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Der Welt-Detektiv Band 6

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Schinderhannes – Vorrede und Einleitung

Leben und Taten des berüchtigten Johann Bückler, genannt Schinderhannes
Für Jung und Alt zur Lehre und Warnung aufs Neue geschrieben von W. Fr. Wüst, Reutlingen 1870
Druck und Verlag von Fleischhauer & Spohn

Vorrede

Der Verfasser ist nicht gewohnt, eine lange Einleitung zu geben, sondern pflegt möglichst bald zur Sache selbst überzugehen. Diesmal glaubte er eine Ausnahme machen zu sollen und bittet den geneigten Leser, die Einleitung nicht unbeachtet zu lassen, da sie zum Verständnis des Ganzen gehört.

Tübingen, im August 1852
Der Verfasser

Des Lasters Bahn ist anfangs zwar
ein breiter Weg durch Auen;
allein sein Fortgang wird Gefahr,
sein Ende Nacht und Grauen.

Christian Fürchtegott Gellert

Einleitung

Wir wundern uns, wenn wir lesen oder erzählen hören, dass Erzdiebe, Erzgauner und Mörder in früheren Zeiten oft eine lange Reihe von Jahren hindurch ihr Unwesen treiben konnten. Und in der Tat, wir wundern uns mit Recht, wenn wir diese Sache von unseren jetzigen bürgerlichen Verhältnissen und dem gegenwärtigen staatlichen Standpunkt aus betrachten. Wie könnte jetzt ein Mensch wie Hannikel, der Konstanzer Hans oder der Sonnenwirtle so lange stehlen, rauben und morden, ohne eingefangen zu werden und den Lohn seiner Untaten zu empfangen? Wie wäre es heutzutage unserem Schinderhannes, dessen Leben und Taten in diesen Blättern näher beschrieben werden sollen, wohl möglich, mehrere Jahre lang die menschliche Gesellschaft zu foppen und in Schrecken zu versetzen?

Zur Sicherheit auf den Landstraßen und weniger besuchten Wegen ist in den deutschen und in vielen anderen Staaten die gehörige Zahl von Schutzmännern aufgestellt, welche gar bald einem Vagabunden, Dieb oder einer Gesindelbande auf die Spur kommen und sie dem Arm der Gerechtigkeit überliefern. Freilich gibt es auch heute noch schlechte Leute genug, die nicht arbeiten mögen, sondern sich auf Kosten ihrer begüterten Mitbürger gute Tage machen und überall, wohin sie kommen, mit sich spazieren lassen, was nicht niet- und nagelfest ist, ja nötigenfalls auch Gewalt gebrauchen, um anderen das ihre zu rauben. Aber, wie gesagt, solchen Jndustrierittern wird das Gewerbe in kurzer Zeit niedergelegt, indem die Anstalten zur Sicherheit nun größtenteils ganz vortrefflich sind.

Der geneigte Leser wird vielleicht einwenden: In jenen Zeiten, wo die oben genannten Gauner lebten und hausten, gab es ja aber doch gewiss auch Polizeipersonen, denen die Handhabung der Ordnung oblag und die für die Sicherheit und das Eigentum der Bürger zu sorgen hatten. Ich antworte hierauf: Ja wohl waren auch damals Polizeimänner zu diesem Zweck aufgestellt. Man nannte sie Hatschiere. Aber du mein Gott! Was für Leute waren das? Die waren oft nicht viel besser als das Gesindel, dem sie zu Leibe gehen sollten. Was Wunder also, wenn Diebe und Hatschiere häufig gemeinschaftliche Sache miteinander machten und so das Geschäft umso mehr ins Große getrieben wurde! Versprach der Dieb dem Ordnungsmann einen schönen Anteil an der Beute, so machte dieser ein Auge oder auch beide zu und entfernte sich vom Ort des Raubes nur so weit, dass er sich alsbald wieder zur Stelle fand, wenn das Geschäft vollbracht war und er das Versprochene in Empfang nehmen konnte.

