Jimmy Spider – Folge 31
Jimmy Spider und das Spinnennetz
Eine Wiese an sich ist ja bekanntlich nichts Gefährliches – es sei denn, man ist Allergiker, dann kommt das schnuckelige Grün eher einer gewaltigen Todesfalle gleich. Aber jeder kerngesunde Mensch (wie ich es bin) stellt sich unter einer herrlichen grünen Wiese einen paradiesischen Ort vor, durch den man lachend herumspazieren, picknicken oder gar im hohen Gras manch nicht ganz jugendfreie Dinge treiben kann.
In diesem Fall allerdings war die Wiese, um die es ging, am ehesten mit einem Schwarzen Loch zu vergleichen. Einem, in dem schon mehrere Menschen verschwunden waren.
Nun, an sich nichts Spektakuläres, schließlich verschwanden in Wäldern und Wiesen am laufenden Band Menschen (wie ich nicht erst seit meinem letzten Fall wusste). Meist hatte dies mit irgendeinem monströsen Monster oder mörderischen Mördertier zu tun, das sich an dem warmen Fleisch seiner Opfer laben wollte. Aber wie mein Chef mir in seiner unnachahmlich freudigen Art berichtet hatte, hatte es bei dem letzten Fall einen Zeugen gegeben, der berichtet hatte, dass sein Freund vor seinen Augen in wenigen Sekunden auf die Größe eines gemeinen Käfers geschrumpft und dann seinem Blick entschwunden war, als er irgendeine Art Linse durchschritten hatte. Nun, immerhin war die Erklärung etwas einfallsreicher als die Monstergeschichten, die die TCA sonst zu hören bekam. Von den UFO-Storys ganz zu schweigen.
Zudem war dieser Zeuge rein zufällig ein Agent des australischen Geheimdienstes, der ASIO, und wurde dadurch als etwas glaubhafter eingestuft als der übliche Hinterwäldler, der sich durch spektakuläre Aussagen ins Rampenlicht stellen wollte.
Und eben jener Zeuge, der von Geburt an Andrew Cole hieß, stand nun neben mir und begutachtete das Corpus Delicti: die Wiese.
Der etwa dreißig Jahre alte Mann hatte kurz geschnittenes braunes Haar und ein schmales, aber durchtrainiert wirkendes Gesicht, in dem sich die Anspannung ob des Erlebten widerspiegelte. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich und trug neben einem schwarzen T-Shirt noch eine kurze blaue Hose, aber immerhin festes Schuhwerk. An seinem Rücken versteckt klebte seiner Aussage nach eine Pistole Marke Smith & Wesson.
Im Gegensatz zu ihm trug ich meinen üblichen Anzug und das ebenso übliche Schuhwerk. Leider hatte mein Chef vergessen, mir mitzuteilen, dass es in Australien gerade Sommer war, während bei uns in England sich Hund und Schneehase Gute Nacht sagten. Und da ich davon ausging, keinen ausgedehnten Urlaub in Down Under einlegen zu können, hatte ich auf den Kauf sommerlicher Kleidung verzichtet.
So stand ich hier, mein Körper von einer dünnen Schicht aus Schweiß überzogen, auf einer einsamen Wiese in der Nähe von Brisbane und suchte mit einem australischen Geheimagenten nach einer scheinbar unsichtbaren Linse. Konnte man sich eine schönere Beschäftigung vorstellen?
»Und hier ist es passiert?«, fragte ich und riss mich damit selbst aus meinen verschlungenen Gedankengängen.
Andrew Cole nickte. »Na ja, zumindest ungefähr. Sie wissen schon – die dritte Pusteblume von links … so genau kann man sich das auf einer Wiese nun auch nicht merken.«
»Natürlich«, antwortete ich höflicherweise, obwohl ich mir eigentlich eine genauere Beschreibung erhofft hatte.
Allerdings war mein Wissensdurst noch nicht beendet. »Was mich noch interessieren würde … was haben Sie hier eigentlich gemacht? Nur ein harmloser Spaziergang?«
»Ganz genau. Nur ein Spaziergang mit einem Freund.« Da er das letzte Wort noch extra betonte, konnte ich mir meinen Teil denken. So aufgeschlossen sich einige Staaten auch gaben, so konservativ dachten sie doch insgeheim, besonders was ihre Agenten anging. Nun, ich hatte persönlich nichts dagegen, aber ich würde es trotzdem für mich behalten.
»Alles klar«, antwortete ich.
