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Anne Boleyn Band 1 – Kapitel 20

Gräfin Luisa Mary von Robiano
Anne Boleyn
Historischer Roman, Constenoble, Jena 1867
Erster Band

20.

Wolseys Ungnade. Cranmer bei Wolsey

Der großen Gerichtssitzung zu St. Michaeli hatte der Kardinal mit gewohnter Feierlichkeit beigewohnt. In festlichen reichen Gewändern, auf einem, mit kostbarem Goldstoff gezierten Maultier, umgeben von einer zahlreichen Begleitung von Laien und Priestern, ritt er durch die gedrängt vollen Straßen wie ein siegreicher Monarch. Er schien absichtlich diesem öffentlichen Erscheinen den Charakter eines Triumphzuges geben zu wollen. Er selbst, obwohl mit düsterem Vorgefühl im Herzen, blickte freundlich und mit sicherem Auge umher und breitete mehrmals seine Hand segnend über die Menge. Bei der Sitzung behielt er die alte eiserne Entschiedenheit bei, mit der er stets seinen Willen durchsetzte. Aber obwohl er die gewohnte unterwürfige Höflichkeit von der Gesamtzahl der Edelleute empfing, entging es seinen misstrauischen Blicken nicht, dass die bekannten Anhänger Annes sich ihm gegenüber auffallend kalt und stolz benahmen. Es war ein Sturm im Anzug, das las der schlaue Staatsmann in den Mienen der Lords Norfolk und Suffolk.

Er sollte nicht lange über sein Schicksal im Ungewissen bleiben. Anne und ihrer Partei war es endlich gelungen, Unzufriedenheit zwischen Herrn und Diener herbeizuführen. Heinrichs augenblickliche Geldverlegenheit, welche aus Annes Verschwendung entstanden war, begünstigte den Unmut desselben.

»Mein Diener schwelgt in fürstlichem Luxus«, stieß er einmal erbittert hervor, »während ich, der Herr, mein Volk mit neuen Steuern belasten muss, um die Anforderungen an mich bestreiten zu können.«

»Aber das Geld, der Reichtum, welchen Wolsey besitzt und Euch zum Hohn zur Schau trägt, verdankt er der Güte oder vielmehr der Schwäche seines Herrn. Kein Wunder, wenn er im Besitz einer solchen Macht übermütig Euch trotzt, denn wer bezahlen kann, darf gebieten.«

»Das Heer murrt, ich kann den Sold nicht bestreiten!«, sagte Heinrich. »Ohne Geld werde ich beim Papst nie siegen.«

»Im herrlichen bischöflichen Sitz Hamptoncourt1 liegt ein Kapital«, fiel Norfolk ein, »das ein Jahr lang die königlichen Koffer bis zum Rand füllen würde. Die Gold- und Silbergefäße des priesterlichen Haushaltes allein reichten hin, um eine Armee zu besolden.«

»Still, kein Wort mehr, Mylord! Ich weiß, der Hass spricht aus Euch, weil ich ihn so groß gemacht habe.«

»Aber nicht aus meinem Mund, Sire«, nahm Anne zärtlich das Wort. »Nur die Liebe zu Euch, die Sorge für Eure Wohlfahrt redet.«

»Ich weiß es, Schätzchen!«, erwiderte der König. »Aber wenn ich es auch wollte, ich habe keinen Grund zur Anklage, noch weniger zur Konfiskation seines Gutes.«

»Ihr bedürft nicht weiter der Beweise für die Schuld, Majestät«, erwiderte Anne lächelnd, »wenn Ihr diese Briefe von meinem Verwandten aus Rom gelesen haben werdet.«

»Wie? Ein eigenhändiges Schreiben an den Papst! Bin doch neugierig, was es enthält?«

»Es enthält die Bitte Eures treuen Dieners«, fuhr Anne fort, »dass Seine Heiligkeit den Ausspruch der Scheidung verzögern wolle, damit der König seiner Buhlerin müde werde und sich wieder mit Katharina versöhne.«

»Himmel und Erde, Tod und zehntausend Teufel!«, schrie Heinrich wütend, nachdem er die Schrift hastig überflogen hatte. »Der Verräter! Die Schlange, welche ich so lange an meinem Busen genährt habe, sie wendet ihren Biss gegen ihren Wohltäter!«

