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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 2 – Kapitel 6

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Sechstes Kapitel

Herr Barnabas Lobmeyer

Im Erdgeschoss eines unansehnlichen Hauses in einem fashionablen Stadtviertel in Berlin, in der Nachbarschaft großer und stattlicher Wohnungen, saß noch spät in der Nacht ein alter Mann wach, von einem zerrütteten und ärmlichen Äußeren, bei einem Stümpfchen Licht. Das Zimmer war das kleine enge Vorgemach zu einem Büro, wie es in den Wohnungen der Wechsler gebräuchlich ist. Durch das Gitterwerk der Scheidewand konnte man im Inneren der geräumigeren Abteilung Schreibpulte, Repositorien und aufgestapelte Papierstöße erblicken, alles in einem düsteren, farblosen, und von der Zeit und dem Straßenstaub geschwärzten Äußeren. Die zwei Strohstühle und der Tisch in dem vorderen Raum dienten dazu, den ärmeren Klienten des Rechtskonsulenten eine dürftige Bequemlichkeit bei ihrem oft stundenlangen Warten darzubieten. Der Fußboden, von den Tritten grober und beschmutzter Stiefel und Schuhe geschwärzt, schien seit Jahren eine Bekanntschaft mit dem Kehrbesen und der Bürste nicht mehr erneuert zu haben. Die Wände zeigten in einer gewissen Höhe die dunklen Spuren der sich anlehnenden Köpfe und Rücken, und die Tür, in ihrem, von den vielen Griffen schwärzlich geölten Kolorit, wies das abgenutzte Wesen und die ewige Ruhelosigkeit eines Eingangs in einem Haus, in welches Eigennutz und Elend unaufhörlich einschritten. Das eiserne Schloss dieses Bildes der Demut und Vergänglichkeit hatte etwas Müdes und Gedrücktes, gewohnt von jeder, auch noch so plumpen und gemeinen Hand belastet zu werden, hatte es die Würde und den Glanz seiner Jugend schon lange aufgegeben. Mit einem leisen wimmernden Ton wich es dem Druck des Eintretenden, um dann wieder mit eben demselben Mangel an Energie und Kraft zuzuschnappen. Erst in den Stunden der Nacht teilte diese arme lebensmüde Tür die Ruhe mit dem Besitzer dieser unsauberen und unwohnlichen Stube. Der alte Mann erhob sich von Zeit zu Zeit aus seiner gebückten Stellung und richtete einen kalten gleichgültigen Blick auf die Umgebung. Der Schatten, den das Licht warf, ließ seine Gestalt in gespenstiger Länge und in dünner Magerkeit an der Wand hingleiten. Er lehnte sich zurück, stützte das Haupt an die Mauer und richtete den Blick an die Decke, als suchte er dort den Gegenstand seiner Träumereien. Das Gesicht des Greises, sei es nun infolge der Jahre veranlasst oder durch sonstige Umstände, die auf Schmerz, Kummer oder geistige Unfähigkeit hindeutet, hatte etwas Stumpfes, das auf den ersten Anblick hätte glauben machen können, man sähe einen Blödsinnigen vor sich. Die niedrige Stirn, die von dem noch ziemlich starken, aber völlig ergrauten Haar beschattet wurde, war bedeutungslos und verbesserte in keiner Art den Ausdruck der vordringenden glanzlosen geröteten Augen, die von gichtigen Tränen befeuchtet wurden. Die Nase war platt und der Mund zahnlos. Er passte mit seinem gemeinen Muskelspiel vollkommen zu dem mit grauen Bartstoppeln geschmücktem Kinn und dem dünnen, in einer kaum fingerbreiten Umhüllung steckendem Hals. Die Kleidung bestand in einem grau zerlumpten Überrock, aus dessen Ärmeln die mageren fleischlosen und behaarten Hände weit hervorragten. Alles an diesem Mann kündete Armut, knechtische Unterwürfigkeit und an Stumpfheit grenzende Geduld an. Er hatte ein altes, beschriebenes Buch aufgeschlagen. Der Inhalt dieser Blätter schien ihn ungewöhnlich aufgeregt zu haben. Er öffnete eine Dose, die er aus einem geheimen Schubfach eines Wandschränkchens herlangte, nahm mit dem Ausdruck des höchsten Genusses eine Prise und schickte sich eben an, in seiner Lektüre weiter fortzufahren, als drei leise Schläge an den Fensterladen erklangen. Der Alte sprang auf, ergriff das Licht und den Schlüsselbund, eilte hinaus und kam bald darauf mit einem Gast zurück, dem er den Mantel und den Regenschirm abnahm. Wir erkennen in diesem Ankömmling den Herrn Lobmeyer.

