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Jimmy Spider – Folge 31

Jimmy Spider und das Spinnennetz

Eine Wie­se an sich ist ja be­kannt­lich nichts Ge­fähr­li­ches – es sei denn, man ist All­er­gi­ker, dann kommt das schnu­cke­li­ge Grün eher ei­ner ge­wal­ti­gen To­des­fal­le gleich. Aber je­der kern­ge­sun­de Mensch (wie ich es bin) stellt sich un­ter ei­ner herr­li­chen grü­nen Wie­se ei­nen pa­ra­die­si­schen Ort vor, durch den man la­chend he­rum­spa­zie­ren, pick­ni­cken oder gar im ho­hen Gras manch nicht ganz ju­gend­freie Din­ge trei­ben kann.

In die­sem Fall al­ler­dings war die Wie­se, um die es ging, am ehes­ten mit ei­nem Schwar­zen Loch zu ver­glei­chen. Ein­em, in dem schon meh­re­re Men­schen ver­schwun­den wa­ren.

Nun, an sich nichts Spek­ta­ku­lä­res, schließ­lich ver­schwan­den in Wäl­dern und Wie­sen am lau­fen­den Band Men­schen (wie ich nicht erst seit mei­nem letz­ten Fall wuss­te). Meist hat­te dies mit ir­gend­ei­nem monst­rö­sen Mons­ter oder mör­de­ri­schen Mör­der­tier zu tun, das sich an dem war­men Fleisch sei­ner Op­fer la­ben woll­te. Aber wie mein Chef mir in sei­ner un­nach­ahm­lich freu­di­gen Art be­rich­tet hat­te, hat­te es bei dem letz­ten Fall ei­nen Zeu­gen ge­ge­ben, der be­rich­tet hat­te, dass sein Freund vor sei­nen Au­gen in we­ni­gen Se­kun­den auf die Grö­ße ei­nes ge­mei­nen Kä­fers ge­schrumpft und dann sei­nem Blick ent­schwun­den war, als er ir­gend­ei­ne Art Lin­se durch­schrit­ten hat­te. Nun, im­mer­hin war die Er­klä­rung et­was ein­falls­rei­cher als die Mons­ter­ge­schich­ten, die die TCA sonst zu hö­ren be­kam. Von den UFO-Sto­rys ganz zu schwei­gen.

Zu­dem war die­ser Zeu­ge rein zu­fäl­lig ein Agent des aust­ra­li­schen Ge­heim­diens­tes, der ASIO, und wur­de da­durch als et­was glaub­haf­ter ein­ge­stuft als der üb­li­che Hin­ter­wäld­ler, der sich durch spek­ta­ku­lä­re Aus­sa­gen ins Ram­pen­licht stel­len woll­te.

Und eben je­ner Zeu­ge, der von Ge­burt an Andrew Cole hieß, stand nun ne­ben mir und be­gut­ach­te­te das Cor­pus De­lic­ti: die Wie­se.

Der etwa drei­ßig Jah­re alte Mann hat­te kurz ge­schnit­te­nes brau­nes Haar und ein schma­les, aber durch­trai­niert wir­ken­des Ge­sicht, in dem sich die An­span­nung ob des Er­leb­ten wi­der­spie­gel­te. Er war ein paar Zen­ti­me­ter klei­ner als ich und trug ne­ben ei­nem schwar­zen T-Shirt noch eine kur­ze blaue Hose, aber im­mer­hin fes­tes Schuh­werk. An sei­nem Rü­cken ver­steckt kleb­te sei­ner Aus­sa­ge nach eine Pis­to­le Mar­ke Smith & Wes­son.

Im Ge­gen­satz zu ihm trug ich mei­nen üb­li­chen An­zug und das eben­so üb­li­che Schuh­werk. Lei­der hat­te mein Chef ver­ges­sen, mir mit­zu­tei­len, dass es in Aust­ra­li­en ge­ra­de Som­mer war, wäh­rend bei uns in Eng­land sich Hund und Schnee­ha­se Gute Nacht sag­ten. Und da ich da­von aus­ging, kei­nen aus­ge­dehn­ten Ur­laub in Down Un­der ein­le­gen zu kön­nen, hat­te ich auf den Kauf som­mer­li­cher Klei­dung ver­zich­tet.

So stand ich hier, mein Kör­per von ei­ner dün­nen Schicht aus Schweiß über­zo­gen, auf ei­ner ein­sa­men Wie­se in der Nähe von Bris­ba­ne und such­te mit ei­nem aust­ra­li­schen Ge­heim­agen­ten nach ei­ner schein­bar un­sicht­ba­ren Lin­se. Konn­te man sich eine schö­ne­re Be­schäf­ti­gung vor­stel­len?