Ich stellte meinen Einsatzkoffer, den ich bisher immer noch festgehalten hatte, neben mir im hohen Gras ab. Mein treuer Gefährte enthielt diesmal neben der üblichen Besetzung (Wodkaflasche, Ersatzmunition) noch einen der von mir heiß geliebten Mini-Flammenwerfer sowie ein zusammenklappbares Samuraischwert. So konnte ich jeglicher monströsen Wiesenbrut zu Leibe rücken.
»Wie sieht eigentlich ihr Plan aus?«, fragte mich mein australischer Kollege.
»Nun ja … wir machen die Linse oder was auch immer ausfindig und anschließend unschädlich. An was hatten Sie sonst noch gedacht?«
Cole blicke mich relativ verdutzt an. »Ihr Engländer geht aber ziemlich direkt an die Sache heran.«
»Eigentlich bin ich Schotte.«
Inzwischen war mir aber so etwas wie eine Idee gekommen. Wenn es sich bei der Ursache für das Verschwinden (oder Verschrumpfen) der Menschen wirklich um eine Linse handeln sollte, musste sie auch Licht reflektieren. Zwar schien die Sonne mit unbarmherziger Intensität vom Himmel, aber vielleicht aus einem Winkel, von dem aus das Licht nicht reflektiert wurde.
Ich griff mir in meine rechte Jackentasche und zog eine kleine Taschenlampe hervor. Bevor ich sie einschaltete, drehte ich den Lampenkopf einige Rasten herum, um die Leuchtkraft zu bündeln.
Mittlerweile hatte auch Andrew Cole mitbekommen, was ich da am Werkeln war. Da er nicht weiter nachfragte, ging ich davon aus, dass er wusste, was ich vorhatte. Oder er war ein wenig schüchtern.
Schließlich schaltete ich die Lampe ein. Zunächst einmal tat sich nichts, was allerdings ob der starken Sonneneinstrahlung wenig verwunderlich war.
Ich ließ den nicht vorhandenen Lichtkegel über die Wiese wandern. Außer einem Kamel, das einige Dutzend Meter entfernt graste und uns argwöhnisch beobachtete, war dabei nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
Beinahe hätte ich die Leuchte schon wieder ausgeschaltet, als ich doch noch Erfolg hatte. Etwa zehn Meter vor uns erschien in Hüfthöhe über der Erde schwebend ein seltsames Gebilde. Zuerst dachte ich an ein durchsichtiges Ei, bis ich erkannte, dass dieses Ei nur eine Seite hatte. Es gab diese Linse also wirklich.
Mit meiner rechten Hand hob ich den Einsatzkoffer wieder an und schritt langsam auf die Erscheinung zu. Andrew Cole folgte mir mit einem gewissen Sicherheitsabstand.
»Seien Sie vorsichtig!«, rief er mir hinterher.
»Keine Sorge.«
Nachdem ich mich der Linse bis auf zwei Meter genähert hatte, blieb ich zunächst einmal stehen.
Die Linse oder das linsenartige Gebilde machte wirklich den Eindruck einer völlig normalen Linse. Außer dass sie mitten auf einer Wiese in etwa einem halben Meter Höhe über dem Boden schwebte (statt im Kochtopf zu schwimmen oder mit einem Gestell auf der Nase zu sitzen).
Mein australischer Kollege trat wieder neben mich. »Und, was denken Sie?«
»Ich denke, wir sollten mal testen, was dieses Ding so alles verkraftet«, antwortete ich grinsend.
Ich zog meine Desert Eagle und entsicherte die Waffe.
Andrew Cole war wohl nicht ganz wohl bei meinem Vorhaben. »Wäre es nicht besser, wir würden ein Experten-Team rufen, das die Linse untersucht, statt sie zu zerstören? Wer weiß, was wir damit auslösen.«
»Keine Sorge. Wenn wir sie zerstören, ist alles gut, und wenn wir dabei umkommen sollten, sind die Folgen sowieso nicht mehr unser Problem.«
»Das beruhigt mich ungemein«, gab mein australischer Kollege leicht verunsichert zurück.
Langsam hob ich meine rechte Hand an und zielte mit der Waffe auf die Mitte der Linse. Dann drückte ich ab.
Die Kugel – flog einfach hindurch. Statt der Linse traf das Geschoss das Hinterteil des Kamels, welches daraufhin wild blökend davonlief.