»Du bist noch nicht im Bett, Vater«, rief der Advokat, »das ist wohl getan. Ich hätte es ungern gesehen, wenn du den Thomson, statt deiner, hättest wachen lassen.«

»Ich wusste wohl, dass es dir lieb sein würde«, entgegnete der Alte.

»Wo ist Thomson?«, fragte der Sohn.

»Ich habe ihm erlaubt, zu seiner Muhme zu gehen, die heute Hochzeit macht. Du hast doch nichts dagegen, Barnabas?«

»Wenn er nicht zur Stunde morgen da ist, so wird ein Abzug von seinem Lohn gemacht. Aber was sehe ich, Vater. Du brennst ein Stearinlicht? Wie ist es gekommen, dass du während meiner Abwesenheit dir diese tolle Verschwendung erlaubt hast?«

»Es ist das Endchen Licht aus deinem silbernen Leuchter, mein Sohn. Du bist zwölf Tage weggeblieben und hattest mir nur sechs dünne Lichte hinterlassen. Die Abende sind jetzt sehr lang.«

»So brauchtest du sie nicht mit Lesen hinzubringen, was ohnedies deinen Augen schadet. Und schon wieder sind es die alten einfältigen Geschichten, die du liest! Wahrlich, es war wohl nötig, das Stümpfchen aus meinem silbernen Leuchter zu verbrennen, um Unsinn dabei zu studieren.

»Schilt nicht, Barnabas, ich war gerade an der Stelle, wo ich um meine zweite Frau, um deine Mutter anhielt. Was war das für eine Zeit, Sohn! Ich hatte damals das große Haus in der Friedrich-Straße, und deine Mutter, Gott habe sie seelig, pflegte mich nicht anders, als den kleinen Rothschild zu nennen.«

Barnabas, ohne auf die Erinnerungen seines Erzeugers zu achten, wühlte in der Tasche seines Überrocks nach einem Schlüsselbund, mit dessen Hilfe er eines der Pulte aufschloss und ein Päckchen Papiere in Sicherheit brachte.

Der Alte sprach weiter: »Auf diesem Blatt ist genau der Brautanzug deiner Mutter beschrieben, Barnabas. Er war aus einem dicken Atlas, wie man ihn jetzt nicht mehr findet. Eine Emigrantin hatte ihn aus Frankreich herübergebracht und behauptete, aus demselben Stück hätte sich die Königin Marie Antoinette einen Anzug machen lassen. Deine Mutter war verteufelt hübsch – o ganz verteufelt, sag ich dir.«

»Ist der reiche Viehhändler nicht wieder hier gewesen?«, fragte der Sohn.

»Nein, Barnabas, ich habe ihn nicht gesehen. Allein, wenn deine Mutter eine Schönheit ersten Ranges war, so hatte auch ich meine Vorzüge. Was meinst du wohl, Barnabas, wie viel der Ring wert war, den ich am kleinen Finger meiner linken Hand trug? Hier, hier an dieser Stelle. Was meinst du wohl? Rate, Kind.«

»In der Klage Keith kontra Baling ist noch nichts von dem Amtsgericht eingegangen?«

»Ich sage dir, dreitausend Taler war der Ring unter Brüdern wert? Dies wird Ddir hoffentlich zeigen, dass ich mich ganz wohl neben deiner Mutter konnte sehen lassen.«

»Es fehlen mir hier einige Adressen!«, rief der Sohn.

