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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Der weiße Elefant des Singar Chani – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der weiße Elefant des Singar Chani
1. Kapitel

Unser schwimmendes Heim

Als wir uns von Inspektor Smith auf dem Bahnhof in Nagpur verabschiedeten, sagte er zu Harst: »Sie kommen zu einer für Ihre Zwecke recht ungünstigen Zeit nach Allahabad, wie mir soeben einfällt. Während sich dort nämlich im Dezember und Januar nur etwa eine Viertelmillion Pilger einfinden, um im heiligen Fluss Ganges zu baden, versammeln sich alle zwölf Jahre an diesem berühmten Wallfahrtsort reichlich eine Million gläubiger, fanatischer Hindu. Und Sie haben Pech! Gerade dieses Jahr ist wieder dasjenige, in dem die schmutzigen Gangeswasser besonders segensreich wirken sollen. Sie werden dort also in ein Millionengewimmel von Menschen hineingeraten. Es dürfte Ihnen schwerfallen, in der überfüllten Stadt Gottes – Allah abad heißt ja Allahs Stadt – Cecil Warbatty herauszusuchen. Nun, jedenfalls viel Glück, Master Harst!«

Wir fuhren Allahabad aus diesem Grunde auch mit geringer Hoffnung entgegen, dort endlich unser schlaues Wild zur Strecke zu bringen. Seit September waren wir nun ununterbrochen hinter diesem Verbrechergenie her, hatten jedoch zumeist bei diesem Kampf nur leidlich abgeschnitten, hatten sozusagen stündlich in Lebensgefahr geschwebt und immer wieder einsehen müssen, dass wir es hier mit einer Persönlichkeit zu tun hatten, die an Intelligenz Harst gleichwertig war, der aber an brutalen Instinkten ein derartiges Übermaß zur Verfügung stand, dass schon deshalb dieser erbitterte Streit Harst-Warbatty für Ersteren unendlich schwer zu einem siegreichen Ende zu bringen war.

Detektivinspektor Smith hatte Harst einen Empfehlungsbrief an einen reichen eingeborenen Kaufmann namens Alam Bandur mitgegeben. Bandur sollte ein in jeder Beziehung zuverlässiger und vielerfahrener Mann sein, der uns sehr nützlich sein würde.

Smith hatte in dieser Beziehung nicht zu viel gesagt. Der völlig zum Europäer gewordene Hindu empfing uns auf das Liebenswürdigste und bedauerte unendlich, uns nicht mehr als Gäste in sein Haus aufnehmen zu können, stellte uns aber seinen großen, wenig benutzten Motorkutter zur Verfügung, der zwei geräumige, wohnliche Kajüten besaß und auf dem Ganges unweit der Festung zwischen zwei Pfählen vertäut lag.

In den Hotels, Pensionen und so weiter waren nicht einmal mehr die Dachkammern infolge des Pilgerandranges frei. Wir mussten also froh sein, dieses Unterkommen gefunden zu haben, nahmen dankend an und wurden von einem Diener Bandurs zu der Uferstelle des Ganges geführt, der gegenüber etwa zehn Meter ab der Kutter träge vor seinen Ketten schaukelte. Ein Bootverleiher setzte uns über. Der Diener Bandurs wollte mit unserem Gepäck sofort nachkommen.

Als wir jedoch am Motorboot anlegten, fanden wir es bereits von zehn Pilgern besetzt, die einfach die Tür zu den Kajüten aufgebrochen und sich darin häuslich eingerichtet hatten.

Es waren sechs Männer und vier Frauen, Zugehörige der untersten Kaste. Harst tat es leid, sie verdrängen zu müssen, und er einigte sich mit ihrem Wortführer dahin, dass die braune Gesellschaft sich auf dem Vorderdeck ein Zelt aus den Notsegeln des Kutters errichten sollte. Die Leutchen waren überglücklich und dankten den Sahibs wortreich.