Als ich schon zu weiteren Mitteln greifen wollte, zeigte die Linse plötzlich doch noch eine Reaktion. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, wuchs das Gebilde immer weiter an. Innerhalb weniger Sekunden hatte es schon die Größe eines Hauses erreicht. Gleichzeitig rückte sie immer näher.
Langsam wurde mir doch etwas mulmig. Sah so das Ende aus? Erdrückt von einer riesigen Linse?
Mit dem Gebilde schossen plötzlich auch die Grashalme in die Höhe, sodass sie uns schon bald meterhoch überragten. Nur – wurden sie wirklich größer oder wir vielmehr kleiner?
In diesem Moment schoss mir wieder durch den Kopf, was mit Andrew Coles Freund passiert war: Er war auf die Größe eines Käfers zusammengeschrumpft. Es schien, als würde uns nun dasselbe Schicksal blühen.
»Ähm, Mr Spider?«
»Ja?«
»Korrigieren Sie mich, aber sind wir gerade auf Miniaturgröße geschrumpft?«
Der ASIO-Agent schien wirklich von der allerhellsten Sorte zu sein. »Sie haben es erfasst«, antwortete ich ihm.
Mittlerweile schien der Verkleinerungsprozess gestoppt worden zu sein. Die Grashalme hatten aus unserer Sicht nun etwa die doppelte Größe von Mammutbäumen, während Steine und Erdklumpen meterhohe Hindernisse darstellten. An die Tierwelt hier unten wollte ich lieber gar nicht denken.
Als hätte die Natur meinen Gedankengang erraten, brandete plötzlich ein gewaltiges Sirren auf. Über uns erschien ein riesiges Ungetüm – eine Libelle. Das Tier schien sich allerdings nicht sonderlich für uns zu interessieren. Nach einem kurzen Stopp flog das Insekt wieder davon.
»Das war knapp«, fasste ich meine Gedanken in Worte.
Andrew Cole nickte mir zu. »Und was machen wir jetzt?«
Ich dachte kurz nach, bevor ich eine Antwort gab. »Wir sollten in die Richtung laufen, aus der wir gekommen sind. Vielleicht können wir so den Einzugsbereich der Linse verlassen.«
»Sollten wir nicht eher nach Colin suchen?«
»Ihrem Freund?«
»Ja.«
»Und wie stellen Sie sich das vor? Die Wiese ist an sich schon groß, aber jetzt dürfte es Jahre dauern, um überhaupt mal diesen Dschungel zu durchqueren. Außerdem werden wir wohl kaum diesen Nashornkäfer dort drüben nach dem Weg fragen können.«
Der von mir angesprochene Geselle schien ebenfalls nicht an einer gepflegten Konversation interessiert zu seinen. Stattdessen trottete er äußerst gemächlich zwischen zwei Grashalmen davon.
Gerade als ich mich in die Richtung aufmachen wollte, aus der wir gekommen waren und in der sich hoffentlich ein Weg aus dieser misslichen Lage befand, erwischte es uns. Ein kräftiger Windstoß fuhr über die Wiese hinweg und riss uns einfach mit sich.
Ich hörte noch den Schrei meines Begleiters, als ich schon haltlos durch die Luft wirbelte. Immerhin hatte ich sowohl die Desert Eagle als auch meinen Einsatzkoffer festhalten können, aber das half mir in dieser Situation auch nicht weiter.
Immer wieder ging es rauf und runter, hin und her, sodass ich irgendwann nicht mehr wusste, wo nun oben oder unten war.
Doch wie alles (außer vielleicht der Wurst) hatte auch diese Reise irgendwann ein Ende. Plötzlich hing ich einfach mitten in der Luft fest. Einige Male wippte mein Körper noch hin und zurück, dann war mein Flug vorbei.
Ich versuchte, mich irgendwie aufzurichten, aber es klappte nicht. Auf irgendeine Weise hing ich fest. Nur meinen rechten Arm konnte ich noch immer relativ frei bewegen.
Mühsam drehte ich meinen Kopf nach rechts. Das Erste, was ich sah, ließ mich zusammenzucken – ein menschliches Skelett. Das Zweite, was ich bemerkte, war die Tatsache, dass dieses Skelett nicht etwa in der Luft schwebte, sondern von dicken, weißen Fäden gehalten wurde.
Ein Spinnennetz …
Irgendwie hatte ich es mir schon fast gedacht.
Die Knochen neben mir waren wahrscheinlich die Überreste von Andrew Coles Freund Colin. Und nun sollte ich wohl der nächste Leckerbissen für den Bewohner dieses Netzes werden.