»Die Einrichtung unseres Hauses war fürstlich«, fuhr der Alte fort. »Ich kann mich besinnen, dass wir eine silberne Bratenschüssel hatten, die …«

»Und ich kann mich besinnen, dass du in Lumpen vor meiner Tür standest und keine trockene Brotrinde zu verzehren hattest!«, schrie der Advokat nun plötzlich, indem er rasch vor Zorn aus dem Verschlag hervorstürzte und mit der geballten Faust auf den Tisch schlug, sodass die Blätter des Tagebuchs herumflogen und der Alte zitternd und bleich in seinen Stuhl zurück sank, indem er murmelte: »Um Jesus Willen, Barnabas, was ist das nun?«

»Du wirst mich toll machen mit deinem Geschwätz«, schrie der Sohn. »Gehört das zum Geschäft? Acht sollst du haben auf meine Sachen, und du sitzt und faselst hier, und lässt, dass Gott erbarm, mich zum armen Mann werden.«

»Was habe ich verbrochen, teurer Barnabas?«

»Teurer Barnabas! Seht mir nur dieses Gesicht? Was habe ich verbrochen, teurer Barnabas? Und dieses Einfaltspinselgesicht! Ernähr ich dich deshalb, damit du hier die Zeit vertrödelst, Alter?«

»Es gab eine Zeit, wo ich dich ernährte, Barnabas.«

»Jawohl, als du noch etwas hattest. Als dir die Galgenvögel noch nicht das Fleisch von den Knochen gerupft hatten! Der Spaß dauerte kurze Zeit. Hahaha! Es ist wohl recht der Mühe wert, davon zu sprechen. Und ha! Der Tabak dort! Aus meinem Schränkchen hast du ihn genommen! Das ist schön, das ist recht! Den teuren Tabak, das teure Licht! Gut, gut, ich soll ruiniert werden.«

Der Alte schloss die Dose wieder ein und gab den Schlüssel des Schränkchens dem Sohn, der ihn in den Ring zu den anderen fügte.

»Wo sind die Adressen?«, fragte er, »eine Quittung war darunter. Das Bündelchen hing so nah, dass man es durchs Gitter erreichen konnte.«

»Ich habe nie meine Hand durch das Gitter gedrängt, um dir etwas zu entwenden«, erwiderte der Alte.

»So hat es Thomson getan. Die Quittung konnte er verkaufen – der Schurke!«

»Hier sind die Blätter«, sagte der Vater, indem er aus dem Winkel einige Papiere aufhob. »Thomson ist unschuldig.« Er zog einen dicken Brief aus der Tasche und gab ihn dem Sohn. Heftig riss dieser den Umschlag ab.

»Das ist die gewünschte Verfügung!«, rief er. Seine Miene ging in Triumph und Freude über. »Gut, gut. Fast dreißig Prozent gewonnen. Hm, hm! Noch Belobungen für meinen Eifer, meine Redlichkeit! Man will mich rekommandieren! Gut, gut. Sieh Vater, das hättest du mir gleich übergeben sollen! Dann wäre ich nicht so heftig geworden.«

»Tatsächlich, das hätte ich sollen, aber vergib Barnabas, der Brautanzug deiner Mutter verwirrte mir den alten Kopf. Ich will mich bessern, mein lieber Sohn, sei versichert, das will ich. Gib mir die Hand darauf, und nun will ich schlafen gehen.«

»Gut, gut, geh zu Bett!«

Der Alte wandte sich zum Gehen, der Sohn rief ihn zurück. »Hör Alter, ich will dir den Tabak schenken, so viel noch in der Dose ist.«

»Willst du das, Barnabas! O, du guter Sohn. Ja, ja, ich wusste es wohl, heute war ein glücklicher Tag; erst das Brautkleid deiner Mutter und dann der Tabak.«

Die Dose wurde hervorgebracht, und dem Alten übergeben.

»Und dann noch eins«, rief der Advokat, »Du musst morgen in aller Frühe zu der Cousine gehen und sie einladen, ein Mittagessen bei mir einzunehmen.«

Der Alte sah seinen Sohn starr an. »Du willst der Cousine ein Mittagessen geben?«, fragte er endlich und seine Augen drangen aus ihren Höhlen hervor. »Der armen Cousine, die dir nichts einbringt?«

»Ja doch, und um den Viehhändler zum Prozess zu bewegen, will ich ihn zugleich abfüttern. Der Kriminalrat Liebfreund sei der Dritte, drei Fliegen mit einer Klappe. Du musst morgen mit dem Korb auf den Markt gehen, Alter.«