»Majestät werden ihm doch vergeben, denn seiner schlauen Zunge wird es bald gelingen, auch die eigene Schrift abzuleugnen.«

»So wahr ich lebe, nein. Ich werde dem falschen Wicht zeigen, dass ich König von England bin. Lord Norfolk, begebt Euch sogleich zu ihm und meldet ihm, dass er sofort die Siegel abzugeben und einstweilen sich in die Verbannung nach Kent zu begeben habe.«

Lord Norfolk verließ das Gemach, Heinrich aber sank auf einen Sessel nieder. Ein bitterer Zug des Schmerzes verzerrte sein sonst so schönes Gesicht.

»Oh, diese Täuschung tut mir weh. Dieser Verrat von ihm macht mich irre an der Menschheit!«

»Es ist auch abscheulich, niederträchtig!«, stimmte Anne ein. »Gern würde ich es ihm vergeben, wenn er mich verhöhnt und verleumdet, denn er liebt die Königin, aber nie verzeihe ich ihm, das er unseren großmütigen, treuen König einer ähnlichen Schwäche fähig erachtet.«

»Er soll es büßen, er soll es büßen! Bei meiner Ehre!« rief Heinrich aus.

»Der Tower wäre noch ein Palast für den schlechten Mann«, sagte Anne. »Der Henker hat würdigere Häupter unter seinem Beile gehabt, als Wolseys wäre.«

»Ja, trüge er nicht das priesterliche Gewand, der Verräter sähe die Morgensonne nicht«, sagte Heinrich, »aber in den Staub will ich ihn werfen, ihn wie einen Giftwurm unter meinen Füßen zertreten.«

Lord Norfolk hatte sich indessen in Begleitung Suffolks in den Palast des Kardinals begeben. Sie wurden unverweilt vorgelassen, nachdem sie diesem melden ließen, sie kämen auf Befehl des Königs.

Wolsey empfing die Abgesandten sitzend, mit der kalten, hochmütigen Miene, welche ihn längst bei dem hohen Adel verhasst gemacht hatte. Seine Stirn runzelte sich, seine Augen flammten, als beide Herren, gegen die übliche Sitte, die Barette auf dem Kopf behielten.

»Wir erscheinen im Auftrag Seiner Majestät«, hob Norfolk an, »um Kardinal Wolsey die Staatssiegel abzufordern.«

Wolsey starrte sie an, als habe er ihre Worte nicht verstanden.

»Seine Majestät befehlen ferner«, fuhr Lord Suffolk fort, »dass Ihr Euch sogleich nach Esher begebt und dort seine weiteren Befehle in Demut abwartet.«

»Ah, ich verstehe!«, sagte Wolsey mit einem bitteren Lächeln. »Meinen Feinden ist es gelungen, abermals das Herz meines Königs zu vergiften. Aber wisst, Mylords, die Staatssiegel empfing ich aus den Händen des Königs in eigener Person und nur in dessen Hände lege ich sie nieder.«

»So wollt Ihr Eure Schuld durch Widersetzlichkeit vergrößern?«, fragte Norfolk drohend.

»Wer bürgt mir für die Echtheit Eurer Aussage, Mylords«, fragte Wolsey scharf und höhnisch. »Ihr seid der Oheim Lady Annes, meiner Feindin, Mylord. Ich aber bin des Königs Diener, und nur seinem Befehl werde ich mich unterwerfen. Bringt mir diesen mit der königlichen Unterschrift versehen, dann erst wird Wolsey sein Amt niederlegen.«

»Euer Wunsch soll erfüllt werden«, lautete Norfolks kalte Antwort, indem er das Zimmer ohne eine Verbeugung verließ.

Meine Stunde hat geschlagen, dachte der Kardinal, als er sich allein befand, ich bin verloren! Aber wodurch? Ah!, fuhr er sinnend auf, es wäre möglich, dass von Rom … nein, es kann nicht sein. Der Papst würde mich um Katharinas Willen nicht verraten. Mut! Mut! Die königliche Laune wird vorübergehen. Es geschah nur, um mich zu schrecken.

