajüttreppe hat, ob und wie viel Leichenreste vorüberschwammen, als wir auf Deck die Abendluft genossen, und wie viele Pferdedroschken vor dem Bahnhof bei Ankunft unseres Zuges heute warteten?«

Ich möchte hier einfügen, dass die Hindu ihre Toten bekanntlich verbrennen und die Asche, wenn irgend möglich, in den Ganges streuen. Leider aber nicht immer nur die Asche, sondern oft genug noch halb verkohlte Leichenteile. Nach ihren religiösen Anschauungen dürfen Leichen stets nur auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Erlischt dieser durch irgendeinen Zufall zu früh, so werden häufig erst halb verbrannte Tote den heiligen Fluten anvertraut. Die Engländer halten daher auch streng darauf, dass die Gangeskrokodile geschont werden, da diese als Vertilger dieser eklen treibenden Gebeine durchaus notwendig sind. Die Krokodile sind übrigens vollständig harmlos, greifen höchstens mal Kinder beim Baden an. Sie finden ebenso reichlich Nahrung, dass sie sich dieserhalb nicht zu bemühen brauchen.«

Ich konnte Harsts Fragen nur durch ein Nein – ich habe nicht gezählt beantworten.

»Siehst du, wie wenig du gesehen hast!«, sagte er recht ernst. »Wenn du besser auf alles achten würdest, hättest Ddu auch gemerkt, dass der eine der vierzehn Wagenbesitzer am Bahnhof sich dreimal an uns herandrängte. Schon da wollte ich argwöhnisch werden und diesen braunen Droschkenkutscher für eine Kreatur Warbattys halten. Ich stellte dann aber fest, dass der Mann ebenso zudringlich zu anderen Reisenden war. Der leise Argwohn schwand wieder.«

»Du bist eben Harald Harst!«, schmeichelte ich ihm gutgelaunt.

Er zuckte die Achseln. »Worte, nichts als Worte, die deine Sehträgheit bemänteln sollen! Morgen werden wir nun doch wieder in ein Kostüm schlüpfen, lieber Schraut! Ich will mir vom weißen, weisen Elefanten Bescheid holen, ob wir Warbatty diesmal fangen werden. Als Europäer dürfen wir uns nicht unter die Pilger mischen. Hier liegt eine absolute Notwendigkeit vor, uns abermals in ärmere Hindu zu verwandeln. Ich habe mir inzwischen auch überlegt, dass es richtiger ist, wenn wir noch in dieser Nacht von hier verschwinden. Wir warten die Rückkehr des alten Inders ab, lassen uns von ihm mit Kleidungsstücken aushelfen und verschwinden in dem Beiboot. Rawaiku muss nötigenfalls unserem liebenswürdigen Gastgeber mitteilen, wir seien auf ein paar Tage ins Innere gereist.«

Er stand auf, zog die Vorhänge vor den kleinen Fenstern ganz dicht zu und entnahm seinem Koffer die nötigen Hautfärbemittel und anderes, was wir zu unserer Veränderung brauchten. Wir färbten Gesicht, Hals, Teile des Nackens, Hände und Arme bis zum Ellenbogen braun. Dies beanspruchte, zumal wir auch auf das Befestigen der Bärte sehr viel Sorgfalt verwendeten, über anderthalb Stunden.

Die Uhr in der Kajüte, die wir aufgezogen und gestellt hatten, zeigte genau fünf Minuten nach Mitternacht, als wir hörten, wie das Beiboot außenbords entlangschrammte. Harst öffnete schnell eines der Fenster und sprach Rawaiku an.

Als dieser die Kajüte betrat, prallte er erst leicht zurück, erlaubte sich dann aber ein verständnisvolles Lächeln und sagte leise: »Die weißen Sahibs sind schnell zu Indern geworden. Mein Vorgesetzter in Salatola war ein Engländer, der mir viel erzählte, wie man in Europa Verbrecher fängt. Ich kann schweigen!«, fügte er mit besonderer Betonung hinzu.

»Das musst du auch, Rawaiku«, meinte Harst. »Es wird dein Schade nicht sein. Was hast du erfahren?«

»Nicht viel, Sahib. Der Mahut stammt aus Goa, ist ein sehr strenggläubiger Hindu, der seit fünf Monaten den weißen Elefanten lenkt, füttert und dauernd um ihn ist. Er heißt Dsangpo. Die Seele seines Vaters wohnt nun in dem Wunderelefanten. Deshalb verlangt er auch von dem Brahmanen Singar Chani keinerlei Bezahlung. Er ist sehr angesehen, dieser Dsangpo, und er nimmt keinerlei Geschenke an, wie man mir erzählte. Er könnte leicht reich werden, wenn er einzelne Pilger früher als die anderen in den Tempelhof einließe.«