»Einkaufen? Auf den Markt! Mittagessen!«, murmelte der Greis, indem er die baufällige Stiege in das kleine Dachstübchen hinaufstieg, das er in dem Haus seines Sohnes bewohnte. »Ich hätte nie geglaubt, dass er mit solchen Gedanken nach Hause kommen würde. Aber er muss unterwegs einen Fang getan haben, anders lässt es sich nicht reimen. Er muss irgendwo, Gott steh mir bei, die Tränen der Witwen und Waisen zu Gold haben machen können. O, Barnabas, ich brachte mein Geld durch, jedermann weiß, auf welche Weise, aber nicht jedermann weiß, wie du das deine verdienst.« Diese Worte, als sie dem Alten selbst hörbar wurden, erschreckten ihn. Er fürchtete, sein Sohn könne ihm nachgeschlichen sein und ihn belauscht haben. Er öffnete die Tür seines Zimmers nochmals und sah die Treppe hinab. Das Licht in seiner ausgestreckten Hand zitterte und die stumpfen Züge erhielten einen Ausdruck grauenerregender Spürkraft. Als er niemanden entdeckte, schloss er die Tür wieder, setzte sich auf sein ärmliches Lager und fing an, den geschenkt erhaltenen Tabak in kleine Portionen zu teilen, indem er dabei ein Lied summte.

»Es ist auffallend«, sprach er vor sich hin, »dass, wenn ich eines von beiden wieder in meinen Besitz zu bringen imstande wäre, ich zweifelhaft bin, ob ich den großen Diamant hier am kleinen Finger meiner linken Hand oder meine Frau mir zurück wünschen sollte. Beide Gegenstände waren mir gleich teuer. Mein Sohn, wenn er dies hörte, würde sagen, dass es einer meiner törichten und albernen Gedanken wäre. Freilich, er nähme den Diamanten und wiese die beste Frau zurück. Daran ist durchaus nicht zu zweifeln; aber ich? Wenn ich denke, wie schön sie in ihrem Brautkleid, in dem Glanz der vielen Lichter aussah. Oh, oh! Ich weiß doch nicht, was ich täte!«

Während die Erinnerung des Greises, diesen, ihren liebsten Schauplatz vergangener Herrlichkeiten aufsuchten, beschäftigte sich sein Sohn mit den Träumen einer minder glänzenden nur haltbareren Zukunft. Als der Alte ihn verlassen hatte, stand er auf, zündete ein neues Licht an, brachte das Päckchen Papiere aus dem Verschluss wieder hervor und machte es sich am Tisch bequem. Zugleich füllte er den kleinen Tonkopf einer Pfeife mit Tabak. Den Stummel in den linken Mundwinkel klemmend, gab er sich ungestört dem Genuss des Rauchens und des Durchblätterns der wichtigen Papiere hin. Für gewöhnlich folgte der Advokat den Gebräuchen der vornehmen Klassen, mit denen oft in Berührung zu kommen er sich schmeichelte. Trotz seines Systems der äußersten Sparsamkeit war sein Anzug immer fein und elegant. Wenn er Feste gab, so zeigten sowohl Weine als auch Speisen eine musterhafte Auswahl. Die Zimmer des ersten Stocks seines kleinen Hauses, die er nicht bewohnte und nur für diese Feste freihielt, mussten ihm Zinsen tragen, indem sie seinen Ruf als einen fashionablen und reichen Geschäftsmann verbreiteten. In diesen Räumen war Herr Lobmeyer ein Elegant, der von Literatur und Musik sprach, nichts zu berücksichtigen schien, was direkt auf Geldgewinn abzielte, und den großmütigen Mäzen für Künste und Wissenschaften spielte. Aber dieser glänzende, geschmückte, parfümierte Herr Lobmeyer wurde, ein paar Stufen herabsteigend, ein schmutziger, kleiner Rabulist, voll Tücke und List, und voll von Neid, Geiz, Lästerung und Geldgier. Hier unten verbrannte er die Lichtstümpfchen, die oben übrig geblieben waren, hier unten trank er, und er gönnte dabei nicht einmal seinem Vater die Gesellschaft, die Weinreste auf, die er oben von der Tafel räumte, hier unten erpresste er in Groschen, was er oben in Talern großmütig verschenken musste, um sich einen Ruf zu gründen, hier unten mussten ihm, in barem Geld gemünzt, die schönen Redensarten, die höflichen Händedrücke, das Lächeln vornehmer Klienten, und die poetische Bildersprache der großen Welt, auf den wurmzerfressenen Holztisch hingezählt werden. Der Herr Lobmeyer des Erdgeschosses besoldete den Herrn Lobmeyer des ersten Stockwerks, wie eine Seiltänzertruppe einen geschickten Possenreißer besoldet. Herr Lobmeyer im Erdgeschoss lachte oft über seine Possenreißerrolle im ersten Stock.