Über das Kastenwesen der Hindu habe ich an anderer Stelle schon einiges gesagt. Es gibt vier Hauptkasten: Priester-, Krieger-, Gelehrten- und Kaufmannskaste. So rechnen zum Beispiel Lastträger, Diener, Arbeiter, Bauern und ähnliche Berufe mit zur Kaufmannskaste, während schon jeder Schreiber oder Barbier zur Gelehrtenkaste zählt. Im Allgemeinen gilt die Regel, dass niemand sich zu einer höheren Kaste aufschwingen kann. Der Sohn des Wasserträgers muss wieder Wasserträger werden, der des Schusters wieder Schuster. Wollte die englische Kolonialregierung hieran ernstlich etwas zu ändern versuchen, würde sie auf geschlossenen Widerstand selbst bei der untersten Kaste stoßen. Der Hindu hält mit fanatischer Zähigkeit an den alten Überlieferungen fest.

Von unseren zehn Mitbewohnern erklärten sich zwei der Männer, die etwas Englisch verstanden, sofort bereit, unsere Diener gegen geringe Bezahlung zu spielen. Harst sagte ihnen das Doppelte ihrer Lohnforderung zu. Von dem Augenblick an wären die sämtlichen Männer für uns durchs Feuer gegangen. Der Hindu ist ja überhaupt alles in allem ein hochanständiger Charakter. Ich wünschte, wir gebildeten Europäer würden uns an den Bekennern Brahmas ein Beispiel nehmen, was dankbare und aufrichtige Gesinnung anbelangt.

Am Nachmittag hatten wir unsere schwimmende Wohnung auf dem Ganges bezogen. Zwei Stunden darauf, als wir es uns gerade etwas bequem gemacht hatten, erschien ein Boot mit einem sehr fetten Chinesen. Dieser schlitzäugige Sohn des Himmels stellte sich uns als der Koch vor, den Alam Bandur für seine Gäste gemietet hätte. Der bezopfte Fettkloß brachte auch gleich zwei Riesenkörbe mit Lebensmitteln mit. Der Kutter hatte eine saubere, winzige Küche, und Atsi-Fo hat darin für uns manch Göttergericht zusammengebraut. Bevor er aber sein Amt antrat, musste er Harst seine Hände vorzeigen. Er hatte alle zehn Finger. Harst war vorsichtig. Warbatty verstand selbst einen zwei Zentner schweren Chinamann zu mimen, hatte jedoch bekanntlich an der Linken nur vier Finger. Der Zeigefinger fehlte. Ebenso musste Atsi-Fo, den wir sehr bald kurz in Hatschi umtauften, von den Speisen des ersten Abendbrots kosten. Warbatty operierte ja auch mit Gift.

So begann unser Aufenthalt in Allahabad. Wir hatten keine Lust, uns gleich am ersten Abend in das Straßengewühl zu stürzen, hatte ja auch bereits einen Vorgeschmack vom Treiben in einer indischen heiligen Stadt während der sogenannten Begeisterungszeit während der Fahrt vom Bahnhof durch die Straßen erhalten.

Nun, als wir in bequemen Bambusliegestühlen auf dem Kajütdeck unter dem gestreiften Sonnensegel saßen, zwischen uns ein Tischchen mit eisgekühlter Limonade, genoss ich nun ein Bild, wie ich es eigenartiger und man kann ruhig sagen märchenhafter nicht wieder sehen sollte.

Der riesige, heilige Ganges lag vor uns. Neben uns zogen sich die fünffachen, siebenfachen Ketten von allerhand Fahrzeugen hin, die vor ihren Ankern und Tauen im Abendwind sacht schwankten; Boote darunter, die man getrost jedem Altertumsmuseum hätte einverleiben können, gefertigt aus jenem rotbraunen Holz, das unverwüstlich ist, das nie fault; Boote in allen Größen und Formen bis zum schonerartigen Fahrzeug mit zwei Masten. All diese Kähne und Schifflein bedeckt mit kribbelnden, schreienden, badenden menschlichen Ameisen, bedeckt auch die Ufer des Stromes mit Unzähligen, die ihre frommen Waschungen vornahmen, um dereinst nach beendeter Seelenwanderung in den Himmel Brahmas leichter als andere einzuziehen.