»Ich danke dir, Rawaiku. Der Andrang zum Wunderelefanten ist wohl sehr groß?«

»Ja, Sahib. Die Pilger strömen schon mit Tagesanbruch herbei und lagern sich vor dem Hoftor.«

»Kannst du uns zwei Anzüge besorgen, Rawaiku? Ich will Dir anvertrauen, dass wir einen sehr gefährlichen Verbrecher verfolgen, der jetzt in Allahabad weilt.«

Bereits zehn Minuten darauf verließen zwei Hindu den Motorkutter in dem kleinen Beiboot, ruderten stromaufwärts bis zu den Parkanlagen des Europäerviertels, lenkten hier in einen breiten Kanal ein, der sich bald zu einem künstlichen See verbreiterte, übergaben hier das Boot einem Parkwärter zur Beaufsichtigung und wandten sich nach Norden zu, bis sie auf eine Straße gelangten, die westwärts zu dem Dschihan-Tempel führte.

Die Inder waren Harst und ich. Wir hatten, eingebunden in Tücher, Lebensmittel für einen Tag mit, und wir wollten uns für den Rest der Nacht dicht vor dem Hoftor des Tempels niederlegen, um möglichst mit den ersten Pilgern hineinzugelangen.

Die Nacht war heiß. Harst benutzte diese Wanderung dazu, mir über den Brahmanismus eingehend Aufschluss zu geben, insbesondere über den Seelenwanderungsglauben der Hindu, denen je nach dem Verdienst ihrer irdischen Handlungen eine neue Existenz als Gott, Mensch oder Tier beschieden wird und die erst dann von dieser steten Verwandlung befreit werden, wenn sie eine gottähnliche geistige Reife erlangt haben. Mithin verehrte der Mahut des Brahmanen Singar Chani in dem weißen Elefanten (als »weiß« bezeichnet man hellgraue Tiere, die äußerst selten sind) seinen Vater, wodurch seine selbstlose Betreuung des Wundertieres durchaus verständlich wurde, wie Harst betonte.

An uns kamen dauernd kleinere und größere Pilgergruppen vorüber. Sie alle strömten der Stadt zu. An der Straße waren große Zelte und Bretterbuden errichtet, Notquartiere, in denen die Wallfahrer für billiges Geld ein Unterkommen fanden. Dann standen da auch die Buden der Zuckerbäcker, der Kaffeehändler, der Limonadenverkäufer. Andere Inder – und dies ist eins der vielen Vorrechte der Brahmanen – boten Amulette feil. Ferner waren die Wegränder geradezu gespickt mit Bettlern, Yogis und Tänzerinnen, die sogar bei Fackelbeleuchtung ihre Künste zeigten. Kurz, von nächtlicher Stille war hier nichts zu merken. Es war das reine Jahrmarkttreiben.

Wir blieben häufig stehen, um Studien zu machen. Harst zeigte mir dies und jenes, was an den Pilgern oder an der Budenstadt interessant war. So kamen wir auch an einem Zelt vorüber, dessen Riesenschild auf Englisch und in der Landessprache ein Wachsfigurenkabinett allerersten Ranges anpries. Neben dem Eingang hingen Tafeln, auf denen die ausgestellten Berühmtheiten vermerkt waren, auf der linken, obenan: König Edward von England, gleich darunter Jack, der Massenmörder, dann der Sultan von Konstantinopel und so weiter.

Plötzlich lachte Harst hell auf, deutete auf die rechte Papptafel.

Und da stand:

Der berühmteste Detektiv der Welt,
Der Deutsche Harald Harst!

»Den muss ich mir ansehen!«, meinte der lebende Harst. »Wer weiß, welch armer Sterblicher hier als Harald Harst gezeigt wird!«

Selbst dieses Wachsfigurenkabinett hatte Zuspruch. An der Kasse saß ein sehr würdig ausschauender Hindu. Der Eintritt kostete eine halbe Rupie. Das Zelt war quadratisch mit etwa acht Meter Seitenlänge. Die Beleuchtung bestand aus Petroleumlampen. Ein zweiter Hindu machte den Erklärer. Wir fragten sofort nach dem berühmten Detektiv. Er zeigte auf einen Vorhang.

»Kostet eine halbe Rupie extra«, dienerte er. »Dort in der besonderen Abteilung befindet sich auch die Königin Viktoria im Sarg.«

Wir bezahlten, schlugen den Vorhang zurück und traten ein.

Hier brannte nur eine einzige Lampe. In der Mitte stand der Sarg mit der Wachsfigur der englischen Herrscherin. Rechts davon waren zwei Männergestalten undeutlich zu erkennen.

Harst nahm seine Taschenlampe zur Hand, schaltete sie ein.

»Ich muss doch genau sehen, wie man …«

Das war das Letzte, was ich hörte.