Ein großer Moment im Leben dieses Mannes war erschienen. Diese Nacht, die er hier einsam verbrachte, musste Früchte tragen, deren Reichtum und Fülle als der segensreichste Schatz im Magazin seiner jahrelangen Praxis aufgestapelt werden sollten. Ein Scharfblick seltener Art war nötig, um in einem Fall wie diesem, den rechten Weg einzuschlagen. Diesen Scharfblick besaß Herr Lobmeyer. Die kleine, dicke, gnomenhafte Figur, wie sie sich jetzt vom Stuhl erhebend an die Wand lehnte und den Pfeifenstummel im Mund mit zurückgeworfenem Kopf in unmäßigem Triumph vor sich hinstarrte, plötzlich in der Stille der Nacht ein lautes, heiseres Gelächter ausstieß, gab ein Bild mit ganz eigentümlicher, greller Färbung. Herr Lobmeyer hatte die Aussicht vor Augen, plötzlich und mit einem glücklichen Schlag ein gemachter Mann zu werden. Die Mühsale seiner Jugend, die schmutzigen, kleinen Gewinne, die halb erbettelten, halb erpressten kleinen Profitchen seiner früheren Industrie sanken in ein verächtliches nichts vor dem Glanz der siegreichen Unternehmung, die er nun beabsichtigte. Je länger er sich seinen hochfliegenden Plänen überließ, eine desto größere Festigkeit und Sicherheit nahmen sie an. Es war gewiss, das Schicksal hatte ihn ausersehen, in diesem Handel, den Stolz, Anmaßung und Ränkesucht führten, sich die goldene Beute vorwurfsfrei zuzueignen. Dank sei es einigen köstlichen Zufälligkeiten, die seinen Scharfsinn zur rechten Zeit unterstützten, Dank diesen alten, vergessenen, törichten Verwandten, die nun zum ersten Mal in Herrn Lobmeyers Augen eine Wichtigkeit erlangten, wie sie kein Fürst, kein Krösus für ihn hatte, Dank sei es dem zufälligen Besuch, den er der kleinen, gutmütigen Dichterin machte, und wo er gelegentlich eine Geschichte erfuhr, die nun das Fundament seines Glückspalastes bildete.

Bis hierher in seinen Meditationen gelangt, legte er den Pfeifenstummel beiseite und schritt, die Arme auf der Brust gekreuzt, mit triumphierenden Schritten den kleinen Raum der Stube auf und ab. Endlich stieß er einen höhnenden Laut aus, indem er rief: »Ein Tor wäre ich, wenn ich diese Summe annähme, während sie mir dort verdoppelt geboten werden wird. Ich will eine Leibrente haben, eine Leibrente, die mich für immer sicher stellt und meinem Alter Ruhe schafft. Ja, eine Leibrente, und dass sie genügend ausfalle, dafür will ich sorgen. Ich will dieses enge, schmutzige Geschäft verlassen, ich will, wie der alte Narr sagte, als er von vergangenen Tagen träumte, dem Glück, dem Genuss im Schoß sitzen. Ich will diese stolze Klasse demütiger, die in mir nichts sah als den kleinen, höflichen, geldgierigen Rabulisten! Ich will sie zwingen, vor meinem Reichtum, meinem Glanz das Knie zu beugen, ich will ihnen an Verachtung und Verdacht alles wieder zurückgeben, was sie mich empfinden ließen, als ich noch arm und getreten, zum ersten Mal meine Firma im Geräusch der Börse demütig umhertrug, und die schmutzigsten Aufträge, die auf dem Boden lagen, weil sie niemand aufheben wollte, mit Entzücken und Dankbarkeit auflas. Ja, diese Jahre der Schmach will ich nun rächen. In Gold will ich wühlen, und die Schande dieser Hochmütigen soll das Brot sein, von dem ich meinen Leib mäste.«

Der Rest der Nacht war mit diesem Selbstgespräch vergangen. Als die Laden des Büros geöffnet wurden, fiel der erste Morgenschimmer auf das hässliche, bleiche und erregte Antlitz des Geizigen. Seine breitschultrige Gestalt lehnte noch immer gegen das Gitter des Büros. Seine Rechte wühlte in der aufgeknöpften Weste und in dem losen Hemdkragen. Das rötliche Haar lag geordnet um die gefurchte Stirn. Hohn, Triumphgrinsen und hinstarrendes Grübeln prägte sich in den Zügen aus. Der Bürodiener sah seinen Herrn mit einer zweifelhaften und besorgten Miene scheu von der Seite an; doch gewohnt, nie mit ihm ein Wort anders, als wo es das dringendste Bedürfnis heischte, zu sprechen, stellte er stillschweigend die Stühle an der Wand an ihren Platz, und ordnete die Karten und Kurszettel am Gitter.