»Und hier ist es pas­siert?«, frag­te ich und riss mich da­mit selbst aus mei­nen ver­schlun­ge­nen Ge­dan­ken­gän­gen.

Andrew Cole nick­te. »Na ja, zu­min­dest un­ge­fähr. Sie wis­sen schon – die drit­te Puste­blu­me von links … so ge­nau kann man sich das auf ei­ner Wie­se nun auch nicht mer­ken.«

»Na­tür­lich«, ant­wor­te­te ich höf­li­cher­wei­se, ob­wohl ich mir ei­gent­lich eine ge­nau­e­re Be­schrei­bung er­hofft hat­te.

All­er­dings war mein Wis­sens­durst noch nicht be­en­det. »Was mich noch in­te­res­sie­ren wür­de … was ha­ben Sie hier ei­gent­lich ge­macht? Nur ein harm­lo­ser Spa­zier­gang?«

»Ganz ge­nau. Nur ein Spa­zier­gang mit ei­nem Freund.« Da er das letz­te Wort noch ext­ra be­ton­te, konn­te ich mir mei­nen Teil den­ken. So auf­ge­schlos­sen sich ei­ni­ge Staa­ten auch ga­ben, so kon­ser­va­tiv dach­ten sie doch ins­ge­heim, be­son­ders was ihre Agen­ten an­ging. Nun, ich hat­te per­sön­lich nichts da­ge­gen, aber ich wür­de es trotz­dem für mich be­hal­ten.

»Al­les klar«, ant­wor­te­te ich.

Ich stell­te mei­nen Ein­satz­kof­fer, den ich bis­her im­mer noch fest­ge­hal­ten hat­te, ne­ben mir im ho­hen Gras ab. Mein treu­er Ge­fähr­te ent­hielt dies­mal ne­ben der üb­li­chen Be­set­zung (Wod­ka­fla­sche, Er­satz­mu­ni­ti­on) noch ei­nen der von mir heiß ge­lieb­ten Mini-Flam­men­wer­fer so­wie ein zu­sam­men­klapp­ba­res Sa­mu­rai­schwert. So konn­te ich jeg­li­cher monst­rö­sen Wie­sen­brut zu Lei­be rü­cken.

»Wie sieht ei­gent­lich ihr Plan aus?«, frag­te mich mein aust­ra­li­scher Kol­le­ge.

»Nun ja … wir ma­chen die Lin­se oder was auch im­mer aus­fin­dig und an­schlie­ßend un­schäd­lich. An was hat­ten Sie sonst noch ge­dacht?«

Cole bli­cke mich re­la­tiv ver­dutzt an. »Ihr Eng­län­der geht aber ziem­lich di­rekt an die Sa­che he­ran.«

»Ei­gen­tlich bin ich Schot­te.«

In­zwi­schen war mir aber so et­was wie eine Idee ge­kom­men. Wenn es sich bei der Ur­sa­che für das Ver­schwin­den (oder Vers­chrump­fen) der Men­schen wirk­lich um eine Lin­se han­deln soll­te, muss­te sie auch Licht re­flek­tie­ren. Zwar schien die Son­ne mit un­barm­her­zi­ger In­ten­si­tät vom Him­mel, aber viel­leicht aus ei­nem Win­kel, von dem aus das Licht nicht re­flek­tiert wur­de.

Ich griff mir in mei­ne rech­te Ja­cken­ta­sche und zog eine klei­ne Ta­schen­lam­pe her­vor. Be­vor ich sie ein­schal­te­te, dreh­te ich den Lam­pen­kopf ei­ni­ge Ras­ten he­rum, um die Leucht­kraft zu bün­deln.

Mitt­ler­wei­le hat­te auch Andrew Cole mit­be­kom­men, was ich da am Wer­keln war. Da er nicht wei­ter nach­frag­te, ging ich da­von aus, dass er wuss­te, was ich vor­hat­te. Oder er war ein we­nig schüch­tern.

Schließ­lich schal­te­te ich die Lam­pe ein. Zu­nächst ein­mal tat sich nichts, was al­ler­dings ob der star­ken Son­nen­ein­strah­lung we­nig ver­wun­der­lich war.