Menschen überall – braune Leiber; Männer, Frauen, Kinder; eng zusammengepfercht Tausende und Abertausende; am engsten an der Südspitze der riesigen, durch die Einmündung der Dschamma in den Ganges gebildeten Halbinsel, denn an dieser Südspitze liegt das große, Jahrhunderte alte Fort, das in seinen Wällen den Hindu besonders heilige Dinge einschließt: den unterirdischen Brahmatempel, darin den sogenannten ewigen Feigenbaum und die berühmte Steinsäule des Azoka, die über und über mit Inschriften bedeckt ist.

Es war ein Bild, das selbst den Gleichgültigsten aufgerüttelt hätte. Es war eben Indien, das Märchenland.

Harst träumte bei seiner Zigarette vor sich hin. Auf dem Vorderdeck bewegten sich bescheiden und lautlos unsere Mitbewohner. In der kleinen Küche klapperte der chinesische Fettkloß mit Tellern und Töpfen.

»Die beste Gelegenheit für einen Gauner, im Trüben zu fischen«, sagte Harst plötzlich. »Denn viele der reicheren Pilger, nein, wohl alle, schleppen Geschenke mit nach Allahabad und weihen sie den verschiedenen Göttern in den verschiedenen Tempeln. Der Engländer Gadby hat vor zwei Jahren den Wert dieser jährlichen Opfergaben für ganz Indien auf fünf Milliarden berechnet. Nimm an, dass davon auf Allahabad nur jährlich eine Million fällt, so kannst du ungefähr berechnen, was in den Tempeln an totem Kapital aufgehäuft liegt. Kein Wunder, wenn diese Schätze immer wieder europäische Hochstapler nach Indien locken. Besinne dich nur auf Bombay und die alte Tempelstadt. Dort schon versuchte Warbatty einen Anschlag auf Teile dieses toten Kapitals. Vielleicht will er hier etwas Ähnliches unternehmen. Es wird uns unmöglich sein, ihm dieses Mal einen Strich durch die Rechnung zu machen. Wie sollen wir ihn hier wohl herausfinden?! Ausgeschlossen – wenn uns nicht ein Zufall hilft …«

»Gestatte mir eine Bemerkung«, sagte ich nun und brachte damit etwas zur Sprache, das mir schon seit unserer Ankunft hier auf der Zunge brannte. »Wir haben dieses Mal darauf verzichtet, irgendeine Maske anzulegen. Wir sind hier keck als Harst und Schraut aufgetreten, ganz wie du dies schon letztens vorhattest, indem du hofftest, dadurch Warbatty leichter zu einem Gewaltstreich gegen uns zu verführen und ihn dabei endgültig erledigen zu können. Ich muss dir nun offen erklären, dass ich diese neue Art des Kampfes wider unseren schlauen Gegner sehr …«

»… klug finde«, vollendete er lächelnd. »Nicht wahr, das wolltest du doch sagen? Du hast ganz recht, lieber Alter. Diese neue Kampfesweise hat nämlich bereits die besten Früchte getragen …«

Ich horchte auf. »Du erklärtest doch soeben, dass uns nur ein Zufall helfen könnte«, meinte ich unsicher.

»Ganz recht. Aber ich hatte nicht daran gedacht, dass Warbatty den Bahnhof hier hat überwachen lassen können und dass einer seiner Helfershelfer uns leicht auf den Fersen bleiben konnte! Als ich von dem Zufall sprach, wusste ich auch noch nicht, dass der geriebene Cecil schon seine Fühler nach uns ausgestreckt hat. Erst vor Sekunden stellte ich dies fest, gerade da, als ich dir ins Wort fiel.«

Ich beugte mich weit vor. Die Abenddämmerung nahm schnell zu. Ich wollte Harsts Gesicht ganz genau sehen.

»Was hast du festgestellt?«, fragte ich atemlos.