Er schritt hastig im Gemach in Gedanken versunken auf und ab, den Blick auf den Boden geheftet. Plötzlich blieb er stehen. Wenn es Ernst würde, wenn ihr Einfluss

siegte, wenn Wolsey sich vor der Buhlerin beugen müsste! Ah! Es gilt auf jeden Fall vorbereitet zu sein. Fällt der Streich, so sollen die Beweise zur Anklage gegen mich fehlen. Noch bleibt mir Zeit.

Hastig eilte er an seinen großen Arbeitstisch, öffnete mehrere Geheimfächer darin und zog verschiedene Schriften hervor. Dann rief er seinen vertrauten Diener und hieß ihm eine Kerze bringen. Als sein Befehl erfüllt worden war, warf er die Papiere in den Kamin und zündete sie an. Hell loderten sie und ließen nur einen Haufen schwarzer Asche zurück.

»Es ist gut!«, sprach er zufrieden lächelnd. »Die Toten reden nicht!«

Er wandte sich ab und trat ans Fenster, wo er abermals eine Weile bewegungslos stehen blieb. Plötzlich erhellten sich seine Gesichtszüge, ein Ge danke durchzuckte ihn.

»Anne ist neidisch auf meinen Reichtum und Heinrich beklagt seine leeren Koffer. Schon lange dürstet der Boleynsche Anhang nach der Beute. Wohlan, es sei, ich muss ein Opfer bringen, um mich zu retten. Geld muss mir die Sonne der königlichen Gunst wieder hervorzaubern und die Hunde, die nach meinem Gut und Blut lechzen, befriedigen!«

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und blieb lange in der Abfassung eines großen Schreibens vertieft. Als er fertig war, überlas er dasselbe, faltete es zusammen und versiegelte es.

»So! Das Mittel wird helfen. Ich bin zwar um vieles ärmer, aber ich werde das Verlorene ersetzen können, leuchtet mir wieder die königliche Gunst! Und die Stunde des Triumphes wird schlagen. Heinrich kann nicht ohne mich sein!«

Der Kardinal hatte jedoch diesmal falsch gerechnet, denn am folgenden Morgen ließen Lord Norfolk und Lord Suffolk sich abermals bei ihm melden.

»Seine Hochwürden haben Befehl erlassen, niemand zu melden!«, sagte der Kammerdiener Wolseys.

»So treten wir ohne seine Erlaubnis ein!«, sagte Norfolk kurz, indem er denselben beiseiteschob und den Weg zum Gemach einschlug.

Der Kardinal zuckte zusammen, als er die unerwarteten Eindringlinge gewahrte. Dann fragte er stolz und gebieterisch: »Was ist Euer Begehr, Mylords? Warum erkühnt Ihr Euch, unangemeldet mich zu überfallen?«

»Wir bringen Euch den verlangten königlichen Befehl!«, war die Antwort.

Wolsey erbebte, doch bezwang er seine innere Bewegung. Er wusste, dass er beobachtet wurde.

Anscheinend ruhig durchlas er den Brief seines Monarchen. Es blieb ihm nun kein Zweifel mehr. Das war Heinrichs eigene Unterschrift, seine eigenen Worte, welche ihm befahlen, sein Amt niederzulegen und in die Verbannung zu wandern. Während des Lesens hatte er seine Fassung wiedergewonnen. Er faltete langsam das Schreiben zusammen und küsste es inbrünstig.

»Ich beuge mich als getreuer Untertan dem Willen meines Königs!«, sprach er würdevoll. »Ein Inventar meiner sämtlichen Habe, welches ich längst verfasst, da ich in meinem Testament Seine Majestät zu meinen Erben ernannt habe, werde ich Seiner Majestät einhändigen lassen, ehe ich London verlasse. Erweist mir, Mylords, die einzige Gnade, welche ich erbitte, und versichert Seiner Majestät meine Treue und Anhänglichkeit bis zum Tode. Sein Glück ist allzeit das Gebet meines Herzens gewesen. Auch Lady Anne bitte ich, meiner freundlich zu gedenken und huldvoll das Geschenk anzunehmen, welches ich ihr bestimmt habe. Arm bin ich an diesem Hof erschienen, arm, noch ärmer verlasse ich ihn wieder.«2

»Wenn Ihr weitere Aufträge uns zu vertrauen geruht«, antwortete in einem fast ehrerbietigen Ton Lord Norfolk, den des Kardinals Benehmen sichtlich beschämte, »so gelobe ich Euch feierlich, dieselben genau zu vollziehen.«

»Auch ich, Hochwürden!« sagte Suffolk. »Verzeiht uns, wenn wir den Befehlen unseres Herrn haben gehorchen müssen.«

»Ich verzeihe Euch, Mylords, und allen meinen Feinden, und trage keinen Groll in meine Einsamkeit, nur Schmerz, die Gunst des edelsten Königs verwirkt zu haben. Wollte Gott, ich hätte meinem Gott so treu gedient, wie meinem König, so stände es besser um meine Seele.«

Er winkte freundlich mit der Hand zum Abschied, worauf die Lords sich entfernten.