Ich ließ den nicht vor­han­de­nen Licht­ke­gel über die Wie­se wan­dern. Au­ßer ei­nem Ka­mel, das ei­ni­ge Dut­zend Me­ter ent­fernt gras­te und uns arg­wöh­nisch be­obach­te­te, war da­bei nichts Au­ßer­ge­wöhn­li­ches zu ent­de­cken.

Bein­ahe hät­te ich die Leuch­te schon wie­der aus­ge­schal­tet, als ich doch noch Er­folg hat­te. Etwa zehn Me­ter vor uns er­schien in Hüft­hö­he über der Erde schwe­bend ein selt­sa­mes Ge­bil­de. Zu­erst dach­te ich an ein durch­sich­ti­ges Ei, bis ich er­kann­te, dass die­ses Ei nur eine Sei­te hat­te. Es gab die­se Lin­se also wirk­lich.

Mit mei­ner rech­ten Hand hob ich den Ein­satz­kof­fer wie­der an und schritt lang­sam auf die Er­schei­nung zu. Andrew Cole folg­te mir mit ei­nem ge­wis­sen Si­cher­heits­ab­stand.

»Sei­en Sie vor­sich­tig!«, rief er mir hin­ter­her.

»Kei­ne Sor­ge.«

Nach­dem ich mich der Lin­se bis auf zwei Me­ter ge­nä­hert hat­te, blieb ich zu­nächst ein­mal ste­hen.

Die Lin­se oder das lin­sen­ar­ti­ge Ge­bil­de mach­te wirk­lich den Ein­druck ei­ner völ­lig nor­ma­len Lin­se. Au­ßer dass sie mit­ten auf ei­ner Wie­se in etwa ei­nem hal­ben Me­ter Höhe über dem Bo­den schweb­te (statt im Koch­topf zu schwim­men oder mit ei­nem Ge­stell auf der Nase zu sit­zen).

Mein aust­ra­li­scher Kol­le­ge trat wie­der ne­ben mich. »Und, was den­ken Sie?«

»Ich den­ke, wir soll­ten mal tes­ten, was die­ses Ding so al­les ver­kraf­tet«, ant­wor­te­te ich grin­send.

Ich zog mei­ne De­sert Eag­le und ent­si­cher­te die Waf­fe.

Andrew Cole war wohl nicht ganz wohl bei mei­nem Vor­ha­ben. »Wäre es nicht bes­ser, wir wür­den ein Ex­per­ten-Team ru­fen, das die Lin­se un­ter­sucht, statt sie zu zer­stö­ren? Wer weiß, was wir da­mit aus­lö­sen.«

»Kei­ne Sor­ge. Wenn wir sie zer­stö­ren, ist al­les gut, und wenn wir da­bei um­kom­men soll­ten, sind die Fol­gen so­wie­so nicht mehr un­ser Prob­lem.«

»Das be­ru­higt mich un­ge­mein«, gab mein aust­ra­li­scher Kol­le­ge leicht ver­un­si­chert zu­rück.

Lang­sam hob ich mei­ne rech­te Hand an und ziel­te mit der Waf­fe auf die Mit­te der Lin­se. Dann drück­te ich ab.

Die Ku­gel – flog ein­fach hin­durch. Statt der Lin­se traf das Ge­schoss das Hin­ter­teil des Ka­mels, wel­ches da­rauf­hin wild blö­kend da­von­lief.

Als ich schon zu wei­te­ren Mit­teln grei­fen woll­te, zeig­te die Lin­se plötz­lich doch noch eine Re­ak­ti­on. Ohne ein Ge­räusch von sich zu ge­ben, wuchs das Ge­bil­de im­mer wei­ter an. In­ner­halb we­ni­ger Se­kun­den hat­te es schon die Grö­ße ei­nes Hau­ses er­reicht. Gleich­zei­tig rück­te sie im­mer nä­her.

Lang­sam wur­de mir doch et­was mul­mig. Sah so das Ende aus? Erd­rückt von ei­ner rie­si­gen Lin­se?

Mit dem Ge­bil­de schos­sen plötz­lich auch die Gras­hal­me in die Höhe, so­dass sie uns schon bald me­ter­hoch über­rag­ten. Nur – wur­den sie wirk­lich grö­ßer oder wir viel­mehr klei­ner?

In die­sem Mo­ment schoss mir wie­der durch den Kopf, was mit Andrew Coles Freund pas­siert war: Er war auf die Grö­ße ei­nes Kä­fers zu­sam­men­ge­schrumpft. Es schien, als wür­de uns nun das­sel­be Schick­sal blü­hen.