Von hinten hatten sich zwei Hände mit eisernem Druck um meinen Hals gelegt. Ich wurde zu Boden gerissen, verlor das Bewusstsein. Nachher erfuhr ich, dass hinter dem Zelt ein Wagen gewartet hatte, der uns wegschaffte.

Ich erwachte auf einem Strohlager. Allmählich klärten sich meine Gedanken. Ich spürte, dass ich an Händen und Füßen gefesselt war. Im Mund steckte mir ein Knebel. Ich hob den Kopf. Neben mir lag Harst. Er hatte die Augen offen.

Ich stellte weiter fest, dass wir uns in einem vielfach geflickten Spitzzelte befanden. Durch die Risse der Leinwand schien das Tageslicht herein. Von der einen Zeltstange hing an einem Draht eine Petroleumlaterne herab, deren rötlicher Schein auch noch einen dritten, offenbar fest schlafenden Menschen, einen Inder, beleuchtete.

Harst setzte sich leise aufrecht. Das Maisstroh raschelte. Aber der Inder atmete weiter tief und ruhig.

Harst beobachtete ihn. Dann wandte er sich mir zu, machte eine Kopfbewegung. Ich verstand. Sehr vorsichtig richtete ich mich gleichfalls auf.

Dann senkte Harst seinen Oberkörper, bis er mit den Zähnen meine Handfesseln erreichen konnte. Er ließ sich Zeit. Ich fühlte, wie er eine Schlinge aufzog, noch eine.

Nun hatte ich die Hände frei, riss mir den Knebel aus dem Mund, japste förmlich nach Luft, hatte aber sehr bald in meiner Tasche mein Messer gefunden.

Da – von draußen ein krächzendes Lachen. Und urplötzlich stand, durch den Zeltvorhang hineinschlüpfend, Warbatty vor uns, Warbatty, als indischer Wasserträger verkleidet und doch sofort an dem heiseren Lachen zu erkennen.

In seiner Rechten hielt er einen gespannten Revolver.

Gleichzeitig hatte sich auch der schlafende Inder aufgerichtet, packte mich, fesselte mir im Nu die Hände wieder auf dem Rücken. Ich war viel zu überrascht, um an Gegenwehr zu denken.

»Ich begrüße Sie als liebe, hochverehrte Gäste«, meinte unser Feind mit teuflischem Hohn. »Sie glauben gar nicht, Herr Harst, welche Mühe es mich gekostet hat, für Sie beide eine Falle zu ersinnen, die den Reiz der Neuheit mit der Gewissheit des Erfolges verband. Ich hoffe, Herr Harst, Sie werden einige Worte der Anerkennung für diese meine Leistung finden und nicht wieder behaupten, Sie hätten das Extrakabinett als Falle erkannt.«

Er nahm Harst den Knebel aus dem Mund. »Ich bewundere Sie tatsächlich«, erklärte mein Freund und Meister nun. »Sie haben sich diesmal selbst übertroffen. Wenn ich mir jetzt die Tatsachen nochmals vergegenwärtige, die mich auf diesen Trick hätten aufmerksam machen müssen, schäme ich mich ein wenig meiner Begriffsstutzigkeit. Nicht wahr, der Mahut sollte mich nur dazu verleiten, zum Dschihan-Tempel zu kommen? Er hat absichtlich mit dem Taschenfernrohr operiert, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Dass ich dann sehr wahrscheinlich das Zelt betreten würde, dass der berühmte Detektiv der Welt als Lockmittel genügen würde, war gleichfalls sehr fein berechnet.«

»Allerdings!«, meinte Warbatty grinsend. »Sie mussten dort vorüber. Es führt nur der eine Weg zum Tempel und weiterhin ins Innere. Der Besitzer der Schaubude ahnt nicht, weshalb ich ihm das Extrakabinett für zwei Tage abgemietet habe. Der Erklärer war mein Freund Shamana Driga dort. Er wies auf den Inder. »Jetzt befinden Sie sich ganz in der Nähe des Tempels in einem Wäldchen, das zum Gehöft Drigas gehört. Um Hilfe rufen hat keinen Zweck …«

Warbatty entspannte den Revolver und steckte ihn in seine kurze Leinenhose. Dann durchsuchte er unsere Taschen, nahm uns alles ab, was wir bei uns hatten und verabschiedete sich mit einem ironisch­-höflichen Auf Wiedersehen, meine Herren.

Beide verließen das Zelt und Harst rief grimmig ein ganz gewiss! ihnen zu.

»Hm«, meinte Harst. »Da sitzen wir ja in einem reizenden Käfig fest

»Käfig?«

»Ja. Bitte, krieche nur, so gut es geht, bis zum Eingang und stecke den Kopf hinaus …«