Aber es sprach jetzt, indem diese die hohen Gemächer verließen und der betroffenen Haushaltung des Kardinals die königliche Entlassung verkündigten, weder Hohn noch Schadenfreude aus ihren Zügen. Sie schämten sich ihrer Rolle und beeilten ihre Rückkehr.

»Bei allen Heiligen!«, sagte der jüngere Lord Suffolk, »dieser Mann trägt sein Schicksal wie ein Held! Wäre er nicht mein Todfeind, ich würde ihn um dieser Stunde willen achten.«

»Er bleibt sich getreu;« sagte Norfolk.’ »Groß im Unglück wie im Glück. Anne hat ihn leichter gestürzt, als es ihr werden wird, einen Nachfolger zu finden, der Wolseys würdig wäre.«

So sprach der Mann, der selbst im Stillen längst nach der beneideten Stellung des Kardinals trachtete.

Wolseys Angelegenheiten waren bald geordnet. Von seinen Dienern behielt er nur eine kleine Anzahl der vertrautesten und ältesten bei.

Auch vom Silbergerät durfte nach seinem Befehl nur das Notwendigste mitgenommen werden.

Bereits nach wenigen Tagen war er zur Abreise gerüstet. Er hatte keinen Versuch gemacht, den König zu sprechen. Er wusste, dass Anne dies um jeden Preis vereiteln würde.

Spät am Vorabend seiner Abreise trat sein Leibdiener ins Gemach und meldete dem Kardinal schüchtern, dass ein junger Mann bereits zweimal dringend gebeten habe, bei Seiner Ehrwürden vorgelassen zu werden.

»Was wünschte er?«, fragte Wolsey streng. »Er ist wohl ein Spion des Hofes?«

»Ich glaube kaum, ehrwürdiger Herr, dazu sieht er zu ehrlich und zu bekümmert aus. Ich hatte nicht das Herz, länger seine dringenden Bitten abzuweisen.«

»Nun, so lass ihn herein«, sagte Wolsey.

»Bleibe im Nebenzimmer und sei meines Rufes gewärtig, treue Seele.«

»Hochwürden«, rief der alte Diener bestürzt aus, »Ihr fürchtet doch nicht …«

»Dass meine Feinde mir nach dem Leben trachten?«, ergänzte Wolsey mit bitterer Ironie. »Mein Freund, glaubst du, dass man sich mit meiner Verbannung begnügen würde? Oder dass mir Lady Anne es ersparen wird, den Kelch der Schmach bis zur Hefe zu leeren? Doch still davon! Führe deinen Schützling zu mir, Alter.«

Der Diener entfernte sich und kehrte nach einigen Minuten in Begleitung eines jüngeren Mannes zurück.

»Ihr habt gewünscht, mich zu sprechen«, sagte Wolsey in freundlichem Tone. »Es muss ein wichtiger Grund sein, der Euch zu dem gefallenen Mann treibt.«

»Vergebt mir, Hochwürden, ich gehorchte dem Drang meines Herzens, mögen für mich die Folgen sein, welche sie wollen.«

Der Gast warf bei diesen Worten Hut und Mantel ab, trat rasch vor und sank dem Kardinal zu Füßen.

»Cranmer!«, rief Wolsey überrascht aus, als er dem Knienden ins Gesicht blickte, »des Königs Anwalt!« Plötzlich flog ein sonniges Lächeln über sein bleiches Gesicht. »Ihr kommt vom König, ehrwürdiger Bruder! Sprecht rasch die frohe Botschaft aus und gebt mir neues Leben!«

»Leider nein«, erwiderte Cranmer mit teilnehmender Stimme. »Mein Besuch bei Euch muss ein Geheimnis bleiben. Es wäre um mich geschehen, wüsste man davon.«

»Warum kommt Ihr denn?«, fragte Wolsey düster und lauernd.