»Ähm, Mr Spi­der?«

»Ja?«

»Kor­ri­gie­ren Sie mich, aber sind wir ge­ra­de auf Mi­ni­atur­grö­ße ge­schrumpft?«

Der ASIO-Agent schien wirk­lich von der al­ler­hells­ten Sor­te zu sein. »Sie ha­ben es er­fasst«, ant­wor­te­te ich ihm.

Mitt­ler­wei­le schien der Ver­klei­ne­rungs­pro­zess gestoppt wor­den zu sein. Die Gras­hal­me hat­ten aus un­se­rer Sicht nun etwa die dop­pel­te Grö­ße von Mam­mut­bäu­men, wäh­rend Stei­ne und Erd­klum­pen me­ter­ho­he Hin­der­nis­se dar­stell­ten. An die Tier­welt hier un­ten woll­te ich lie­ber gar nicht den­ken.

Als hät­te die Na­tur mei­nen Ge­dan­ken­gang er­ra­ten, bran­de­te plötz­lich ein ge­wal­ti­ges Sir­ren auf. Über uns er­schien ein rie­si­ges Un­ge­tüm – eine Li­bel­le. Das Tier schien sich al­ler­dings nicht son­der­lich für uns zu in­te­res­sie­ren. Nach ei­nem kur­zen Stopp flog das In­sekt wie­der da­von.

»Das war knapp«, fass­te ich mei­ne Ge­dan­ken in Wor­te.

Andrew Cole nick­te mir zu. »Und was ma­chen wir jetzt?«

Ich dach­te kurz nach, be­vor ich eine Ant­wort gab. »Wir soll­ten in die Rich­tung lau­fen, aus der wir ge­kom­men sind. Viel­leicht kön­nen wir so den Ein­zugs­be­reich der Lin­se ver­las­sen.«

»Soll­ten wir nicht eher nach Co­lin su­chen?«

»Ih­rem Freund?«

»Ja.«

»Und wie stel­len Sie sich das vor? Die Wie­se ist an sich schon groß, aber jetzt dürf­te es Jah­re dau­ern, um über­haupt mal die­sen Dschun­gel zu durch­que­ren. Au­ßer­dem wer­den wir wohl kaum die­sen Nas­horn­kä­fer dort drü­ben nach dem Weg fra­gen kön­nen.«

Der von mir an­ge­spro­che­ne Ge­sel­le schien eben­falls nicht an ei­ner ge­pfleg­ten Kon­ver­sa­ti­on in­te­res­siert zu sei­nen. Statt­des­sen trot­te­te er äu­ßerst ge­mäch­lich zwi­schen zwei Gras­hal­men da­von.

Ge­ra­de als ich mich in die Rich­tung auf­ma­chen woll­te, aus der wir ge­kom­men wa­ren und in der sich hof­fent­lich ein Weg aus die­ser miss­li­chen Lage be­fand, er­wisch­te es uns. Ein kräf­ti­ger Wind­stoß fuhr über die Wie­se hin­weg und riss uns ein­fach mit sich.

Ich hör­te noch den Schrei mei­nes Be­glei­ters, als ich schon halt­los durch die Luft wir­bel­te. Im­mer­hin hat­te ich so­wohl die De­sert Eag­le als auch mei­nen Ein­satz­kof­fer fest­hal­ten kön­nen, aber das half mir in die­ser Si­tu­a­ti­on auch nicht wei­ter.

Im­mer wie­der ging es rauf und run­ter, hin und her, so­dass ich ir­gend­wann nicht mehr wuss­te, wo nun oben oder un­ten war.

Doch wie al­les (au­ßer viel­leicht der Wurst) hat­te auch die­se Rei­se ir­gend­wann ein Ende. Plötz­lich hing ich ein­fach mit­ten in der Luft fest. Ei­ni­ge Male wipp­te mein Kör­per noch hin und zu­rück, dann war mein Flug vor­bei.

Ich ver­such­te, mich ir­gend­wie auf­zu­rich­ten, aber es klapp­te nicht. Auf ir­gend­ei­ne Wei­se hing ich fest. Nur mei­nen rech­ten Arm konn­te ich noch im­mer re­la­tiv frei be­we­gen.

Müh­sam dreh­te ich mei­nen Kopf nach rechts. Das Ers­te, was ich sah, ließ mich zu­sam­men­zu­cken – ein mensch­li­ches Ske­lett. Das Zwei­te, was ich be­merk­te, war die Tat­sa­che, dass die­ses Ske­lett nicht etwa in der Luft schweb­te, son­dern von di­cken, wei­ßen Fä­den ge­hal­ten wur­de.