»Oh – ich kann mich auch geirrt haben. Dringe jetzt nicht weiter in mich. Schau dir lieber dort am Ufer die badenden Elefanten an. Prächtige Tiere sind es …«

Erst jetzt bemerkte ich vier dieser Kolosse, die ganz in unserer Nähe von einer auf den Fluss mündenden Gasse aus ihr Abendbad nahmen. Einer davon war von sehr heller Hautfarbe.

»Heilige Elefanten«, sagte Harst. »Drei der Mahuts (Lenker), die zwischen ihren Ohren hocken, sind Priester, Brahmanen. Also handelt es sich um Tiere, die Eigentum irgendeines Tempels sind …« Er rief einen der Inder vom Vorderdeck herbei, den Ältesten der Pilger. Er hieß Rawaiku und sprach das Englische leidlich.

»Du könntest mir einen Gefallen tun«, meinte Harst. »Nimm das kleine Beiboot des Kutters und rudere ein Stück flussaufwärts, erkundige dich dann auf einem der verankerten Fahrzeuge, zu welchem Tempel die vier Elefanten dort gehören. Tu es aber unauffällig, Rawaiku, und sage niemandem, dass ich dich beauftragt habe. Verzweige auch den deinen, dass du diese fünf Rupien (die Rupie 1,10 Mark) leicht verdienen wirst.« Er steckte ihm die kleine Banknote unauffällig zu.

Der alte Hindu dienerte überglücklich, lächelte schlau und flüsterte: »Sahib, du wirst mit Rawaiku zufrieden sein. Ich war bis vor zwei Jahren in Salatola Hilfspolizist und beziehe eine kleine Pension.« Man merkte, er war sehr stolz auf seine frühere Tätigkeit.

Er verschwand dann. Dass er wirklich als Gehilfe brauchbar war, bewies er dadurch, dass er nicht sofort das winzige Beiboot loskettete, sondern sich erst noch zu den seinen setzte und zehn Minuten verstreichen ließ, bevor er davonruderte, und zwar zusammen mit seiner Tochter, einem dreizehnjährigen, voll erblühten Mädchen von angenehmen Zügen.

Er blieb eine Stunde weg. Es war bereits dunkel, als er wieder am Kutter anlegte und dann in die vordere Kajüte kam, wo wir bei einem Glase Tee beim Schein der großen Petroleumdeckenlampe die neuesten Zeitungen lasen, die der aufmerksame Alam Bandur uns durch einen Diener zugeschickt hatte. In Allahabad selbst erscheinen zwei englische Tageszeitungen. Bandur hatte uns jedoch noch die Morgenblätter aus Benares beigefügt.

»Sahib«, meldete der alte Hindu, »drei der Elefanten gehören dem kleinen Dschihan-Tempel im Norden der Stadt. Einer von ihnen, der weiße, ist Eigentum des Brahmanen Singar Chani. Er steht aber in demselben Tempelanbau mit den übrigen. Man nennt ihn auch den Wunderelefanten von Allahabad. Ich bin jetzt zum sechsten Mal hier, Sahib, und jedes Mal besuchte ich auch den Wunderelefanten. Er ist so klug wie alle übrigen Elefanten Indiens zusammengenommen. Er versteht jedes Wort seines Herrn. Er schreibt auf eine Tafel den Namen vieler Götter und den seines Herren in englischen Buchstaben. Wenn du ihn etwas fragst, was dir wichtig erscheint, antwortet er durch Kopfbewegungen, rät dir so, ob du dies oder jenes tun oder unterlassen sollst. Sein Herr verdient viel Geld mit ihm. Singar Chani ist uralt. Er weiß selbst nicht, wie alt. Er kann nicht mehr gehen und lässt sich morgens vor den Tempelanbau tragen, wo er den Tag über sitzen bleibt und unter dem Vordach die Pilger empfängt. Der weiße Elefant steht dann hinter ihm und wartet auf die Fragen der Bekenner Brahmas.«

»Ich danke dir, Rawaiku. Hier hast du noch fünf Rupien. Erkundige dich heimlich noch heute Abend, wer der Mahut war, der heute den weißen Elefanten zum Baden führte. Berichte mir morgen früh, was du hierüber in Erfahrung gebracht hast.«