Noch war allerdings nichts von der Spinne zu sehen. Das gab mir die Möglichkeit, nach einem Weg aus meiner misslichen Lage zu suchen.
Zunächst einmal steckte ich mir die Desert Eagle wieder in die Jacke. Danach versuchte ich, den Einsatzkoffer irgendwie in den Bereich meiner rechten Hand zu bringen. Leider konnte ich meinen linken Arm kaum von den klebrigen Fäden lösen.
Doch ich gab nicht auf. Immer stärker zog ich den Arm nach oben, während sich mein Gesicht vor Anstrengung immer weiter verzerrte. Und tatsächlich – es gelang mir, den Arm vom Netz zu lösen.
Nun hatte ich zumindest etwas mehr Bewegungsfreiheit. Ich klappte den Einsatzkoffer auf und zog das Samuraischwert hervor. Mit zwei Griffen ließ es sich auseinanderklappen, sodass ich ein vollwertiges Schwert in der rechten Hand hielt.
Sofort schlug ich auf einen der Fäden ein – doch der erhoffe Erfolg blieb aus. Der Faden war stabiler, als er aussah. Wieder und wieder schlug ich zu, aber eine Wirkung war nicht zu sehen. Schließlich holte ich noch ein letztes Mal aus und hieb mit aller Kraft auf den Faden ein. Doch auch diesmal hielt der Faden der Klinge stand. Allerdings war die Gegenwirkung des Strangs derart stark, dass mir das Schwert aus der Hand geprellt wurde, als der Faden zurückschwang.
Ungebremst fiel meine Waffe dem Erdboden entgegen – bis plötzlich ein lauter Schmerzensschrei erklang. »Arggh!«
Ich konnte mir schon denken, wer da geschrien hatte, musste aber zugeben, dass ich schon kaum mehr mit ihm gerechnet hatte. »Mr. Cole?«
»Mr. Spider, sind Sie das?«
»Nein, der Weihnachtsmann. Ich bin letztes Jahr beim Rückflug hängen geblieben.«
Mein australischer Kollege überging meine Bemerkung einfach. »Wie geht es nun weiter?«
»Zunächst einmal – sind Sie verletzt?«
»Eine kleine Schnittwunde am Arm, mehr nicht.«
»Gut, dann hören Sie zu: Ich werde uns hier herausbrennen. Halten Sie so lange noch durch.«
»Was soll das heißen?«
Ich gab ihm eine Antwort auf meine Weise. Mit der rechten Hand zog ich eine weitere Waffe aus dem Einsatzkoffer hervor: den Mini-Flammenwerfer. Wenn dieses Gerät nicht für unsere Befreiung sorgen konnte, wusste ich auch nicht mehr weiter.
Dies schien allerdings auch jemand anderes mitbekommen zu haben. Das Netz erzitterte immer wieder leicht. Die Schwingungen wurden nach und nach immer stärker. Sollte etwa …?
Meine Vermutung bestätigte sich, als von links plötzlich eine Spinne oder ein Spinnerich in meinem Blickfeld erschien. Es war ein schwarzes Tier mit riesig wirkenden Vorderbeinen, das immer näher an mich heran geriet.
Als es nur noch wenige Meter (oder real eher Zentimeter) von mir entfernt war, richtete es plötzlich seine Vorderbeine auf. Mein Blick fiel auf den Bauch der Spinne, auf dem sich ein rötliches Muster befand, das mich entfernt an eine Sanduhr erinnerte.
Ich kannte mich mit Spinnen nicht allzu gut aus (anders als mein Name vermuten ließ), aber mit Sicherheit wollte mich das Tier mit dieser Gebärde nicht freundlich empfangen.
Mit großer Anstrengung brachte ich die Mündung der Waffe, die entfernt an einen Föhn erinnerte, in die Richtung, in der sich die Spinne befand.
Als ich das Tier genau anvisieren konnte, drückte ich ab.
Der Flammenstrahl zuckte auf das Tier zu und leckte über den ungeschützten Unterleib hinweg.
Die Spinne gab eine Art sirrenden Schrei von sich, während sie brennend zurücktaumelte.
Plötzlich erschien neben dem brennenden Tier eine zweite Spinne, die sich mit hohem Tempo auf mich zu bewegte.
Wieder drückte ich ab. Doch diesmal traf der Strahl die Spinne nicht. Stattdessen setzte es das Netz in Brand, woraufhin die zweite Spinne angsterfüllt zurückzuckte.