Ein Spin­nen­netz …

Ir­gend­wie hat­te ich es mir schon fast ge­dacht.

Die Kno­chen ne­ben mir wa­ren wahr­schein­lich die Über­res­te von Andrew Coles Freund Co­lin. Und nun soll­te ich wohl der nächs­te Le­cker­bis­sen für den Be­woh­ner die­ses Net­zes wer­den.

Noch war al­ler­dings nichts von der Spin­ne zu se­hen. Das gab mir die Mög­lich­keit, nach ei­nem Weg aus mei­ner miss­li­chen Lage zu su­chen.

Zu­nächst ein­mal steck­te ich mir die De­sert Eag­le wie­der in die Ja­cke. Da­nach ver­such­te ich, den Ein­satz­kof­fer ir­gend­wie in den Be­reich mei­ner rech­ten Hand zu brin­gen. Lei­der konn­te ich mei­nen lin­ken Arm kaum von den kleb­ri­gen Fä­den lö­sen.

Doch ich gab nicht auf. Im­mer stär­ker zog ich den Arm nach oben, wäh­rend sich mein Ge­sicht vor An­stren­gung im­mer wei­ter ver­zerr­te. Und tat­säch­lich – es ge­lang mir, den Arm vom Netz zu lö­sen.

Nun hat­te ich zu­min­dest et­was mehr Be­we­gungs­frei­heit. Ich klapp­te den Ein­satz­kof­fer auf und zog das Sa­mu­rai­schwert her­vor. Mit zwei Grif­fen ließ es sich aus­ei­nan­der­klap­pen, so­dass ich ein voll­wer­ti­ges Schwert in der rech­ten Hand hielt.

So­fort schlug ich auf ei­nen der Fä­den ein – doch der er­hof­fe Er­folg blieb aus. Der Fa­den war sta­bi­ler, als er aus­sah. Wie­der und wie­der schlug ich zu, aber eine Wir­kung war nicht zu se­hen. Schließ­lich hol­te ich noch ein letz­tes Mal aus und hieb mit al­ler Kraft auf den Fa­den ein. Doch auch dies­mal hielt der Fa­den der Klin­ge stand. All­er­dings war die Ge­gen­wir­kung des Strangs der­art stark, dass mir das Schwert aus der Hand ge­prellt wur­de, als der Fa­den zu­rück­schwang.

Un­ge­bremst fiel mei­ne Waf­fe dem Erd­bo­den ent­ge­gen – bis plötz­lich ein lau­ter Schmerz­ens­schrei er­klang. »Arggh!«

Ich konn­te mir schon den­ken, wer da ge­schrien hat­te, muss­te aber zu­ge­ben, dass ich schon kaum mehr mit ihm ge­rech­net hat­te. »Mr. Cole?«

»Mr. Spi­der, sind Sie das?«

»Nein, der Weih­nachts­mann. Ich bin letz­tes Jahr beim Rück­flug hän­gen ge­blie­ben.«

Mein aust­ra­li­scher Kol­le­ge über­ging mei­ne Be­mer­kung ein­fach. »Wie geht es nun wei­ter?«

»Zu­nächst ein­mal – sind Sie ver­letzt?«

»Eine klei­ne Schnitt­wun­de am Arm, mehr nicht.«

»Gut, dann hö­ren Sie zu: Ich wer­de uns hier he­raus­bren­nen. Hal­ten Sie so lan­ge noch durch.«

»Was soll das hei­ßen?«

Ich gab ihm eine Ant­wort auf mei­ne Wei­se. Mit der rech­ten Hand zog ich eine wei­te­re Waf­fe aus dem Ein­satz­kof­fer her­vor: den Mini-Flam­men­wer­fer. Wenn die­ses Ge­rät nicht für un­se­re Be­frei­ung sor­gen konn­te, wuss­te ich auch nicht mehr wei­ter.

Dies schien al­ler­dings auch je­mand an­de­res mit­be­kom­men zu ha­ben. Das Netz er­zit­ter­te im­mer wie­der leicht. Die Schwin­gun­gen wur­den nach und nach im­mer stär­ker. Soll­te etwa …?

Mei­ne Ver­mu­tung be­stä­tig­te sich, als von links plötz­lich eine Spin­ne oder ein Spin­ne­rich in mei­nem Blick­feld er­schien. Es war ein schwar­zes Tier mit rie­sig wir­ken­den Vor­der­bei­nen, das im­mer nä­her an mich he­ran ge­riet.