Da waren aber doch die Ortsvorsteher da, höre ich sagen, welche über die Tätigkeit und Berufstreue ihrer Untergebenen zu wachen die Pflicht hatten. Die waren freilich da, erwidere ich, aber nicht selten steckten sie wie die Hatschiere unter einer Decke mit jenen Gaunern, um selbst auch Gewinn zu ziehen von dem schändlichen und sündhaften Gewerbe, das dieser Abschaum der Menschheit trieb. Ist es doch nach den neuesten Nachrichten, die wir in den Tagesblättern lesen, in mehreren Gegenden Italiens heute noch so, dass Beamte mit den Gaunern und Straßenräubern öfters gemeinschaftliche Sache machen.

Oder wenn die Schulzen oder Vögte, welchen Titel sie führen mochten, auch ehrliche Männer waren und sonst ihren Beruf treu und gewissenhaft erfüllten, so hatten sie doch das mit allen anderen gemein, dass sie sich vor jenen Spitzbuben entsetzlich fürchteten, denn diese standen entweder in dem Ruf, dass sie unverwundbar und kugelfest seien, während die Verfolger in beständiger Lebensgefahr sich befinden, dass es also vergebliche Mühe sei, gegen sie zu Felde zu ziehen oder fürchtete ein Ortsvorsteher die spätere Rache des Verfolgten, wenn dieser den Nachstellungen entging. Diese Furcht der Leute benutzten die Schelme und wurden von Tag zu Tag beherzter und frecher. Schickte man gegen das Gesindel auch eine bedeutende Streifmannschaft aus, die ihm an Zahl vier-, fünf- und sechsmal überlegen war, flüchteten sie eilig nach allen Seiten hin, sobald einer aus der Bande einen stürmischen Angriff gegen eine ganze Truppe versuchte oder gar seine Flinte anlegte. Hohngelächter schallte den Streifern dann nach, die nun hurtig Fersengeld gaben und sich Glück wünschten, mit heiler Haut davon gekommen zu sein. Die Gauner aber trauten dem guten Wetter denn doch nicht mehr und zogen sich in das Gebiet eines anderen Herrn, wo sie nun ganz sicherwaren. Und hierin liegt ein weiterer Grund, warum man ihrer nicht so leicht habhaft werden konnte.

Man denke sich, wie viele Herren Deutschland in jener Zeit hatte! Innerhalb der jetzigen Grenzen Württembergs zum Beispiel gab es deren eine gar große Zahl. Diese Herren alle hatten ihre eigene Gerichtsbarkeit, also Macht über Leben und Tod ihrer Untertanen. Hatte nun so ein Spitzbube einen Diebstahl, Raub oder Mord im Gebiet irgendeines dieser Herren begangen, so zog er sich flugs in den Bezirk eines anderen, sobald er merkte, dass man seine Tat wisse und ihn als den Täter im Verdacht habe. Die durch die Tat Beteiligten hatten das Nachsehen, denn in ein fremdes Gebiet durften die Verfolger nicht eindringen. So konnte der Gauner auf dem neu eroberten Territorium da fortfahren, wo er in dem verlassenen aufgehört hatte.

Das ist nun in unserer Zeit ganz anders geworden; das weiß der geneigte Leser selbst. Einmal sind es jener Herren weniger geworden, das haben wir Napoleon zu danken, dem wir Deutschen sonst nicht gerade hold zu sein Ursache haben, weil er gegen unser Vaterland selbst so eine Art von Räuberhauptmann war. Zweitens haben die Regierungen miteinander ausgemacht, dass sie sich gegenseitig solche gefährliche Menschen ausliefern wollen, sodass also einer, der zum Beispiel in Württemberg etwas verbrochen hat, in Baden oder Hessen usw. noch nicht sicher ist, sondern immer noch verhaftet werden kann, wenn er auch schon jeder Gefahr entgangen zu sein glaubt.