Auch das Tier, das bereits von dem Flammenstrahl erfasst worden war, hatte Teile des Netzes in Brand gesetzt. Mit letzter Kraft taumelte die Spinne über ihr großes Werk hinweg, dass sie mit ihren letzten Bewegungen selbst zu zerstören begann.
Da ich von der zweiten Spinne keinen weiteren Angriff erwartete, drehte ich mich nach rechts. Wieder betätigte ich den Abzug des Flammenwerfers.
Der Feuerstrahl zuckte erneut über das Netz hinweg und setzte es auch an dieser Stelle in Flammen.
Von links erklang plötzlich ein Zischen. Die noch lebende Spinne hatte es tatsächlich geschafft, die Flammen zu umgehen und in meine Nähe zu gelangen. Ihr weit geöffnetes Maul kam meinen Kopf langsam gefährlich nahe.
Erneut hob ich den Flammenwerfer an und drückte ab. Es passierte – nichts. Offensichtlich war der Tank meiner Waffe leer. Notgedrungen schleuderte ich sie der Spinne einfach entgegen.
Der Flammenwerfer traf tatsächlich eines der Augen. Das Tier zuckte überrascht zurück und gab mir damit noch eine Galgenfrist. Wenn nicht bald endlich die Fäden rissen, würde mich die Spinne doch noch erwischen.
Inzwischen hatte sich das Tier wieder erholt und ging erneut zum Angriff über.
Hastig griff ich mit meiner rechten Hand in den Einsatzkoffer, zog die Wodkaflasche hervor und warf sie (obwohl es mir in der Seele wehtat) der heranstürmenden Spinne entgegen. Auch den Einsatzkoffer selbst schleuderte ich auf sie zu.
Die beiden Treffer irritierten das Tier zumindest für einige Sekunden. Und endlich, die Fäden lockerten sich.
Plötzlich riss das Netz wenige Meter neben mir auf. Einer der brennenden Fäden wurde durch die Spannung emporgeschleudert, traf die Spinne und schleuderte sie davon.
Auch ich geriet in Bewegung. Von einer Sekunde auf die nächste verspürte ich um mich herum keinerlei Druck mehr – ich stürzte ab.
Wie ein Zirkusartist wirbelte ich durch die Luft. Immerhin erkannte ich, dass mein linkes Bein noch von einem einzelnen brennenden Faden gehalten wurde.
So stürzte ich mit einem halben Looping in die Tiefe und damit ausgerechnet direkt auf Andrew Cole zu, der noch immer wie eine Fliege im Netz hing.
Ich streckte meine Arme aus, griff nach ihm und hielt mich an seinem Rücken fest.
»Spider!«, schrie Cole.
»Höchstpersönlich.«
»Was haben Sie getan?«
»Den Spinnen Feuer unterm Hintern gemacht«, gab ich lachend zurück.
In diesem Moment rissen auch die Fäden, die Andrew Cole bis zuletzt gehalten hatten. Schreiend stürzten wir gemeinsam in Tiefe – und direkt auf einen Grashalm, der bei uns für eine unfreiwillige Rutschpartie sorgte, sodass wir über den Halm hinweg bis zum Erdboden glitten.
Mein australischer Kollege konnte es nicht fassen, dass wir heil wieder unten angekommen waren. »Wie … wie ist das möglich?«, stammelte er.
Auch ich hatte Mühe, mich wieder zu sammeln. »Ich denke, durch unser geringes Gewicht war die Erdanziehungskraft schwach genug, dass wir ohne große Gefahr zu Boden geglitten sind.«
Statt mir zu antworten, zuckte Coles Kopf herum. »Aufpassen!«, schrie er plötzlich und stürzte zu Boden.
Als ich meinen Blick gen Himmel wendete, sah auch ich das Unheil kommen. Die Reste des brennenden Netzes glitten leicht wie eine Feder dem Boden entgegen.
Ich versuchte, unter einem größeren Stein Deckung zu finden. Über mir spürte ich, wie die Hitze des Feuers den Boden erreichte.
Vorsichtig richtete ich mich wieder auf – und blickte in ein Flammenmeer. Das Gras, die Fäden, die anderen kleinen Gewächse, alles brannte lichterloh.
Auch Andrew Cole hatte sich wieder aufgerichtet und das Inferno bemerkt, das im Schein der langsam untergehenden Sonne schon fast apokalyptische Züge annahm.
»Und was jetzt?«, fragte Cole verzweifelt, während er seine Smith & Wesson hervorholte.