»Um Euch zu sagen, Hochwürden, dass ich, so wahr ich auf die selige Ewigkeit hoffe, keinen Teil am Entschluss des Königs habe.«

»Ihr dient einer schlechten Sache«, sagte Wolsey vorwurfsvoll. »Ihr bemüht Euch, Mann und Weib zu scheiden gegen Gottes Gebot.«

»Ich handle nach meiner aufrichtigen Überzeugung, hochwürdiger Herr«, entgegnete Cranmer mit Würde, »und nach dem Befehl meines Königs. Aber ich bin nicht gekommen, um über diesen Punkt zu streiten, Herr, sondern um Euch meine Hochachtung zu bezeigen und Euch um Vergebung zu bitten, dass ich Euch feindlich gegenübertreten musste. Gebt mir Euren Segen, hoher Herr, und seid versichert, dass ich versuchen werde, eine Versöhnung zwischen Euch und Seiner Majestät herbeizuführen.«

Wolsey blickte den Sprecher mit seinen forschenden Augen einige Augenblicke an, dann reichte er demselben huldreich die Hand und hob ihn auf.

»Ich zürne Euch nicht, mein Bruder«, sprach er sanft, »so wenig wie dem König, denn ich weiß, er handelt nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf die Zuflüsterungen der ehrgeizigen, zuchtvergessenen Lady Anne Boleyn.«

»Hochwürden«, bat Cranmer, »flucht ihr nicht, bedenkt ihre Stellung. Wird sie nicht des Königs Gattin, ist sie entehrt und unglücklich fürs Leben. Ich will sie nicht entschuldigen, aber wer den König liebt, muss ihre eheliche Verbindung jetzt wünschen, denn sie wird ihn glücklich machen.«

»Ich sehe, auch Euren geraden Sinn haben die frevelhaften Reize der schönen Sünderin bestrickt«, sagte Wolsey vorwurfsvoll. »Doch Ihr seid jünger als ich und kennt die Welt noch wenig, lieber Cranmer.«

»Wer könnte dem Liebreiz, dem Zauber eines solchen Wesens widerstehen, Hochwürden, diesem Geist und dieser musterhaften, treuen Beharrlichkeit?«

»Treu?«, wiederholte spöttisch Wolsey. »Kann man von Treue bei einem Weib reden, dem die Gefallsucht und die Eitelkeit über alles geht? Mein Freund, eben weil ich den König wahrhaft liebe, widersetze ich mich dieser Verbindung. Lady Anne liebt nur den König. Ihre Treue gilt dem königlichen Titel, nach dem sie strebt. Sie ist nicht das Weib, welches Heinrich nach ihrem Besitz auf lange fesseln wird. Die Ehre, welcher sie alles opfert, wird sie dereinst zermalmen.«

»Hochwürden, flucht ihr nicht!«, bat Cranmer.

»Nein, ich fluche ihr nicht«, erwiderte Wolsey feierlich, »ich will dem Gericht des Himmels nicht vorgreifen, das sie noch auf Erden treffen wird. Cranmer, mein Körper ist siech geworden, und des Königs Undank hat mir das Herz gebrochen, aber umso klarer ist der Blick meiner Seele geworden. Wie ein Sterbender sehe ich das Schicksal Annes vor mir aufgerollt. Ihr Sieg, ihr Triumph wird kurz sein, die Tränen der unschuldigen, frommen Katharina schreien gen Himmel um Rache. Heinrich wird Annes Herz brechen, wie das meine.«

»O, möge ich diese Stunde nie erleben!«, sagte Cranmer bestürzt, überwältigt von dem fast verklärten Wesen des Kardinals.