In diesem Augenblick sah man die gebückte Gestalt des alten Lobmeyer, mit dem Korb am Arm, dem Fenster vorbeischleichen. Er wagte es nicht, hineinzublicken, denn er hatte sich um eine Viertelstunde verspätet, ein Fehler, den der Sohn sonst streng zu rügen pflegte, doch heute, merkwürdiger Weise unbeachtet ließ. Auch der überwachte und eilig herbeistürzende Schreiber, Herr Thomson, erhielt für seinen demütigen Gruß nur einen flüchtigen, gebieterischen Wink, und keinen Vorwurf, wie er erwartet hatte. Herr Lobmeyer musste heute etwas haben, was ihn besonders beschäftigte. Es war ungewöhnlich, Herrn Lobmeyer in dieser Laune zu sehen.

Im Speisezimmer des Advokaten versammelten sich um die Mittagstunde drei Gäste, die gegenseitig wenig Behagen aneinander fanden. Die Dichterin, nachdem sie ihr kleines, blaues, etwas zerdrücktes Hütchen abgelegt und ihren Schal drapiert hatte, nahm auf einem Sessel Platz und blätterte in einem Band Kupferstiche, indem sie über das Buch hinüber die derbe Gestalt eines Mannes beobachtete, der an der Wand Bilder ansah und sich in die Geschichte des verlorenen Sohnes vertieft zu haben schien. Dies war der ehrenwerte Viehhändler, der über das Besitztum einer Wiese mit seinen nächsten Blutsverwandten in Zerwürfnisse geraten war. Ohne Zweifel, ein sehr beklagenswerter Umstand und eine Begebenheit, die in dem Dorf, wo der Treffliche zu Hause war, dem Pfarrer zu unzähligen erbaulichen Betrachtungen und den Gevatterinnen zu sehr tief eingehenden Erörterungen über die Unhaltbarkeit verwandtschaftlicher Bande Veranlassung gab. Am Fenster stand ein Mann, den wir schon kennen. Es war der Kriminalrat Liebfreund. Er fand, dass der Advokat einen argen Verstoß begangen hatte, ihn in eine solche Gesellschaft zu bringen, doch nahm er sich vor, weil er seinem mächtigen Freund einige Verbindlichkeiten schuldig war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er reichte der Dichterin den Arm, als man zur Tafel ging.

Nach derselben wurde die Dichterin von ihrem Verwandten in ein besonderes Kabinett geführt, wo der Kaffee auf dem Tisch stand. Fräulein Annette Zobel hatte sich anfangs in keiner behaglichen Stimmung befunden. Die Einladung ihres Vetters, der sich nie viel um sie bekümmert hatte und dessen ganze Lebens- und Denkweise nichts weniger als mit der ihren übereinstimmend war, hatte sie überrascht. Sie war anfangs Willens gewesen, sie abzulehnen. Aber die Hoffnung, ihrem Schützling zu nützen, bestimmte sie dennoch, in das Haus des reichen Mannes hinzugehen.