Als es nur noch we­ni­ge Me­ter (oder real eher Zen­ti­me­ter) von mir ent­fernt war, rich­te­te es plötz­lich sei­ne Vor­der­bei­ne auf. Mein Blick fiel auf den Bauch der Spin­ne, auf dem sich ein röt­li­ches Mus­ter be­fand, das mich ent­fernt an eine Sand­uhr er­in­ner­te.

Ich kann­te mich mit Spin­nen nicht all­zu gut aus (an­ders als mein Name ver­mu­ten ließ), aber mit Si­cher­heit woll­te mich das Tier mit die­ser Ge­bär­de nicht freund­lich emp­fan­gen.

Mit gro­ßer An­stren­gung brach­te ich die Mün­dung der Waf­fe, die ent­fernt an ei­nen Föhn er­in­ner­te, in die Rich­tung, in der sich die Spin­ne be­fand.

Als ich das Tier ge­nau an­vi­sie­ren konn­te, drück­te ich ab.

Der Flam­men­strahl zuck­te auf das Tier zu und leck­te über den un­ge­schütz­ten Un­ter­leib hin­weg.

Die Spin­ne gab eine Art sir­ren­den Schrei von sich, wäh­rend sie bren­nend zu­rück­tau­mel­te.

Plötz­lich er­schien ne­ben dem bren­nen­den Tier eine zwei­te Spin­ne, die sich mit ho­hem Tem­po auf mich zu be­weg­te.

Wie­der drück­te ich ab. Doch dies­mal traf der Strahl die Spin­ne nicht. Statt­des­sen setz­te es das Netz in Brand, wor­auf­hin die zwei­te Spin­ne angst­er­füllt zu­rück­zuck­te.

Auch das Tier, das be­reits von dem Flam­men­strahl er­fasst wor­den war, hat­te Tei­le des Net­zes in Brand ge­setzt. Mit letz­ter Kraft tau­mel­te die Spin­ne über ihr gro­ßes Werk hin­weg, dass sie mit ih­ren letz­ten Be­we­gun­gen selbst zu zer­stö­ren be­gann.

Da ich von der zwei­ten Spin­ne kei­nen wei­te­ren An­griff er­war­te­te, dreh­te ich mich nach rechts. Wie­der be­tä­tig­te ich den Ab­zug des Flam­men­wer­fers.

Der Feu­er­strahl zuck­te er­neut über das Netz hin­weg und setz­te es auch an die­ser Stel­le in Flam­men.

Von links er­klang plötz­lich ein Zi­schen. Die noch le­ben­de Spin­ne hat­te es tat­säch­lich ge­schafft, die Flam­men zu um­ge­hen und in mei­ne Nähe zu ge­lan­gen. Ihr weit ge­öff­ne­tes Maul kam mei­nen Kopf lang­sam ge­fähr­lich nahe.

Er­neut hob ich den Flam­men­wer­fer an und drück­te ab. Es pas­sier­te – nichts. Of­fen­sicht­lich war der Tank mei­ner Waf­fe leer. Not­ge­drun­gen schleu­der­te ich sie der Spin­ne ein­fach ent­ge­gen.

Der Flam­men­wer­fer traf tat­säch­lich ei­nes der Au­gen. Das Tier zuck­te über­rascht zu­rück und gab mir da­mit noch eine Gal­gen­frist. Wenn nicht bald end­lich die Fä­den ris­sen, wür­de mich die Spin­ne doch noch er­wi­schen.

In­zwi­schen hat­te sich das Tier wie­der er­holt und ging er­neut zum An­griff über.

Has­tig griff ich mit mei­ner rech­ten Hand in den Ein­satz­kof­fer, zog die Wod­ka­fla­sche her­vor und warf sie (ob­wohl es mir in der See­le weh­tat) der he­ran­stür­men­den Spin­ne ent­ge­gen. Auch den Ein­satz­kof­fer selbst schleu­der­te ich auf sie zu.

Die bei­den Tref­fer ir­ri­tier­ten das Tier zu­min­dest für ei­ni­ge Se­kun­den. Und end­lich, die Fä­den lo­cker­ten sich.

Plötz­lich riss das Netz we­ni­ge Me­ter ne­ben mir auf. Ei­ner der bren­nen­den Fä­den wur­de durch die Span­nung em­por­ge­schleu­dert, traf die Spin­ne und schleu­der­te sie da­von.

Auch ich ge­riet in Be­we­gung. Von ei­ner Se­kun­de auf die nächs­te ver­spür­te ich um mich he­rum kei­ner­lei Druck mehr – ich stürz­te ab.