Hinzu kommt in neuester Zeit noch die Telegrafeneinrichtung, durch welche ein Verbrecher gerade an dem Ort, wo er in vollkommener Sicherheit zu sein wähnt, festgenommen wird. Denn durch den Telegrafen wird in wenigen Minuten nach verschiedenen Seiten hin berichtet, wenn einer von der und der Gestalt, Größe, Kleidung usw. ankomme, den solle man verhaften, weil er ein Verbrecher sei. Freilich entschlüpft auch da noch mancher, weil er vielleicht einen anderen als den vermuteten Weg eingeschlagen hat oder weil ihm das Glück besonders günstig ist. Ein solcher kommt allerdings vor der Hand ungestraft durch, denn die Nürnberger hängen keinen, den sie nicht haben. Aber das Schicksal ereilt seiner Zeit doch einen jeden, ehe er es vermutet, dass aber überhaupt in jenen Zeiten mehrere größere Diebes- und Räuberbanden zum Teil in sehr bedeutender Zahl entstehen und bestehen konnten. Daran haben gewiss auch nicht geringen Anteil erstens die beinahe fortwährenden Kriege, durch welche Rohheit und Geringschätzung fremden Eigentums genährt und gepflegt wurden. Wurde der Krieg auf kurze Zeit unterbrochen, so behagte den hergelaufenen Burschen das Garnisonsleben nicht, das ihnen keine Gelegenheit zu ihrer gewohnten Tätigkeit bot. Sie rissen aus und führten ein freies Leben, ein Leben voller Wonne, heut kehrten sie bei Pfaffen ein, bei reichen Pächtern morgen. Diese neue Tätigkeit schaffte ihnen lustige Tage und weiter wollten sie nicht.

Liefern uns hierfür nicht auch die neuesten Nachrichten aus Ungarn die entsprechenden Beweise? Dort hausen auch wohlbewaffnete Räuberhorden, Gesindel, das nach dem österreichisch-ungarischen Krieg sich zusammengesellte, um auf Kosten der Reisenden, welche gespickte Börsen haben, sich ein fröhliches Leben zu bereiten. Freilich steht das Volk in diesem Land in der Bildung noch auf einer niedrigen Stufe. Dieser Mangel an Volksbildung möchte der weitere Grund sein, warum in jener Gaunerperiode sich sogar viele diesem verwerflichen Leben hingegeben haben. Denn wenn nicht schon bei der Jugend die sanften und zarten Regungen und Gefühle erzeugt und genährt werden, so bleiben dieselben auch dem späteren Alter verschlossen.

Also auch in dieser Hinsicht sieht unsere Zeit der oben genannten weit voran. Schon im zarten Alter wird auf die Bildung des kindlichen Geistes und Veredlung des Herzens hingearbeitet und das Kind für die Eindrücke der Religion empfänglich gemacht. Freilich gedeiht auch jetzt nicht alles, wie es könnte und sollte, denn auch der gute Same trägt auf ungeeignetem Boden nicht die gewünschten Früchte.

Auch Schinderhannes ist wegen Mangels an tüchtiger Erziehung und gutem Unterricht auf Abwege und endlich auf die Bahn des Lasters und der Verbrechen geraten.

Dass die Eltern des Schinderhannes nichts taugten und namentlich auf Kindererziehung keine Sorgfalt verwendeten, geht auch aus einer Nachricht vom Mai 1851 hervor. Die 64-jährige Schwester des schon vor 49 Jahren hingerichteten Räubers stand nämlich in genannter Zeit in einem Kriminalprozess vor Gericht und wurde abermals zur Arbeitshausstrafe verdammt, nachdem sie schon früher eine 20-jährige Zuchthausstrafe erstanden hatte. Sie hat im Ganzen über anderthalb hundert Diebstähle begangen.

Viele haben behauptet, Schinderhannes sei ein fein unterrichteter großer Mann gewesen, der treffliche, weitaussehende Pläne gemacht habe. Andere aber schilderten ihn als einen ganz gemeinen Räuber ohne alle großen Anlagen. Dass beide Urteile unrichtig sind, werden die folgenden Blätter beweisen. Sein kühner Mut und seine Geistesgegenwart in Gefahren sowie sein richtiges, gesundes Urteil erregen immerhin unsere Bewunderung, die vielen Züge von Herzensgüte aber stimmen uns zum Mitleid mit einem Mann, aus welchem bei guter Erziehung und tüchtigem Unterricht vielleicht etwas Großes, jedenfalls aber ein nützliches Glied der bürgerlichen Gesellschaft hätte werden können.

Obwohl wir nun nicht gemeint sind, seine Verbrechen in Schutz zu nehmen und zu verteidigen oder gar Straflosigkeit für ihn anzusprechen, so müssen wir ihn doch bedauern und fühlen uns zu dem Ausruf aufgefordert: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn.

Mancher unter uns wäre vielleicht auf dieselbe Bahn des Lasters geraten, hätten ihn nicht Erziehung und Unterricht sowie günstige Umstände auf dem schmalen Weg der Tugend gehalten.