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Märchen und Fabeln der Ureinwohner Amerikas

Ich weiß jetzt nicht, ob es Sinn macht, gerade in unserer heutigen schnelllebigen Zeit über die Märchen und Fabeln der Ureinwohner Amerikas zu berichten. Andererseits aber glaube ich, dass uns gerade solche Geschichten eher Auskunft über das Wesen und das Leben eines Indianers geben können, statt der allgemein üblichen Skalpgeschichten.
Zudem, sich zurückzulehnen, gelassen eine Pfeife zu rauchen, während man die Seele baumeln lässt, um bei einem guten Glas Wein diese Fabeln zu studieren und vielleicht darüber nachzudenken, wäre doch allemal einen Versuch wert, oder?
Vor allem in einer Welt, in der alles immer schneller, besser, höher und weiter sein muss.
Alsdann, lest die folgenden Geschichten und entflieht der harten Realität unserer Tage, wenn es auch nur für ein paar Augenblicke ist.

Die erste Geschichte ist eine Geschichte, die mit einer Moral endet.

Aus dem Sagenkosmos der Wyandot-Indianer

Menabuscho hatte einst einen Hirsch geschossen und wusste nun nicht, von welcher Seite er eigentlich anfangen sollte, ihn zu essen.
»Fang ich vom Kopf an«, sprach er zu sich selbst, »so sagen die Leute, ich habe ihn kopfwärts gegessen; fange ich an der Seite an, so sagen sie, ich habe ihn seitwärts gegessen und fange ich beim Schwanz an, so lachen mich alle aus und rufen: Menabuscho hat seinen Hirsch schwanzwärts gegessen.«
Während er sich so mit diesen unnützen Gedanken beschäftigte, kam ein stürmischer Wind auf und die Zweige eines nahen Baumes rieben so geräuschvoll aneinander, dass Menabuscho ärgerlich wurde und beschloss, die lärmenden Äste abzuhauen. Er kletterte also auf den hohen Baum; doch kaum war er oben angelangt, da lief ein Rudel hungriger Wölfe herbei, und fraßen den fetten Hirsch vor seinen Augen, ohne dass er es hätte verhindern können.
Seit jenem Tage sagen die alten Medizinmänner: »Wenn du ein leckeres Stück Fleisch besitzt, so kümmere dich nicht um Nebensachen.«

Die zweite Geschichte erzählt von der Unbesiegbarkeit der Familienbande.

Legenden der Algonkin
Die sechs Falken oder der gebrochene Flügel

Sechs junge Falken, von denen Midschidschiquona, der älteste, etwas fliegen konnte, hatte der Tod ihrer Eltern unversorgt und nahrungslos gelassen. Lange hatten sie auf ihre Rückkehr vergeblich gehofft und die jüngeren hatten sich schon mit dem Gedanken des Hungertods vertraut gemacht, als sich Midschidschiquona entschloss die anderen, so gut er es eben vermochte, mit Futter zu versehen.
Eine Zeitlang ging das auch gut, bis schließlich auch er ausblieb.
Nun fühlten sich die anderen erst recht unglücklich. Der Winter stand vor der Tür und ihre Flügel waren noch zu schwach um sie in eine wärmere Gegend zu tragen. Einige von ihnen fassten Mut und flogen aus, ihren verunglückten Bruder zu suchen.
Alsbald fanden sie ihn auch.
Er hatte sich im Kampf mit einem anderen Raubvogel den Flügel gebrochen.
»Brüder«, stöhnte er. »Mir ist es schlecht ergangen, aber kümmert euch nicht weiter um mich, sondern fliegt davon, um der rauen Zeit zu entfliehen.«
»Nein«, schrien sie alle. »Wir verlassen dich nicht, sondern bleiben hier um für dich zu sorgen wie du einst für uns gesorgt hast. Wenn der Winter dich tötet, so mag er uns auch töten, aber solange du lebst bleiben wir bei dir.«
Daraufhin trugen sie den Kranken in einen hohlen Baum.
Drei blieben ständig zu seiner Pflege an seiner Seite, während die anderen beiden ausflogen, um Futter zu suchen.
Midschidschiquona wurde bald gesund und gab seinen Brüdern allerlei Lehren hinsichtlich der Jagd.
Dann erschien der Frühling und die Jagd wurde ergiebiger. Lediglich Pipischiwisäns, der Jüngste, brachte nie etwas nach Hause, obgleich er am längsten weg war. Da fragte ihn Midschidschiquona nach der Ursache seines ständigen Jagdunglücks.
»Es ist weder meine Schwachheit noch meine kleine Gestalt daran schuld«, erwiderte er, »denn ich töte stets so viele Enten und sonstige Vögel wie ein anderer. Aber wenn ich mit ihnen heimfliegen will, so lauert mir jedesmal eine mächtige Kokokoho (Algonkinwort für Eule) auf und nimmt mir meine Beute wieder ab.«
Midschidschiquona flog daher am anderen Tag mit ihm und verbarg sich in der Nähe des Ufers. Pipischiwisäns fing bald eine Ente und gleich darauf erschien auch schon die große Eule um sie ihm wieder abzunehmen. Schnell stürzte nun Midschidschiquona aus seinem Dickicht, packte sie mit seinen scharfen Krallen und trug sie nach Hause. Der Kleine flog nebenher und versuchte ihr die Augen auszuhacken.
»Tu das nicht, Bruder«, sagte Midschidschiquona, »denn es ist Unrecht, einen hilflosen Feind zu verstümmeln und ihn zu lehren gegen Schwächere grausam zu sein.«
Darauf lies er die Eule wieder fliegen. Die sechs Falken lebten noch lange Jahre beisammen, und die alten Medizinmänner, die diese Fabel erzählt haben, wollten ihren roten Brüdern und Schwestern damit beweisen, dass Einigkeit in der Familie und Geschwisterliebe jede Not des Lebens besiegen kann.