Wie ein Zir­kus­ar­tist wir­bel­te ich durch die Luft. Im­mer­hin er­kann­te ich, dass mein lin­kes Bein noch von ei­nem ein­zel­nen bren­nen­den Fa­den ge­hal­ten wur­de.

So stürz­te ich mit ei­nem hal­ben Loo­ping in die Tie­fe und da­mit aus­ge­rech­net di­rekt auf Andrew Cole zu, der noch im­mer wie eine Flie­ge im Netz hing.

Ich streck­te mei­ne Arme aus, griff nach ihm und hielt mich an sei­nem Rü­cken fest.

»Spi­der!«, schrie Cole.

»Höchst­per­sön­lich.«

»Was ha­ben Sie ge­tan?«

»Den Spin­nen Feu­er un­term Hin­tern ge­macht«, gab ich la­chend zu­rück.

In die­sem Mo­ment ris­sen auch die Fä­den, die Andrew Cole bis zu­letzt ge­hal­ten hat­ten. Schrei­end stürz­ten wir ge­mein­sam in Tie­fe – und di­rekt auf ei­nen Gras­halm, der bei uns für eine un­frei­wil­li­ge Rutsch­par­tie sorg­te, so­dass wir über den Halm hin­weg bis zum Erd­bo­den glit­ten.

Mein aust­ra­li­scher Kol­le­ge konn­te es nicht fas­sen, dass wir heil wie­der un­ten an­ge­kom­men wa­ren. »Wie … wie ist das mög­lich?«, stam­mel­te er.

Auch ich hat­te Mühe, mich wie­der zu sam­meln. »Ich den­ke, durch un­ser ge­rin­ges Ge­wicht war die Erd­an­zie­hungs­kraft schwach ge­nug, dass wir ohne gro­ße Ge­fahr zu Bo­den ge­glit­ten sind.«

Statt mir zu ant­wor­ten, zuck­te Coles Kopf he­rum. »Auf­pas­sen!«, schrie er plötz­lich und stürz­te zu Bo­den.

Als ich mei­nen Blick gen Him­mel wen­de­te, sah auch ich das Un­heil kom­men. Die Res­te des bren­nen­den Net­zes glit­ten leicht wie eine Fe­der dem Bo­den ent­ge­gen.

Ich ver­such­te, un­ter ei­nem grö­ße­ren Stein De­ckung zu fin­den. Über mir spür­te ich, wie die Hit­ze des Feu­ers den Bo­den er­reich­te.

Vor­sich­tig rich­te­te ich mich wie­der auf – und blick­te in ein Flam­men­meer. Das Gras, die Fä­den, die an­de­ren klei­nen Ge­wäch­se, al­les brann­te lich­ter­loh.

Auch Andrew Cole hat­te sich wie­der auf­ge­rich­tet und das In­fer­no be­merkt, das im Schein der lang­sam un­ter­ge­hen­den Son­ne schon fast apo­ka­lyp­ti­sche Züge an­nahm.

»Und was jetzt?«, frag­te Cole ver­zwei­felt, wäh­rend er sei­ne Smith & Wes­son her­vor­hol­te.

»Gute Fra­ge.«

Als wä­ren die Prob­le­me noch nicht groß ge­nug, er­klang er­neut ein Zi­schen.

Ge­mein­sam dreh­ten wir uns he­rum und blick­ten di­rekt auf die über­le­ben­de Spin­ne. Es muss­te die sein, die von dem bren­nen­den Fa­den er­wischt wor­den war, denn die an­de­re war si­cher­lich längst tot. Doch wie auch ihr Part­ner brann­te die­se Spin­ne lich­ter­loh.

Das hielt sie al­ler­dings nicht da­von ab, uns an­zu­grei­fen.

Ei­ner der rie­si­gen Vor­der­läu­fe zuck­te uns ent­ge­gen. In ei­nem Re­flex ge­lang es mir, mich zu du­cken. Das Bein zisch­te über mich hin­weg – und traf trotz­dem.

Andrew Cole hat­te nicht so schnell re­a­gie­ren kön­nen und wur­de voll er­wischt. Das bren­nen­de Bein stieß ihn me­ter­hoch in die Luft, bis er schrei­end he­rab­stürz­te, lei­der di­rekt auf ei­nen he­rum­lie­gen­den Stein. Das Ge­räusch, das da­bei entstand, fuhr mir durch alle Glie­der. Für ei­nen Mo­ment schloss ich die Au­gen, bis mir klar wur­de, dass sich die Spin­ne si­cher nicht mit ei­nem Op­fer zu­frie­den­ge­ben wür­de.