»Gute Frage.«
Als wären die Probleme noch nicht groß genug, erklang erneut ein Zischen.
Gemeinsam drehten wir uns herum und blickten direkt auf die überlebende Spinne. Es musste die sein, die von dem brennenden Faden erwischt worden war, denn die andere war sicherlich längst tot. Doch wie auch ihr Partner brannte diese Spinne lichterloh.
Das hielt sie allerdings nicht davon ab, uns anzugreifen.
Einer der riesigen Vorderläufe zuckte uns entgegen. In einem Reflex gelang es mir, mich zu ducken. Das Bein zischte über mich hinweg – und traf trotzdem.
Andrew Cole hatte nicht so schnell reagieren können und wurde voll erwischt. Das brennende Bein stieß ihn meterhoch in die Luft, bis er schreiend herabstürzte, leider direkt auf einen herumliegenden Stein. Das Geräusch, das dabei entstand, fuhr mir durch alle Glieder. Für einen Moment schloss ich die Augen, bis mir klar wurde, dass sich die Spinne sicher nicht mit einem Opfer zufriedengeben würde.
Und tatsächlich, das mörderische Tier sprang mit einem gewaltigen Satz auf mich zu.
Hastig duckte ich mich, sodass die Spinne über mich hinweg flog und ich nur von einigen Flämmchen gestreift wurde.
Wieder drehte ich mich herum und sah das brennende Tier, das sich trotz seiner schweren Verletzungen erneut auf mich zu bewegte.
Ich lief einige Schritte rückwärts, nur um über irgendeinen Gegenstand zu stolpern. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass dieser Gegenstand nichts anderes als mein Samuraischwert war.
Sofort zog ich es aus dem Boden und trat der brennenden Spinne entgegen.
Wie sich das Tier noch immer auf den Beinen halten konnte, war mir ein Rätsel. Vielleicht war es der mörderische Hass auf mich, vielleicht einfach nur der letzte Reflex eines sterbenden Tieres. Es war mir im Moment aber auch ziemlich egal.
Erneut zuckte das rechte Vorderbein auf mich zu. Doch diesmal war ich gewappnet. Bevor mich das Glied treffen konnte, schlug ich zu.
Mit einem sauberen Schnitt trennte die Klinge das Bein ab. Bläuliches Spinnenblut spritze mir entgegen.
Doch auch das zweite Vorderbein zuckte auf mich zu. Mit einem gewaltigen Hieb wehrte ich auch diesen Angriff ab.
Die nun handlungsunfähige Spinne zuckte zurück und versuchte, aus meiner Reichweite zu krabbeln. Doch die Bewegungen wurden immer langsamer, und schließlich fiel das Tier brennend in sich zusammen.
Das war also geschafft. Aber wie konnte ich meine ursprüngliche Größe wieder zurückerlangen?
Die Antwort nahm mir der Zufall oder vielmehr der Wind ab. Wieder huschte eine leichte Böe über die Wiese, löschte das Feuer und riss mich mit sich.
Um mich herum drehte sich alles, und auch mein Magen schien eine Achterbahnfahrt hinzulegen, während ich zwischen den zahlreichen Grashalmen hindurch flog.
Ohne dass ich es wirklich mitbekam, landete ich plötzlich wieder auf dem Erdboden. Diesmal allerdings in Normalgröße. Die eben noch riesig anmutenden Grashalme wurden nun von mir einfach platt gedrückt.
»Was für ein ungeheurer Zufall«, murmelte ich vor mich hin, als ich daran dachte, dass mich der Wind ausgerechnet wieder in Richtung der Linse getrieben hatte.
»War es wirklich Zufall?«, fragte eine Stimme wie aus dem Nichts.
Sofort sprang ich auf die Beine und blickte mich um. An einem dicken Baumstamm, keine fünf Meter von mir entfernt, stand eine durchsichtige Gestalt und nickte mir lächelnd zu. Geoffrey McShady …
Kaum zuckte der Name durch meinen Kopf, war der Geist auch schon wieder verschwunden.
Leicht verwirrt blieb ich allein auf der Wiese zurück.
Statt mich auf den Heimweg zu machen, ging ich zu dem Baum, setzte mich an die Stelle, an der eben noch mein Vorfahre gestanden hatte, und zündete mir eine Zigarre an. Mein Blick verlor sich dabei in dem gewaltig erscheinenden australischen Sonnenuntergang …
Copyright © 2012 by Raphael Marques