»Ihr werdet sie erleben«, war die Antwort in einem festen, prophetischen Ton. »Ihr werdet gleich ihr den bitteren Kelch des Leidens trinken, denn eine jede Schuld fordert ihre Sühne.3 Gedenkt meiner Worte, und wenn die Unglückliche verzweifelnd vergebens um Gnade fleht, mahnt sie an den Gott, der die Unschuld rächt. Nein, nein, ich fluche ihr nicht, ich werde viel mehr für sie beten, denn …« Er zögerte. »Ich habe sie einst heiß geliebt!«

»Ihr, Kardinal?«, rief Cranmer betroffen aus. »Sprecht Ihr im Traum?«

»Nein, ich rede die Wahrheit«, entgegnete Wolsey leise, kaum vernehmbar. »Ich habe, ehe sie die königliche Braut wurde, mit unlauteren Wünschen mich am Anblick ihrer Schönheit geweidet. Nur meinem König hätte ich ihren Besitz abgetreten. Um seinetwillen habe ich den Vorwurf an mir hängen lassen, dass ich ihre Verbindung mit Lord Percy abbrach. Sie hasst mich dafür, sie verfolgt mich bis in den Tod und raubt mir Heinrichs Liebe! Im Gefühl meiner Schuld habe ich mich ohne Klage der herben Strafe gebeugt, welche Gott über mich verhängt hat. Auch ich muss sühnen, was ich einst verbrochen habe. Aber jetzt noch ein liebreiches Wort von ihren Lippen, eine trauliche, vertrauensvolle Bitte, und ich läge ihr zu Füßen.«

»Wenn sie das wüsste!«, stammelte Cranmer.

»Sie soll es nicht wissen!« sagte Wolsey scharf, »wenigstens jetzt nicht, so lange ich lebe. Deckt mich die kühle Erde, dann, Cranmer, sagt ihr, was ich durch sie gelitten und dass ich ihr verziehen habe.«

»Eure Liebe war eine hoffnungslose«, sagte Cranmer leise, »sie ist zu tugendhaft.«

»Um meine Geliebte zu werden? Ich weiß das, aber es gab Stunden, wo die Leidenschaft mich verblendete, wo ich mein Seelenheil, meine Pflicht als päpstlicher Untertan vergaß und dem Wittenberger Ketzer nicht fluchen konnte, als er die Ehelosigkeit der Priester verdammte. Nichts hinderte mich, seinem Beispiel zu folgen und eine Kette zu brechen, die mich zu einem einsamen Leben verurteilte. Gott hat mich aus dem Sündenpfuhl gerettet, den bösen Geist der Versuchung von mir abgelenkt, doch unter schwerem Kampf.«

Er schwieg und lehnte sich erschöpft in seinem Sessel zurück. Auch Cranmer fühlte sich unfähig, ein Wort hervorzubringen. Mit der innigsten Teilnahme betrachtete er den einst so gefürchteten, so sehr gehassten Mann.

Wer ihn so sähe, und den Ausdruck tiefen Kummers, der seine scharfen Züge fast schön und weich erscheinen lässt!, dachte Cranmer.

Endlich erhob der Kardinal das gebeugte Haupt. »Ihr seid mein Freund und mein Beichtvater wider Euren Willen geworden, mein junger Freund«, redete er Cranmer an. »Wundert Euch nicht über mein schnelles Zutrauen. Meine Haare sind ergraut, sie haben mich Menschenkenntnis gelehrt. Ich lese es in Eurem edlen Antlitz, in Eurer Seele, Ihr werdet mein Vertrauen nie missbrauchen.«

»Nie, so wahr mir Gott helfen möge!«, rief Cranmer, abermals zu seinen Füßen sinkend. »Stets wird mir diese Stunde heilig bleiben. Gebt mir zum Abschied Euren väterlichen Segen.«

Wolsey legte seine Hand auf das Haupt des Knienden und sprach mit feierlicher Stimme: »Geht mit Gott, und was auch einst Euer Schicksal werde, bleibt ihm treu! Ihr seid zu großen Dingen berufen und zu einer glänzenden Laufbahn. Vergesst nicht, dass der Glanz der irdischen Hoheit wie ein Staub verfliegt und nur die Seele ewig bleibt. Die heilige Jungfrau möge Euch behüten und segnen, wie ich es jetzt tue!«

Er beugte sich herab und berührte mit den Lippen die freie offene Stirn des jungen Mannes.

Cranmer aber küsse die Hände des Kardinals und verließ tief bewegt das Gemach.

Show 3 footnotes

  1. Das Schloss, welches der Kardinal erbaut hatte
  2. seine eigenen Worte
  3. Cramners Verurteilung zum Tode erfolgte bekanntlich unter Mary, Katharinas Tochter