»Ich werde dort sitzen«, sagte sie zu ihrer Dienerin, »wie Esther an der Tafel des übermütigen Haman saß. Ich werde von Gold und Silber speisen, werde hoffärtige Reden anhören, über Könige und Fürsten, über die herrschenden Zeitläufe werde ich meine Meinung sagen müssen, und nichts als Übermut und Politik wird über meine Lippen strömen. Dazu werde ich mein gelbes Kleid anlegen, mit den blitzenden Sternchen. Meinem Schal werde ich einen gewissen Wurf geben, dass er kokett und lüstern im Nacken hängt, wie ich es gesehen habe, dass vornehme Damen es bei wollüstigen Schmäusen der Art tun. Ich werde Böses über meine Nebenmenschen reden und meine Augen mit großer Leichtfertigkeit nach den Männern werfen. Ich werde aufstehen mit Geräusch und den Stuhl hinter mich stoßen, und dann werde ich anmutig und graziös mit schwankenden Hüften am Arm eines Kavaliers in das Zimmer schaukeln, wo man Kaffee serviert. O, das alles, und noch viel mehr, werde ich tun, deinetwillen, teure Diane, armes Kind, unglücklich Betrogene und Verstoßene. Ach, armes, armes Kind. Du hast mein Herz gerührt, du! Und seitdem du fort bist, ist es einsam im Schloss der armen Annette. Die Vöglein singen nicht mehr wie früher, der Salbei und das Geranium duften nicht mehr wie damals, als deine kleinen, weißen Hände es pflegten. Aber mein mächtiger Vetter, der Rechtsgelehrte, gerührt von deiner Geschichte, die ich ihm erzählte; hat versprochen, deines Schicksals sich anzunehmen, dein Recht vor der Welt zu vertreten. Ich eile hin, ihm nochmals alles zu erzählen, was ich von dir weiß. Darum schmeichle ich ihm, darum sitzt Esther an dem Tisch Hamans! Darum!«

Die Dichterin hatte die eitle Rolle, die sie sich vorgenommen hatte, bei Tafel gespielt. Sie hatte die Honneurs am Tisch ihres Vetters gemacht, die üble Laune des Kriminalrats verscheucht, sie hatte anmutige Scherze auf das einsame Junggesellenleben desselben vorgebracht und gelitten, dass man sie verdächtigte, diese unbesetzte Stelle einnehmen zu wollen. Mit unbeschreiblicher Grazie hatte sie mit dem Viehhändler getändelt und zuletzt sogar mit dem Handschuh nach ihm geschlagen, weil man allgemein fand, dass er zudringlich wurde. Aber mitten unter diesen lockeren Späßen, unter diesen kalten und frivolen weltmännischen Manieren sah sie in das trübe, müde Auge des alten Vaters des Advokaten. Sie schenkte ihm eigenmächtig das Glas voll Wein, trotz dessen, dass eine kleine, abwehrende Bewegung des Sohnes an ihren Arm streifte.

Als die Männer aufstanden, konnte sich der Viehhändler nicht enthalten, auszurufen: »Sehe doch einer dieses alte verteufelte Mädchen, wie sie lustig ist und wie sie uns lustig gemacht hat. Ich habe fast über das geputzte Wunder meine Wiese und meinen Prozess vergessen.«

Aber im Kabinett legte Annette Zobel ihre Scherze und ihre so gut gelungene Toilette der Eitelkeit ab. Hier bat sie nur in den einfachsten Ausdrücken, die ein bewegtes und bekümmertes Herz eingeben können, ihren Verwandten, dem armen Kind seinen Schutz zu leihen. Herr Lobmeyer hörte mit großer Aufmerksamkeit zu und nickte dann beifällig.

Als Annette nach Hause ging, neigte sich der kurze Herbsttag schon zu seinem Ende. Ganz Berlin schwamm in einem jener anhaltenden Nebel, die zwar selten kommen, aber dann auch desto beschwerlicher sind. Die Reiterstatue des großen Kurfürsten auf der Brücke schien in einem Meer zu schwimmen, aus dem nur einzelne Gibelspitzen der Paläste hervorragten. Die Menschen strichen, in ihre Mäntel vermummt, wie flüchtige Schatten durch das düstere Gewoge der Nebel. Die Dichterin blieb stehen. Ihre große, in einen schwarzledernen Handschuh gehüllte Hand erhebend, rief sie leise einen prophetischen Spruch vor sich hin, der ungefähr ausdrückte, dass eine Zeit kommen würde, wo die stolze Metropole in Wirklichkeit wie jetzt zum Schein unter den Fluten des Meeres verschwinden, und dass der Sand dann zu seiner ursprünglichen Bestimmung, als Meeresboden, wieder zurückkehren würde, nachdem er Jahrhunderte lang eine eitle und vorwurfsvolle Rolle in der Geschichte gespielt und sich unterstanden hatte, in den Augen und Nasen der berühmtesten Philosophen und Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts sich festzusetzen und ihre Atmungsorgane zu verstopfen.

Am anderen Morgen befand sich Herr Barnabas Lobmeyer wiederum auf der Reise.