Und tat­säch­lich, das mör­de­ri­sche Tier sprang mit ei­nem ge­wal­ti­gen Satz auf mich zu.

Has­tig duck­te ich mich, so­dass die Spin­ne über mich hin­weg flog und ich nur von ei­ni­gen Flämm­chen ge­streift wur­de.

Wie­der dreh­te ich mich he­rum und sah das bren­nen­de Tier, das sich trotz sei­ner schwe­ren Ver­let­zun­gen er­neut auf mich zu be­weg­te.

Ich lief ei­ni­ge Schrit­te rück­wärts, nur um über ir­gend­ei­nen Ge­gen­stand zu stol­pern. Als ich mich wie­der auf­rich­te­te, sah ich, dass die­ser Ge­gen­stand nichts an­de­res als mein Sa­mu­rai­schwert war.

So­fort zog ich es aus dem Bo­den und trat der bren­nen­den Spin­ne ent­ge­gen.

Wie sich das Tier noch im­mer auf den Bei­nen hal­ten konn­te, war mir ein Rät­sel. Viel­leicht war es der mör­de­ri­sche Hass auf mich, viel­leicht ein­fach nur der letz­te Re­flex ei­nes ster­ben­den Tie­res. Es war mir im Mo­ment aber auch ziem­lich egal.

Er­neut zuck­te das rech­te Vor­der­bein auf mich zu. Doch dies­mal war ich ge­wapp­net. Be­vor mich das Glied tref­fen konn­te, schlug ich zu.

Mit ei­nem sau­be­ren Schnitt trenn­te die Klin­ge das Bein ab. Bläu­li­ches Spinn­en­blut sprit­ze mir ent­ge­gen.

Doch auch das zwei­te Vor­der­bein zuck­te auf mich zu. Mit ei­nem ge­wal­ti­gen Hieb wehr­te ich auch die­sen An­griff ab.

Die nun hand­lungs­un­fä­hi­ge Spin­ne zuck­te zu­rück und ver­such­te, aus mei­ner Reich­wei­te zu krab­beln. Doch die Be­we­gun­gen wur­den im­mer lang­sa­mer, und schließ­lich fiel das Tier bren­nend in sich zu­sam­men.

Das war also ge­schafft. Aber wie konn­te ich mei­ne ur­sprüng­li­che Grö­ße wie­der zu­rück­er­lan­gen?

Die Ant­wort nahm mir der Zu­fall oder viel­mehr der Wind ab. Wie­der husch­te eine leich­te Böe über die Wie­se, lösch­te das Feu­er und riss mich mit sich.

Um mich he­rum dreh­te sich al­les, und auch mein Ma­gen schien eine Ach­ter­bahn­fahrt hin­zu­le­gen, wäh­rend ich zwi­schen den zahl­rei­chen Gras­hal­men hin­durch flog.

Ohne dass ich es wirk­lich mit­be­kam, lan­de­te ich plötz­lich wie­der auf dem Erd­bo­den. Dies­mal al­ler­dings in Nor­mal­grö­ße. Die eben noch rie­sig an­mu­ten­den Gras­hal­me wur­den nun von mir ein­fach platt ge­drückt.

»Was für ein un­ge­heu­rer Zu­fall«, mur­mel­te ich vor mich hin, als ich da­ran dach­te, dass mich der Wind aus­ge­rech­net wie­der in Rich­tung der Lin­se ge­trie­ben hat­te.

»War es wirk­lich Zu­fall?«, frag­te eine Stim­me wie aus dem Nichts.

So­fort sprang ich auf die Bei­ne und blick­te mich um. An ei­nem di­cken Baum­stamm, kei­ne fünf Me­ter von mir ent­fernt, stand eine durch­sich­ti­ge Ge­stalt und nick­te mir lä­chelnd zu. Geo­ffrey McSha­dy …

Kaum zuck­te der Name durch mei­nen Kopf, war der Geist auch schon wie­der ver­schwun­den.

Leicht ver­wirrt blieb ich al­lein auf der Wie­se zu­rück.

Statt mich auf den Heim­weg zu ma­chen, ging ich zu dem Baum, setz­te mich an die Stel­le, an der eben noch mein Vor­fah­re ge­stan­den hat­te, und zün­de­te mir eine Zi­gar­re an. Mein Blick ver­lor sich da­bei in dem ge­wal­tig er­schei­nen­den aust­ra­li­schen Son­nen­un­ter­gang …

 

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4 Antworten auf Jimmy Spider – Folge 31