Die dritte Geschichte ist eigentlich eine schöne Geschichte, bis auf den Schluss. Über diesen sollte man einmal nachdenken, vielleicht versteht man dann die Ureinwohner Amerikas etwas besser.

Wie Mais und Bohnen entstanden sind

Ein Susquehanna -Indianer, der sich von einem christlichen Missionar die Geschichte der Sintflut hatte erzählen lassen, gedachte jenen dafür mit einer Sage aus der Mythologie seines Volkes zu belohnen.
»Am Anfang hatten unsere Väter nur Fleisch zu essen, und wenn sie einmal auf der Jagd unglücklich gewesen waren, so mussten sie bitteren Hunger leiden. Nun hatten einst zwei Jäger einen fetten Bären getötet und ein Feuer angezündet, um einige Stücke davon zu braten, als eine große unbeschreiblich schöne Frau aus den Wolken kam und sich vor ihnen auf den Rocky Mountains niederließ. Da sagte der eine zum anderen: ›Das ist ein Geist, der unseren Braten gerochen hat; komm, lass uns ihm ein Stück opfern.‹
Darauf opferten sie ihr den besten Leckerbissen, nämlich die Zunge.
›Kommt nach einem Jahr wieder‹, sagte sie darauf, ›und ihr werdet sehen, dass ich nicht vergessen habe, eure Freundlichkeit zu belohnen.‹
Als das Jahr vorüber war und die beiden Jäger die Gegend wieder besuchten, fanden sie ringsum alles mit den nützlichsten Pflanzen bewachsen. Jene Stellen, die ihre rechte Hand berührt hatte, trugen Mais und diejenigen, auf die sie die linke gerichtet hatte, trugen Bohnen. Dort, wo der Geist gesessen hatte, wuchs die köstliche Tabakpflanze.«
»Ihr Narren!«, entgegnete darauf unwillig der Missionar. »Wie könnt ihr nur an solche dummen Fabeln glauben, die irgendein müßiger Kopf von euch ausgeheckt hat? Was ich euch aber erzählt habe, ist die reinste Wahrheit und stammt aus dem Mund des Allmächtigen selbst!«
»Mein Freund«, erwiderte der Indianer beleidigt. »Es scheint, dass man bei deiner Erziehung doch die Hauptsache vergessen hat. Du sahst, dass ich so höflich war, deine fabelhafte Geschichte zu glauben, warum glaubst du nicht die meine ebenfalls?«

Es wäre noch über unzählige weitere Fabeln und Überlieferungen zu berichten, aber irgendwann hat alles mal ein Ende. Daher lade ich alle Neugierigen ein, sich nächsten Monat wieder hier einzulesen.
Wenn die alten Medizinmänner erneut vor dem glimmenden Lagerfeuer sitzen und gelassen ihre Pfeifen rauchen, um haarsträubende Sagen über himmelhohe Riesen, leichtfüßige Elfen und baumstarke Götter zum Besten zu geben.

Quellenhinweis:

  • Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Verlag Lothar Borowsky München

Copyright © 2012 by C. C. Slaterman

Eine Antwort auf Märchen und Fabeln der Ureinwohner Amerikas